6.8., Sommerfest in Okazaki (natsu matsuri)

Nach 12 Stunden Schlaf hüpfe ich um 6:30 Uhr energiegeladen aus meinem Bett, dusche und radle zu Denny's. Heute soll es mal wieder das große Frühstück mit gegrilltem Lachs sein - da ich gestern das Abendessen ausgelassen habe, knurrt mir der Magen ganz mächtig. Mein Blick schweift zum Nachbartisch, und ich sehe mit gelindem Erstaunen zwei Japanerinnen auf ihren Bänken schlafen. Auch das hatte ich in irgendeinem meiner schlauen Japan-Bücher schon gelesen, dass die Japaner nicht nur in jeder Lebenslage schlafen können, sondern es auch ungehemmt tun. Nun sehe ich es also einmal live und traue mich kaum, ein Foto zu machen. Ob sich das wohl gehört? Verstohlen stelle ich die Kamera auf Vollautomatik und drücke ab Foto dazu. So bemerke ich leider nicht, dass die Kamera leider den Stuhl scharfgestellt hat und nicht das Motiv. Na ja, egal. Zu Dokumentationszwecken taugt das Bild trotzdem. Sie schlafen übrigens über eine Stunde lang, wachen erst auf, kurz bevor ich zur Schule gehe.

Heute fühle ich mich mutig. Als mich die Bedienung fragt, ob ich mein Frühstück wirklich mit natto oder nicht doch lieber mit einem (halbgaren) Ei möchte, sage ich ihr, dass ich heute mal natto gut finde. Wär doch gelacht, wenn ich kein natto essen könnte.

Als das Frühstück kommt, schaue ich mir die Schüssel mit dem natto natürlich erst einmal genau an. Der gelbe Klecks erweist sich als sehr scharfer Senf, die Dekoration als Fühlingszwiebeln. Riechen tut das ganze irgendwie säuerlich, aber nicht sonderlich abstoßend. Also los. natto sind wie gesagt irgendwie halbverfaulte - vielleicht sollte ich vornehmer sagen, fermentierte - Sojabohnen. Sie ziehen Fäden, wenn man sie mit den Stäbchen anhebt Foto dazu. So weit, so gut. Der Geschmack ist ... hmm, wie soll ich das beschreiben? Etwas, streng, säuerlich und nicht so, dass ich ihn jeden Morgen zum Frühstück haben müsste. Aber ich esse im Verlaufe des Frühstücks immer wieder davon, um herauszufinden, was daran wohl so toll ist. So richtig erschließt es sich mir aber nicht.

Als die Bedienung abräumt, nimmt sie offensichtlich zur Kenntnis, dass ich alles aufgegessen habe, nur vom natto die Hälfte liegengelassen. Sie tuschelt mit dem Koch, und ich sehe deutlich, wie sie den Koch bittet, doch mal kurz aus seiner Küche herauszukommen und durch eine Glasscheibe verstohlen den Europäer zu besichtigen, der soeben versucht hat, natto zu essen. Es stimmt also, was in meinen Büchern steht. Europäer finden natto ekelig. Europäer können natto unmöglich mögen. Es ist lustig, zuzuschauen, wenn Europäer natto essen. Mindestens schaut man sich hinterher an, ob sie davon grün werden. So denken die Japaner anscheinend.

Die Bedienung kommt zurück und sagt irgendetwas zum Thema natto zu mir. Leider funktioniert mein Japanisch immer noch nicht wirklich gut, und ich stammele, dass ich den Geschmack zwar interessant, aber nicht wirklich lecker finde. Sie erklärt mir (glaube ich), dass ich das natto hätte mit Sojasoße mischen und kräftig umrühren müssen, dann wäre es so richtig lecker. Ob ich noch eine Schüssel wolle? Ich lehne dankend ab (das kann ich schon in höflichem Japanisch), beschließe aber, es wirklich noch einmal zu probieren. Nächstes Mal, wenn es wieder dieselbe Bedienung ist wie heute, werde ich mir von ihr ausführlich erklären lassen, wie man natto isst und genießt.

