Nach 12 Stunden Schlaf hüpfe ich um 6:30 Uhr energiegeladen
aus meinem Bett, dusche und radle zu Denny's. Heute soll es mal wieder
das große Frühstück mit gegrilltem Lachs sein - da ich
gestern das Abendessen ausgelassen habe, knurrt mir der Magen ganz
mächtig. Mein Blick schweift zum Nachbartisch, und ich sehe mit
gelindem Erstaunen zwei Japanerinnen auf ihren Bänken schlafen.
Auch das hatte ich in irgendeinem meiner schlauen Japan-Bücher
schon gelesen, dass die Japaner nicht nur in jeder Lebenslage schlafen
können, sondern es auch ungehemmt tun. Nun sehe ich es also
einmal live und traue mich kaum, ein Foto zu machen. Ob sich das wohl
gehört? Verstohlen stelle ich die Kamera auf Vollautomatik und
drücke ab . So bemerke ich leider
nicht, dass die Kamera leider den Stuhl scharfgestellt hat und nicht
das Motiv. Na ja, egal. Zu Dokumentationszwecken taugt das Bild
trotzdem. Sie schlafen übrigens über eine Stunde lang,
wachen erst auf, kurz bevor ich zur Schule gehe.
Heute fühle ich mich mutig. Als mich die Bedienung fragt, ob
ich mein Frühstück wirklich mit natto oder nicht doch
lieber mit einem (halbgaren) Ei möchte, sage ich ihr, dass ich
heute mal natto gut finde. Wär doch gelacht, wenn ich kein
natto essen könnte.
Als das Frühstück kommt, schaue ich mir die Schüssel
mit dem natto natürlich erst einmal genau an. Der gelbe
Klecks erweist sich als sehr scharfer Senf, die Dekoration als
Fühlingszwiebeln. Riechen tut das ganze irgendwie säuerlich,
aber nicht sonderlich abstoßend. Also los. natto sind wie
gesagt irgendwie halbverfaulte - vielleicht sollte ich vornehmer
sagen, fermentierte - Sojabohnen. Sie ziehen Fäden, wenn man sie
mit den Stäbchen anhebt . So weit, so gut. Der
Geschmack ist ... hmm, wie soll ich das beschreiben? Etwas, streng,
säuerlich und nicht so, dass ich ihn jeden Morgen zum
Frühstück haben müsste. Aber ich esse im Verlaufe des
Frühstücks immer wieder davon, um herauszufinden, was daran
wohl so toll ist. So richtig erschließt es sich mir aber
nicht.
Als die Bedienung abräumt, nimmt sie offensichtlich zur
Kenntnis, dass ich alles aufgegessen habe, nur vom natto die
Hälfte liegengelassen. Sie tuschelt mit dem Koch, und ich sehe
deutlich, wie sie den Koch bittet, doch mal kurz aus seiner Küche
herauszukommen und durch eine Glasscheibe verstohlen den Europäer
zu besichtigen, der soeben versucht hat, natto zu essen. Es
stimmt also, was in meinen Büchern steht. Europäer finden
natto ekelig. Europäer können natto
unmöglich mögen. Es ist lustig, zuzuschauen, wenn
Europäer natto essen. Mindestens schaut man sich hinterher
an, ob sie davon grün werden. So denken die Japaner
anscheinend.
Die Bedienung kommt zurück und sagt irgendetwas zum Thema
natto zu mir. Leider funktioniert mein Japanisch immer noch
nicht wirklich gut, und ich stammele, dass ich den Geschmack zwar
interessant, aber nicht wirklich lecker finde. Sie erklärt mir
(glaube ich), dass ich das natto hätte mit Sojasoße
mischen und kräftig umrühren müssen, dann wäre es
so richtig lecker. Ob ich noch eine Schüssel wolle? Ich lehne
dankend ab (das kann ich schon in höflichem Japanisch),
beschließe aber, es wirklich noch einmal zu probieren.
