Ich stehe pünktlich um 6:30 auf, dusche hurtig und eile zu
Denny's, denn ich weiß nicht, wie schnell ich mit den
Hausaufgaben zurechtkommen werde. Ich schaffe sie aber gerade so.
Die Theorie vom Wechselbad der Sprachkenntnisse scheint sich zu
bestätigen. Heute raucht mir der Kopf wie nie zuvor. Kein Wunder
haben wir fast keine neuen Vokabeln gelernt, denn heute geht es an
neue Verbformen. Beziehungsweise an das informelle Japanisch, das man
unter Freunden spricht. Und das bedeutet als erstes, dass alle,
wirklich alle Verbformen anders sind, und dass man außerdem ein
paar Partikel weglässt und andere Wörter benutzt.
Da hatte ich mich nun gerade an ikimasu (gehen,
Nichtvergangenheit (d.h. Gegenwart oder Zukunft)), ikimasen
(nicht gehen, Nichtvergangenheit), ikimashita (gehen,
Vergangenheit) und ikimasendeshita (nicht gehen, Vergangenheit)
gewöhnt, und jetzt heißt auf einmal alles anders. Die
einzige Silbe, auf die noch Verlass ist, ist das i am Anfang,
das übrigens normalerweise mit einem Kanji geschrieben wird, das
bereits die ganze Bedeutung von "gehen" transportiert. Und so
heißt es unter Freunden ab sofort iku, ikanai,
itta und ikanakatta.
Für die JET-Teacher ist es anscheinend das totale
Aha-Erlebnis: Das ist endlich das Japanisch, das sie Tag für Tag
hören. Für mich ist es in der Theorie zwar klar, aber ich
verstehe, wenn ich das in Echtzeit höre, nur Bahnhof, und muss
sekundenlang überlegen, ob das ki in ikimasen sich
nun zu ku wie in iku oder zu ka wie in
ikanai wandelt. Kein Wunder verstehe ich in freier Wildbahn
noch so unglaublich schlecht Japanisch - kein Mensch benutzt andauernd
die höflichen, formellen Formen mir gegenüber. Ich
müsste schon ein wichtiger Firmenchef sein, damit man so mit mir
spricht, wie ich es bisher gelernt habe. Umgekehrt verstehe ich jetzt,
warum sich alle Japaner so gefreut haben, wenn ich sie angesprochen
habe, denn ich habe wohl immer ein recht höfliches Japanisch
gesprochen. Da bringen sie uns nun einen ganzen Nachmittag lang bei,
wie man ohne zu stottern ikanakerebanarimasen sagt, um uns dann
am nächsten Tag zu erklären, dass der normale Mensch auf der
Straße ikanai to oder allenfalls ikanai to ikenai
sagt (oder, wie mir Mike aus der Bar inzwischen erzählt hat, noch
zwei, drei weitere, aber durchweg kurze Variationen davon)!
Na gut, tief im Inneren bin ich überzeugt, dass diese
Lehrmethode schon ihren Sinn hat. Und außerdem war ich ja schon
immer der Typ, der erst das vollständige Manual liest, bevor er
in einer neuen Programmiersprache programmiert. Lernen wir also alle
Variationen! Vielleicht ist es wirklich gut, zuerst die höflichen
Formen zu lernen; so macht man, solange man wenig Japanischkenntnisse
hat, bei den Japanern Eindruck mit seiner Höflichkeit. Nur
vesteht man nicht, was sie weniger höflich antworten :-(.
Immerhin muntert es mich ein bisschen auf, dass auch die anderen
mit gewissen Details ihre Schwierigkeiten haben. So fällt es
allen gleichermaßen schwer, sich das spontane hai
für Ja und iie für Nein wieder abzugewöhnen.
Damit kann man so schön einen Satz anfangen, während man im
Hinterkopf noch überlegt, wie er korrekt weitergeht. Aber unter
Freunden heißt es um beziehungsweise uum. Es
fällt schwer, das Problem dabei in der Schriftsprache
wiederzugeben, aber wir üben bestimmt fünf Minuuten lang die
Aussprache von uum versus um. Eigentlich ist es gar
nichts so Ungewöhnliches. Man denke nur an die Kurzformen von Ja
und Nein im Deutschen, von denen ich auch jetzt gar nicht weiß,
wie ich sie schreiben soll: mm und m'mmm?
Zum Mittagessen beschließe ich wieder einmal, eine Auszeit
von Japan zu nehmen, und lasse mir von Mike seine super leckeren
getoasteten, mit Käse und Schinke gefüllten Sandwiches
machen .
Im Laufe des Nachmittags bekomme ich leichtes Kopfweh - die
Japanisch-Dosis ist heute einfach zu hoch. Es fühlt sich heute
den ganzen Tag lang schon so an, als müsste ich eine komplett
neue Sprache lernen, bei der allenfalls die ersten ein, zwei Silben
der Verben etwas mit dem zu tun haben, was ich bisher wusste. Eine
Viertelstunde vor Ende der letzten Stunde überlege ich, ob ich
jetzt schreiend den Raum verlassen soll, halte aber tapfer bis zum
Ende durch. Weitere 15 Minuten wären aber nicht drin gewesen, mein
Kopf ist voll für heute. Während Jeremy und Henrik Ausgleich
beim Tischtennis suchen, übe ich mich in Sportfotografie und sehe mit einer
gewissen Genugtuung, dass es auch für Jennifer anscheinend ein
anstrengender Tag war .
Wie "immer" gehe ich rüber in die Bar, um mit Mike Go zu
spielen. Er möchte es heute mit nur zwei Vorgabesteinen (auf dem
9 × 9-Brett) versuchen, und da er schon etliche
Partien mit drei Steinen gewonnen hat, kann ich ihm das nicht
abschlagen. Obwohl es guttut, meine Gedanken an einem
9 × 9-Gitter auszurichten, will der Druck in meinem
Kopf nicht so recht nachlassen. Nachdem ich eine Weile über den
auf der Bar herumliegenden Bierdeckel sinniert habe (die
Überschrift heißt paafekto painto, das perfekte Pint
:-), schon lustig, das japanische Englisch), beschließe ich,
meine eiserne Regel zu brechen und doch schon vor vier ein Bier zu
trinken.
Das tut gut. Bei einem bleibt es allerdings nicht ganz, und ich
gehe gegen 18 Uhr nach Hause, falle in mein Bett und schlafe bis zum
nächsten Morgen durch. Musste anscheinend sein.
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