Mittlerweile bin ich ja so eine Art Stammgast bei Denny's. Ich bin einfach ein Gewohnheitstier und brauche meinen Fixpunkt. Denny's liegt genau zwischen Wohnheim und Schule, das Frühstück schmeckt mir und ist mit 609 Yen (für das kleine, das mit Lachs kostet 820) auch nicht übermäßig teuer. Also wird das wohl eine Konstante bleiben. Diese eine Kellnerin jedenfalls ist mir schon mehrfach begegnet, und sie überschreitet (glaube ich) bisweilen die normalen Grenzen der Kellnerinnen-Höflichkeit und versucht, mit mir etwas mehr zu sprechen, als es normalerweise nötig wäre. Das ist zwar nett, führt mir aber Tag für Tag wieder vor Augen, wie wenig Japanisch ich doch kann. Obwohl, wenn ich so recht drüber nachdenke - inzwischen verstehe ich die Frage nach Raucher oder Nichtraucher. Ähem, na ja, ich verstehe sie nicht vollständig. Aber ich kenne das Wort für Rauchverbot (kinen), und das kommt darin vor, sodass ich die Frage zuverlässig identifizieren kann. Und inzwischen souverän antworten kann, dass ich gerne bei den Nichtrauchern sitzen möchte.

In der Schule ist das matsuri in aller Munde, ein großes traditionelles Sommerfest, bei dem in einer großen Prozession Schreine durch die Stadt getragen werden. Yamasa beteiligt sich auch seit einigen Jahren daran, und wer sich vorher anmeldet, wird mit einem Bus dort hingekarrt und darf mitmarschieren. Ich beschließe, mich mittags zu erkundigen, ob ich noch mitkann. Schließlich findet das nur einmal im Jahr statt, sodass die Gelegenheit so schnell nicht wiederkommen dürfte.

Der Unterricht bestätigt heute wieder einmal die Immer-Abwechselnd-Theorie. Ich kann ihm gut folgen, was zum einen daran liegt, dass wir nur das in dieser Woche Gelernte wiederholen, aber hauptsächlich daran, dass wir heute mit ca. 15 Leuten in einer Klasse sitzen Foto dazu Foto dazu. In der Parallelklasse ist nämlich ein Lehrer krank geworden, und so unterrichtet Yokozawa sensei heute beide Klassen zusammen. Es ist schon ein Riesenunterschied, ob man zu siebt oder zu fünfzehnt ist - man kommt in der großen Gruppe einfach viel seltener dran, und es ist insgesamt weit weniger lustig als in unserer kleinen Klasse, wo wir uns inzwischen gut kennen. Na ja, ab nächste Woche geht es ja dann hoffentlich wieder in der gewohnten Gruppe weiter. Wir hatten etwas Angst, auseinandergerissen zu werden oder allzu viele neue Leute dazuzubekommen (in Yamasa kommen und gehen die Leute ja im 14-Tage-Takt, und die Klassen werden daher alle 14 Tage neu zusammengestellt). Aber es stößt lediglich eine neue Schülerin zu uns. Ich hatte noch keine Gelegenheit, sie zu fragen, wo sie herkommt, aber als sie die Sprache ihres Lehrbuchs aussuchen sollte, meinte sie, Englisch und Koreanisch seien beide gut, hat sich dann letztlich aber für das englische Buch entschieden.

Zum Abschluss erzählt Yokozawa sensei noch irgendwas über das matsuri, ich verstehe aber leider wieder nur die Hälfte :-(. Jedenfalls schnappe ich auf, dass Interessierte um 13 Uhr lernen können, wie man traditionelle japanische Kleidung anlegt, und beschließe, mir das zumindest zu Fotozwecken mal anzuschauen. Unten im Aufenthaltsraum steht schon unser "Schrein" bereit Foto dazu. Sieht ja etwas mickrig aus irgendwie, ob das wirklich alles ist?

