Heute komme ich zur Abwechslung mal wieder ganz gut mit im
Unterricht. Entweder haben die das absichtlich so organisiert, dass
sich schwierige mit einfachen Lektionen abwechseln, oder ich
weiß halt zufällig von jeder zweiten Lektion schon etwas
mehr.
Ich spiele den Nachmittag über in der Bar mit Mike Go , bis der
um 17 Uhr seine Bar zumacht. Dann spiele ich in der Aoi Hall ein
Stündchen Klavier. Zurück im Studentenwohnheim treffe ich
Henrik und frage ihn, was er abends vor hat. Er will mit ein paar
Leuten essen gehen, und ich will mich anschließen. Endlich habe
ich den Zug mal nicht verpasst, bisher war ich jeden Abend irgendwie
alleine.
Es stellt sich raus, dass es doch eine größere Gruppe
von Yamasa-Studenten ist, die um 19 Uhr das japanische Restaurant
stürmt: Etwa 15 an der Zahl. Am Eingang zieht man Japan-typisch
seine Schuhe aus und verstaut sie in einem Schließfach . Vor den Tischen liegen
Kissen, um darauf zu knien, es gibt aber auch eine Vertiefung unter
dem Tisch, in die man seine Füße reinstecken kann, wenn man
normal sitzen will. Wie praktisch für Europäer. Ich knie
mich stilecht vor den Tisch und komme mit dieser Sitzhaltung das erste
halbe Stündchen prima zurecht, aber dann wird es mir doch etwas
ungemütlich.
Die Speisekarte stürzt mich in tiefe Ratlosigkeit . Denn diesmal hat sie
keine Bilder, und alles ist in Kanji geschrieben. Einige der anderen
waren schonmal da und wissen schon die Namen von ein paar Gerichten,
die sie mögen. Außerdem sitzt Michael bei uns am Tisch, und
der kann schon etwas besser Japanisch. So halte ich mich beim
Bestellen zurück und harre der Dinge, die da kommen. Und die sind
gar nicht schlecht: Mit Käse überbackene Bratkartoffeln,
gebackene Kartoffelecken, frittierte Bällchen, die anscheinend
Hühnchenfleisch enthalten, ein großer Salat und eine Platte
Sushi - da ist für jeden Geschmack etwas dabei.
Nach dem Essen sitzen wir noch gemütlich bei einem Bier
zusammen, als plötzlich ein Japaner an unseren Tisch kommt und
mich fragt, ob ich mich nicht zu ihnen gesellen will. Warum auch
nicht? In einer Art Nebenzimmer, das mit Tatami ausgelegt ist, feiert
um einen großen Tisch herum eine ausgelassene Runde Japaner.
Einer (auf dem Bild ganz links) spricht recht
gut Englisch und erzählt mir nach und nach, dass das alles
Geschäftskollegen sind, die hier heute eine "drinking party"
feiern, um einander besser kennenzulernen. Ich versuche, so viel wie
möglich auf Japanisch zu antworten, denn sonst lerne ich es ja
nie. Was einige der Anwesenden besonders zu freuen scheint, da sie
kein Englisch können.
Nun bin ich also mal live dabei, bei so einem Event, von dem ich
bisher nur gelesen habe. Das ist so eine Mischung aus
Privatvergnügen und Arbeit: Es wird anscheinend erwartet, dass
alle hingehen und mittrinken, aber bezahlen muss jeder selber. Und das
nicht zu knapp: Die Jungs kommen gar nicht aus Okazaki, sondern einem
Ort, dessen Namen ich vergessen habe. Jedenfalls werden die Armen 5000
bis 6000 Yen allein für das Taxi nach Hause bezahlen müssen,
und ich nehme an, sie müssen ja auch irgendwie hier hingekommen
sein.
Alle Anwesenden sind schon ziemlich knülle, und ich
überlege mit Sorge, wo ich wohl meine Kamera mal ablegen kann,
damit ihr nichts passiert, wenn jemand mal ne Flasche oder ein Glas
umwirft. Die Gefahr ist durchaus gegeben, so wie die Jungs teilweise
torkeln. Man schenkt mir Bier in ein 0,1-Liter-Gläschen ein, das
man mir zwar ab und zu nachfüllt, was aber bei weitem nicht
ausreicht, um mich auch nur annähernd so lustig wie die Japaner
zu machen. Auch das wusste ich schon vorher: Japaner vertragen
überhaupt keinen Alkohol. Ich drücke die Kamera einer
Kommilitonin in die Hand, die noch an unserem Tisch sitzen geblieben
ist, und unterhalte mich den Abend lang mit den Japanern - eine gute
Übung für mein Japanisch und deren Englisch.
Irgendwann, es ist wohl so gegen 10, ordert plötzlich einer
die Rechnung und alle zücken die Geldbörsen. Einer
übernimmt die Buchführung. Er rechnet aber anscheinend nicht
auseinander, wer wieviel gegessen oder getrunken hat, sondern schreibt
nur auf, wer wieviel bezahlt hat. Der Chef scheint, wenn ich das aus
dem Augenwinkel richtig sehe, einen größeren Schein in den
Topf zu tun als die anderen. Der Buchhalter ruft einem Kollegen zu,
dass er noch etwas mehr bezahlen soll, was der brav tut. Leider komme
ich nicht dazu, genau zu ergründen, nach welchem System das
Bezahlen läuft, aber ich könnte mir vorstellen, dass es
tatsächlich nach Hierarchie geht: Je Chef desto mehr. Wär ja
auch irgendwie sinnvoll.
Nach wenigen Minuten haben alle bezahlt, die Rechnung ist
beglichen, und nach kurzen Abschiedsworten sind sie alle weg. Die
Armen müssen morgen arbeiten, und ihr Zustand sieht für
meine Begriffe gar nicht gut aus. Ich dagegen habe für meine
Verhältnisse wenig getrunken. Wir verbliebenen sieben
Yamasa-Studenten begleichen unsere Rechnung ebenfalls auf japanische
Art; die Letzte kriegt das Wechselgeld. Trinkgelder sind in Japan
nicht üblich, das finde ich sehr praktisch. Es wäre
wahrscheinlich viel zu kompliziert, so etwas wie Trinkgeld in den
komplexen Höflichkeitskodex zu integrieren, daher gibts einfach
gar keins.
Auf dem Rückweg ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ich
mich mit den Japanern jetzt richtig durstig getrunken habe. Aber es
ist kurz nach 11, und die Bierautomaten haben schon zu. Nicht nur der
bei mir um die Ecke, sondern ich sehe unterwegs an einem anderen
Automaten auch überall rote Lichter glimmen. Es fängt an,
ziemlich heftig zu regnen. Mist, ich habe keinen Rucksack mit, was
mach ich nur mit der Kamera? Ich stecke sie unter mein Hemd und radle
so schnell ich kann ins Wohnheim. Ein Bier trinken könnt ich zwar
noch, aber zum Tagebuchschreiben bin ich irgendwie zu schlapp. So
gehts dann mal vor Mitternacht ins Bett, das kann ja auch nicht
schaden. Und schließlich muss ich früh raus, denn heute
habe ich die Hausaufgaben noch gar keines Blickes gewürdigt.
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