Nächstes Mal, wenn es wieder dieselbe Bedienung ist wie heute,
werde ich mir von ihr ausführlich erklären lassen, wie man
natto isst und genießt.
Mittlerweile bin ich ja so eine Art Stammgast bei Denny's. Ich bin
einfach ein Gewohnheitstier und brauche meinen Fixpunkt. Denny's liegt
genau zwischen Wohnheim und Schule, das Frühstück schmeckt
mir und ist mit 609 Yen (für das kleine, das mit Lachs kostet
820) auch nicht übermäßig teuer. Also wird das wohl
eine Konstante bleiben. Diese eine Kellnerin jedenfalls ist mir schon
mehrfach begegnet, und sie überschreitet (glaube ich) bisweilen
die normalen Grenzen der Kellnerinnen-Höflichkeit und versucht,
mit mir etwas mehr zu sprechen, als es normalerweise nötig
wäre. Das ist zwar nett, führt mir aber Tag für Tag
wieder vor Augen, wie wenig Japanisch ich doch kann. Obwohl, wenn ich
so recht drüber nachdenke - inzwischen verstehe ich die Frage
nach Raucher oder Nichtraucher. Ähem, na ja, ich verstehe sie
nicht vollständig. Aber ich kenne das Wort für Rauchverbot
(kinen), und das kommt darin vor, sodass ich die Frage
zuverlässig identifizieren kann. Und inzwischen souverän
antworten kann, dass ich gerne bei den Nichtrauchern sitzen
möchte.
In der Schule ist das matsuri in aller Munde, ein
großes traditionelles Sommerfest, bei dem in einer großen
Prozession Schreine durch die Stadt getragen werden. Yamasa beteiligt
sich auch seit einigen Jahren daran, und wer sich vorher anmeldet,
wird mit einem Bus dort hingekarrt und darf mitmarschieren. Ich
beschließe, mich mittags zu erkundigen, ob ich noch mitkann.
Schließlich findet das nur einmal im Jahr statt, sodass die
Gelegenheit so schnell nicht wiederkommen dürfte.
Der Unterricht bestätigt heute wieder einmal die
Immer-Abwechselnd-Theorie. Ich kann ihm gut folgen, was zum einen
daran liegt, dass wir nur das in dieser Woche Gelernte wiederholen,
aber hauptsächlich daran, dass wir heute mit ca. 15 Leuten in
einer Klasse sitzen . In der Parallelklasse ist
nämlich ein Lehrer krank geworden, und so unterrichtet Yokozawa
sensei heute beide Klassen zusammen. Es ist schon ein
Riesenunterschied, ob man zu siebt oder zu fünfzehnt ist - man
kommt in der großen Gruppe einfach viel seltener dran, und es
ist insgesamt weit weniger lustig als in unserer kleinen Klasse, wo
wir uns inzwischen gut kennen. Na ja, ab nächste Woche geht es ja
dann hoffentlich wieder in der gewohnten Gruppe weiter. Wir hatten
etwas Angst, auseinandergerissen zu werden oder allzu viele neue Leute
dazuzubekommen (in Yamasa kommen und gehen die Leute ja im
14-Tage-Takt, und die Klassen werden daher alle 14 Tage neu
zusammengestellt). Aber es stößt lediglich eine neue
Schülerin zu uns. Ich hatte noch keine Gelegenheit, sie zu
fragen, wo sie herkommt, aber als sie die Sprache ihres Lehrbuchs
aussuchen sollte, meinte sie, Englisch und Koreanisch seien beide gut,
hat sich dann letztlich aber für das englische Buch
entschieden.
Zum Abschluss erzählt Yokozawa sensei noch irgendwas über
das matsuri, ich verstehe aber leider wieder nur die
Hälfte :-(. Jedenfalls schnappe ich auf, dass Interessierte um 13
Uhr lernen können, wie man traditionelle japanische Kleidung
anlegt, und beschließe, mir das zumindest zu Fotozwecken mal
anzuschauen. Unten im Aufenthaltsraum steht schon unser "Schrein"
bereit . Sieht ja etwas mickrig
aus irgendwie, ob das wirklich alles ist?