Erstmal gibts jetzt eines von Mikes leckeren Sandwiches, und ich mache mich auf ins Studentenbüro, um mich noch für das matsuri anzumelden. Ich habe Glück, auf der Liste sind gerade noch drei Plätze frei. Die Frage, ob ich den happi - das ist so eine Art Jacke, die man da trägt - kaufen will, bejahe ich spontan, obwohl 4000 Yen nicht gerade billig sind. Ich hätte das Ding auch nur leihen können, aber so habe ich ein nettes Souvenir.

Wenn ich schon gerade beim Geldausgeben und im richtigen Gebäude bin, kann ich mir auch gleich noch das Kanji-Lehrbuch kaufen. Ich habe nämlich beschlossen, dass das ganze Sprechen und Verstehen ja auf die Dauer nichts hilft, wenn man nicht wirklich lesen und schreiben kann. Daher habe ich vorgestern meine Lehrerin gefragt, wie ich es anstellen soll, Kanji zu lernen, und sie hat mir das "Basic Kanji Book" empfohlen und erklärt, wo ich es bei Yamasa kaufen kann. Ich habe zwar von meiner Schwester schon ein Kanji-Buch, das seit Weihnachten letzten Jahres auf meinem Schreibtisch in Hannover liegt, aber da liegt es leider auch jetzt. Und außerdem ist es vermutlich eh besser, die an dieser Schule üblichen Lehrbücher zu benutzen. Anders als das Assimil-Buch, wo einfach nur stumpf ein Kanji nach dem anderen behandelt wird, hat dieses jedenfalls eine Menge Übungsaufgaben, und ich gehe davon aus, dass meine Lehrer sie mir korrigieren werden, wenn ich sie abgebe. Jetzt muss ich mich nur noch aufraffen, tatsächlich Energie ins Kanji-Lernen zu investieren. Ich glaube, es ist wichtig, bei diesem Berg auf keinen Fall nach oben zu schauen, denn er ist sehr hoch. Also schaue ich nach unten: Juhuu, die ersten 10 Kanji des ersten Kapitels kenne ich alle schon!

Die 13-Uhr-Veranstaltung zum Thema Kleidung ist erwartungsgemäß überwiegend von Mädels besucht, aber für Männer haben sie auch was parat. Ich wollte eigentlich nur fotografieren, werde aber überredet, ebenfalls einen yukata anzuziehen. Die Kamera gebe ich einstweilen in die Hände einer Kommilitonin. Die Männer haben es mit dem Anziehen wesentlich einfacher als die Frauen, die ihr Gewand mit allerlei Bändern auf die richtige Länge justieren und eine Art Gummiband so unter ihrem Gewand verlegen müssen, dass es oben nicht versehentlich mal zu weit aufgeht ;-). Bei mir dagegen war es lediglich nötig, ein etwas längeres Band zu finden, das um meinen Bierbauch passt (unter dem Obi, den Ihr sehen könnt, ist noch ein Stoffband, das für sicheren Halt sorgt, und das war etwas kurz. Na, wie steht mir so ein Dingens Foto dazu?

Um 15:30 sollen die Vorübungen für das Schreintragen beginnen. Da bleibt zwischendurch gerade noch ein Stündchen, um das Tagebuch von vorgestern endlich einzutippen - es kamen schon wieder ungeduldige Mails.

Als Träger werden 16 Leute gebraucht. Es trifft sich gut, dass ein paar mehr da sind, denke ich mir, denn ich möchte lieber Fotos machen. Nach einigen Übungen Foto dazu - Declan erklärt, welche Kommandos er geben wird, um das Ganze zu steuern - gibts ne Runde Bier und Zeit für Gruppenfotos Foto dazu. Es finden zwar irgendwie nie alle auf einem Bild zusammen, aber ist ja auch egal.

