13.8., FM Okazaki Furo Bar Live

Nachdem um 6:30, Ihr wisst schon, stehe ich um 9:30 auf. Ist ja schließlich Obon. Ich habe etwas besser geschlafen als letzte Nacht, aber die Schulter nervt immer noch ganz gewaltig. Klaus schreibt in einer E-Mail, dass man bei sowas normalerweise einen Schlüsselbeinbruch davonträgt, und ich sinniere, woran ich wohl merke, ob ich einen habe.

Blaue Flecken sehe ich im Bereich der Schulter keine. Und bewegen kann ich den Arm in alle Richtungen. Lediglich eine bestimmte Richtung ist sehr schmerzhaft, nach vorne rechts kann ich den Arm überhaupt nicht heben. Aber wenn ich den rechten Arm mit dem linken hochhebe, geht das so gut wie schmerzfrei. Darauf gründe ich die Hoffnung, dass es nur der Arm-nach-oben-rechts-heben-Muskel ist.

Vielleicht sollte ich heute nochmal das Kapitel mit den ganzen Körperteilen und Krankheiten durcharbeiten und dann in die Apotheke gehen und mich nach einer Salbe gegen Prellungen erkundigen.

Als ich nach dem Duschen nachdenklich auf die Uhr schaue und überlege, was der Tag wohl bringt, macht es plötzlich Klick, und wieder ist ein Groschen gefallen. Im Unterbewusstsein hatte ich schon lange registriert, dass mein Telefon neben Datum und Uhrzeit ein einzelnes Kanji anzeigt Foto dazu. Nach etwa einer Woche hat mir gedämmert, dass es nicht immer das gleiche ist. Und heute endlich, wo ich mir erfolgreich die ersten 20 Kanji in meinem Lehrbuch gemerkt habe, sehe ich nicht nur irgendein Schriftzeichen, sondern das für Freitag. (Beziehungsweise das für Geld/Metall; die vollständigen Bezeichnungen der Wochentage bestehen aus drei Zeichen, von denen die hinteren beiden konstant sind und das vordere eines ist, das einzeln etwas ganz anderes bedeuten würde. Montag Mond, Dienstag Feuer, Mittwoch Wasser, Donnerstag Baum, Freitag Metall, Samstag Erde und Sonntag Sonne.) Kein Wunder ists jeden Tag ein anderes Schriftzeichen, und kein Wunder wiederholen sie sich nach einer Woche!

Man muss sich auch über die kleinen Erfolgserlebnisse freuen. Jetzt kann ich in Japan also nicht nur rausfinden, ob der Kaffee mit oder ohne Milch ist, sondern auch die Kanji für die Wochentage lesen. Von meiner Fähigkeit, Katakana zu lesen, hätte ich allerdings besser gestern Gebrauch gemacht, denn ich stinke ganz fies nach Zitrone. Habe mir gestern ein neues Duschgel gekauft und mich für eine Flasche entschieden, auf der in normalen Buchstaben "Body Soap" draufstand. Alle anderen sahen mir zu gefährlich aus; man will ja nicht versehentlich mit WC-Reiniger duschen. Tja, und das Kleingedruckte in Katakana heißt shitorasuremon - mit etwas Fantasie (oder dem Katakana-Wörterbuch in meinem neuen Gadget) als citrus lemon zu identifizieren. Vielleicht sollte ich wirklich mehr Sesamstraße gucken; was den Spracherwerb betrifft, komme mir manchmal vor wie ein Vierjähriger.