Erstmal gibts jetzt eines von Mikes leckeren Sandwiches, und ich
mache mich auf ins Studentenbüro, um mich noch für das
matsuri anzumelden. Ich habe Glück, auf der Liste sind
gerade noch drei Plätze frei. Die Frage, ob ich den happi
- das ist so eine Art Jacke, die man da trägt - kaufen will,
bejahe ich spontan, obwohl 4000 Yen nicht gerade billig sind. Ich
hätte das Ding auch nur leihen können, aber so habe ich ein
nettes Souvenir.
Wenn ich schon gerade beim Geldausgeben und im richtigen
Gebäude bin, kann ich mir auch gleich noch das Kanji-Lehrbuch
kaufen. Ich habe nämlich beschlossen, dass das ganze Sprechen und
Verstehen ja auf die Dauer nichts hilft, wenn man nicht wirklich lesen
und schreiben kann. Daher habe ich vorgestern meine Lehrerin gefragt,
wie ich es anstellen soll, Kanji zu lernen, und sie hat mir das "Basic
Kanji Book" empfohlen und erklärt, wo ich es bei Yamasa kaufen
kann. Ich habe zwar von meiner Schwester schon ein Kanji-Buch, das
seit Weihnachten letzten Jahres auf meinem Schreibtisch in Hannover
liegt, aber da liegt es leider auch jetzt. Und außerdem ist es
vermutlich eh besser, die an dieser Schule üblichen
Lehrbücher zu benutzen. Anders als das Assimil-Buch, wo einfach
nur stumpf ein Kanji nach dem anderen behandelt wird, hat dieses
jedenfalls eine Menge Übungsaufgaben, und ich gehe davon aus,
dass meine Lehrer sie mir korrigieren werden, wenn ich sie abgebe.
Jetzt muss ich mich nur noch aufraffen, tatsächlich Energie ins
Kanji-Lernen zu investieren. Ich glaube, es ist wichtig, bei diesem
Berg auf keinen Fall nach oben zu schauen, denn er ist sehr hoch. Also
schaue ich nach unten: Juhuu, die ersten 10 Kanji des ersten Kapitels
kenne ich alle schon!
Die 13-Uhr-Veranstaltung zum Thema Kleidung ist
erwartungsgemäß überwiegend von Mädels besucht,
aber für Männer haben sie auch was parat. Ich wollte
eigentlich nur fotografieren, werde aber überredet, ebenfalls
einen yukata anzuziehen. Die Kamera gebe ich einstweilen in die
Hände einer Kommilitonin. Die Männer haben es mit dem
Anziehen wesentlich einfacher als die Frauen, die ihr Gewand mit
allerlei Bändern auf die richtige Länge justieren und eine
Art Gummiband so unter ihrem Gewand verlegen müssen, dass es oben
nicht versehentlich mal zu weit aufgeht ;-). Bei mir dagegen war es
lediglich nötig, ein etwas längeres Band zu finden, das um
meinen Bierbauch passt (unter dem Obi, den Ihr sehen könnt, ist
noch ein Stoffband, das für sicheren Halt sorgt, und das war
etwas kurz. Na, wie steht mir so ein Dingens ?
Um 15:30 sollen die Vorübungen für das Schreintragen
beginnen. Da bleibt zwischendurch gerade noch ein Stündchen, um
das Tagebuch von vorgestern endlich einzutippen - es kamen schon
wieder ungeduldige Mails.
Als Träger werden 16 Leute gebraucht. Es trifft sich gut, dass
ein paar mehr da sind, denke ich mir, denn ich möchte lieber
Fotos machen. Nach einigen Übungen - Declan erklärt,
welche Kommandos er geben wird, um das Ganze zu steuern - gibts ne
Runde Bier und Zeit für Gruppenfotos . Es finden zwar irgendwie
nie alle auf einem Bild zusammen, aber ist ja auch egal.