Auf gehts mit dem Bus nach Okazaki rein, wo sich auf einem Platz ganz viele Gruppen mit ihren Schreinen auf ihre Darbietungen vorbereiten, und wo im hintersten Winkel ein ganz kleines Eckchen für Yamasa reserviert ist. Hier herrscht eine unbeschreibliche Atmosphäre; vielleicht können die Bilder einiges davon vermitteln. Obwohl dieser Bereich nur der Vorbereitung auf den eigentlichen Umzug dient, ist die Stimmung hier kurz vor Sonnenuntergang bereits unglaublich ausgelassen Foto dazu Foto dazu. Besonders gut gefällt mir die Darbietung einer Gruppe von Trommlern, die, obwohl recht jung, ihre Sache mit großem Ernst betreiben und soweit ich das beurteilen kann ziemlich gut machen Foto dazu.

Ich ärgere mich, dass ich Dorfdepp meine zweite Speicherkarte und den Ersatzakku für die Kamera nicht bei mir habe. Kurz vor Aufbruch wurden wir genötigt, unsere Rucksäcke im International Office zurückzulassen, und in der Eile habe ich vergessen, Speicherkarte und Akku in die Hosentasche zu stecken. Muss ich halt sparsam fotografieren und hoffen, dass der Akku nicht ausgerechnet heute leer wird, denn dieser Tag wird so schnell nicht wiederkommen.

Als ich mir die anderen Gruppen so anschaue, bestätigt sich mein Verdacht, dass das, was wir zu bieten haben, doch ziemlich mickrig ist. Selbst andere Gruppen auf den hinteren Plätzen haben da mehr Aufwand betrieben, schleppen sogar auf einem Wagen einen Generator hinter dem Schrein her, um die aufwendige Beleuchtung zu speisen Foto dazu. Einen Preis werden wir wohl heute nicht gewinnen mit unserem Auftritt (es gibt tatsächlich am Ende der Prozession ein Schiedsgericht, das die Gruppen bewertet). Aber Declan schärft uns ein, dass es vor allem darum geht, Spaß zu haben und eine gute Show abzuliefern. Und so sollen wir möglichst viel Action veranstalten - das Megaphon kriegt ein Franzose (Belgier?) mit dem Auftrag, immer mal wieder was auf Französisch zu brüllen. Wir sind hier schließlich die Exoten, und Dabeisein ist alles.

Als es endlich losgeht, sind die Straßen gesäumt von Schaulustigen Foto dazu, und alle paar Meter gibt es Lautsprecherdurchsagen, die ankündigen, welche Gruppe gerade vorbeikommt. Ich renne um unsere Gruppe herum, vor und zurück, und versuche, wenigstens ein paar gute Fotos zu machen, was leider nur teilweise gelingt. Alle paar zig Meter gerät das Ganze ins Stocken, und wir bleiben stehen. Das ist der Einsatz der ashikun ("Fuß-Jungs"), die dann schnell an den vier Ecken Füße unterstellen, damit wir den Schrein absetzen können.

Apropos wir: Als eines der Mädels keine Lust mehr hat, den Schrein zu tragen, endet meine Rolle als passiver Fotograf, und ich muss (darf) mit anpacken. Es ist schon ein tolles Gefühl, mit den anderen diesen Schrein immer wieder in die Luft zu wuchten, mit ihm herumzuwirbeln, dabei so laut wie möglich wasshai zu schreien (keine Ahnung, was das eigentlich heißt). Zwischendurch bei den kurzen Pausen mache ich nur noch einige wenige Fotos, zum Beispiel von der amerikanisch-japanischen Völkerverständigung Foto dazu Foto dazu. Da die Speicherkarte jetzt eh so gut wie voll ist, gebe ich mich ganz dem schweißtreibenden Schreinschleppen und Schreien hin.

Völlig durchgeschwitzt steigen wir in den Bus, der uns zurück zu Yamasa bringt, und der Abend endet bei einem Freibier in der Campus-Bar Foto dazu, gefolgt von weiteren ...

omoshirokute totemo tanoshii ichinichi deshita.

 

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©2004 by Harald Bögeholz