Nachdem mich mein Vater die Tage gefragt hat, ob es in Japan eigentlich kein Brot gibt, komme ich auf die Idee, heute doch mal näherungsweise so zu frühstücken, wie ich es zu Hause tun würde. Zumal es schon bald 11 und somit vermutlich zu spät ist, um bei Denny's noch ein japanisches Frühstück zu kriegen. So ein richtiges deutsches Brötchen, das wär jetzt was. Sowas habe ich hier aber noch nicht gesehen. Also gibts schwabbelige, dicke Weißbrotscheiben. Dazu gekochten und rohen Schinken - ich muss schmunzeln, als ich die Aufschrift in Katakana als das japanische Äquivalent zu "European style" entziffere. An der Kasse denke ich mir so, dass es sich nicht wirklich lohnt, zu Hause zu frühstücken. Für ein bisschen rohen und gekochten Schinken, sechs Scheiben Weißbrot, eine Flasche Wasser, einen halben Liter Orangensaft und eine Dose kalten Milchkaffee zahle ich 1000 Yen, ungefähr 7,50 Euro. Da kann ich doch gleich zu Denny's gehen, wo das Luxusfrühstück mit Misosuppe, Reis, gegrilltem Lachs, Gemüse und sogar Natto nur 810 Yen kostet. Und Kaffee soviel man will ist auch dabei, auf Wunsch sogar heißer.

Während des Frühstücks schaue ich den Go-Kanal, wo gerade anscheinend Kinderbespaßung ist und unglaublich lächerlich angezogene Japaner einen Riesenfetz um ein paar wenige Steine auf einem 9 × 9-Brett machen. Ich halte mich etliche Stunden lang im Aufenthaltsraum auf, wo ich abgesehen von der Putzkolonne mutterseelenallein bin und abwechselnd Klavier spiele und japanische Verben büffle. Wurde nicht gestern erst die Klimaanlage geputzt? Ein Japaner schrubbt jedenfalls geschlagene zwei Stunden lang mit allerlei verschiedenen Bürstchen und Läppchen und diverser Chemie liebevoll jeden Quadratmillimeter und jedes Schlitzchen der beiden Klimaanlagen. Die anderen tun Nützlicheres und putzen die Küche; später putzen sie alle irgendwo anders, ich nehme an, die Duschen und Toiletten. Aber zwei Stunden für die Klimaanlage, wow!

In ihrer Mittagspause verwickeln sie mich in ein Gespräch, das mir wieder einmal zeigt, wie erschreckend wenig Japanisch ich kann. Immerhin kann ich die Fragen danach, wo ich herkomme, wie lange ich schon hier bin, wie lange ich noch bleibe und warum ich Japanisch lerne verstehen und beantworten. Einer lobt mein Klavierspiel und ich kann schön höflich bescheiden antworten. Die Frage, ob ich auch was anderes als Klassik spielen kann, verstehe ich erst im dritten Anlauf; immerhin hat der Japaner erkannt, was ich gespielt habe und was von Satie und Träumerei(!) gesagt ;-). Eigentlich sollte ich versuchen, mich mehr mit Japanern zu unterhalten, denn ich fürchte, anders lernt man die Sprache nicht.

Nach vier Stunden Lernen, Klavierspielen und zwischendurch auch mal kurz einem Viertelstündchen Go-Kanal im Fernsehen beschließe ich, jetzt mal was für meine immer noch schmerzende Schulter zu tun. Zu diesem Zwecke arbeite ich das Kapitel über Krankheiten und Körperteile nochmal schnell durch, merke mir die Wörter für Schulter, Verstauchung und Verkehrsunfall und radle zur Apotheke.

Dort bringe ich mein Anliegen vor, verstehe sogar noch die Gegenfrage, ob das beim Sport passiert sei und kann erklären, dass es mehr ein Verkehrsunfall war. Aber dann, was dann? Sie zeigt mir ein Spray und irgendwelche Pflaster und sagt ganz viel auf Japanisch. Endlich ein Lichtblick: Bei peinkiraa (painkiller) horche ich auf und nicke begeistert. Sie sagt (glaube ich), dass dafür die Pflaster am besten seien und das Spray weniger gut. Die Frage, ob 6 oder 12 Stück verstehe ich wieder; nachdem sie mir erklärt hat, dass ich täglich nur eines verwenden soll, müssten 6 ja wohl reichen.