Auf gehts mit dem Bus nach Okazaki rein, wo sich auf einem Platz
ganz viele Gruppen mit ihren Schreinen auf ihre Darbietungen
vorbereiten, und wo im hintersten Winkel ein ganz kleines Eckchen
für Yamasa reserviert ist. Hier herrscht eine unbeschreibliche
Atmosphäre; vielleicht können die Bilder einiges davon
vermitteln. Obwohl dieser Bereich nur der Vorbereitung auf den
eigentlichen Umzug dient, ist die Stimmung hier kurz vor
Sonnenuntergang bereits unglaublich ausgelassen . Besonders gut
gefällt mir die Darbietung einer Gruppe von Trommlern, die,
obwohl recht jung, ihre Sache mit großem Ernst betreiben und
soweit ich das beurteilen kann ziemlich gut machen .
Ich ärgere mich, dass ich Dorfdepp meine zweite Speicherkarte
und den Ersatzakku für die Kamera nicht bei mir habe. Kurz vor
Aufbruch wurden wir genötigt, unsere Rucksäcke im
International Office zurückzulassen, und in der Eile habe ich
vergessen, Speicherkarte und Akku in die Hosentasche zu stecken. Muss
ich halt sparsam fotografieren und hoffen, dass der Akku nicht
ausgerechnet heute leer wird, denn dieser Tag wird so schnell nicht
wiederkommen.
Als ich mir die anderen Gruppen so anschaue, bestätigt sich
mein Verdacht, dass das, was wir zu bieten haben, doch ziemlich
mickrig ist. Selbst andere Gruppen auf den hinteren Plätzen haben
da mehr Aufwand betrieben, schleppen sogar auf einem Wagen einen
Generator hinter dem Schrein her, um die aufwendige Beleuchtung zu
speisen . Einen Preis werden wir
wohl heute nicht gewinnen mit unserem Auftritt (es gibt
tatsächlich am Ende der Prozession ein Schiedsgericht, das die
Gruppen bewertet). Aber Declan schärft uns ein, dass es vor allem
darum geht, Spaß zu haben und eine gute Show abzuliefern. Und so
sollen wir möglichst viel Action veranstalten - das Megaphon
kriegt ein Franzose (Belgier?) mit dem Auftrag, immer mal wieder was
auf Französisch zu brüllen. Wir sind hier schließlich
die Exoten, und Dabeisein ist alles.
Als es endlich losgeht, sind die Straßen gesäumt von
Schaulustigen , und alle paar Meter gibt
es Lautsprecherdurchsagen, die ankündigen, welche Gruppe gerade
vorbeikommt. Ich renne um unsere Gruppe herum, vor und zurück,
und versuche, wenigstens ein paar gute Fotos zu machen, was leider nur
teilweise gelingt. Alle paar zig Meter gerät das Ganze ins
Stocken, und wir bleiben stehen. Das ist der Einsatz der
ashikun ("Fuß-Jungs"), die dann schnell an den vier Ecken
Füße unterstellen, damit wir den Schrein absetzen
können.
Apropos wir: Als eines der Mädels keine Lust mehr hat, den
Schrein zu tragen, endet meine Rolle als passiver Fotograf, und ich
muss (darf) mit anpacken. Es ist schon ein tolles Gefühl, mit den
anderen diesen Schrein immer wieder in die Luft zu wuchten, mit ihm
herumzuwirbeln, dabei so laut wie möglich wasshai zu
schreien (keine Ahnung, was das eigentlich heißt). Zwischendurch
bei den kurzen Pausen mache ich nur noch einige wenige Fotos, zum
Beispiel von der amerikanisch-japanischen
Völkerverständigung . Da die Speicherkarte
jetzt eh so gut wie voll ist, gebe ich mich ganz dem
schweißtreibenden Schreinschleppen und Schreien hin.
Völlig durchgeschwitzt steigen wir in den Bus, der uns
zurück zu Yamasa bringt, und der Abend endet bei einem
Freibier in der Campus-Bar , gefolgt von
weiteren ...
omoshirokute totemo tanoshii ichinichi deshita.
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