Die Apotheke ist direkt neben der Schule, weswegen ich einen kleinen Abstecher in die Aoi Hall mache. Dort soll nämlich heute Abend irgendwie Livemusik sein. In der Tat ist da eine Soundanlage aufgebaut, diverse Musikinstrumente stehen herum und jemand spielt Gitarre und singt dazu. Ich treffe Declan und Mike, die Flaschen mit Hochprozentigem aus der Bar in die kleine Küche in der Aoi Hall schaffen, und erfahre, dass es um 18 Uhr losgeht. Da will ich so lange mal nach Hause fahren und meinen peinkiraa applizieren.

Entgegen meinen Erwartungen wird es unter dem Pflaster nicht heiß, sondern kühl. Mal schauen, was sich langfristig für eine Wirkung einstellt. Auf dem Rückweg habe ich mir im Mini-Stop noch eine Flasche kalten grünen Tee gekauft und bin aus einer Laune heraus mal am Chips-Regal vorbeigegangen. Zwischen allerlei normalen Chips stand da eine Tüte mit lustigen grünen Männchen und der Aufschrift biin Foto dazu. Bohnenchips? Die probier ich jetzt mal als Nachmittags-Snack. Schmecken gar nicht schlecht; wie beschreibt man nur den Geschmack von aufgeschäumtem, salzigen Bohnenmus Foto dazu?

Ich gammle noch ein bisschen im Aufenthaltsraum herum, mache ein Foto von der weltsaubersten Klimaanlage Foto dazu und gehe gegen 19 Uhr los in Richtung Aoi Hall. Dort tanzt der Bär - nein, in Wirklichkeit spielt eine Gruppe mit zwei Gitarren und Sängerin ruhige Musik; ich würde es als japanischen Folk bezeichnen Foto dazu. Mike und Declan betreiben augenscheinlich eine Außenstelle der Zig Zag Bar Foto dazu, wo es immerhin Guinness vom Fass gibt Foto dazu. Offensichtlich ist die Veranstaltung vorrangig für japanische Gäste gedacht, denn das Menü ist nur auf Japanisch Foto dazu. Da alles außer Guinness nur Hochprozentiges, Flaschenbiere oder gar Dosen sind, entscheide ich mich heute auch mal für ein Guinness.

Die Veranstaltung wirkt erst einmal ziemlich langweilig. Eine Handvoll Japaner sitzen an Tischen und hören andächtig der Musik zu; unterhalten tut sich dabei keiner Foto dazu. Wie sich im Laufe des Abends herausstellt, handelt es sich bei den Japanern so gut wie nur um Musiker; ungefähr im Dreiviertelstundentakt wechseln sie sich ab. Außer den Musikern sind anscheinend nur ein paar Mitarbeiter des hier im selben Gebäude untergebrachten Radiosenders anwesend und vielleicht zwei, drei andere Japaner.

Schon eine komische Stimmung irgendwie. Vor jedem einzelnen Song erzählt der Künstler oder die Künstlerin minutenlang, was es damit auf sich hat; ich verstehe zum Großteil nur Bahnhof. Könnte man nicht einfach nur Musik machen? Am Ende heißt es dann immer kiite kudasai - hören Sie bitte, und am Ende des Songs bedankt sich der Sänger mit arigatoo gozaimashita, und erst dann fangen die Japaner an zu klatschen.

Im Laufe des Abends kommen aber immer mehr Yamasa-Studenten dazu, und auch die Japaner tauen ein wenig auf, klatschen mit, applaudieren etwas herzlicher und unterhalten sich auch ab und zu mal ein bisschen. Als gegen 23 Uhr die letzte Darbietung zuende ist, meint Declan, ich solle doch mal ein bisschen Klavier spielen. Ich bin aber zu schüchtern; soo dolle spiel ich nun auch nicht, dass ich hier nun in aller Öffentlichkeit - womöglich würde das sogar noch aufgezeichnet oder gar im Radio gesendet. Nein, nein. Außerdem ist mein Repertoire doch arg begrenzt. Ich verabschiede mich zeitig, fahre extrem vorsichtig - aber die letzten 100 Meter wieder auf der rechten Straßenseite, das wär doch gelacht - nach Hause und gehe vor Mitternacht ins Bett.

 

(Gästebuch außer Betrieb)     Inhaltsverzeichnis     weiter >


©2004 by Harald Bögeholz