5.8., Eine völlig neue Sprache

Ich stehe pünktlich um 6:30 auf, dusche hurtig und eile zu Denny's, denn ich weiß nicht, wie schnell ich mit den Hausaufgaben zurechtkommen werde. Ich schaffe sie aber gerade so.

Die Theorie vom Wechselbad der Sprachkenntnisse scheint sich zu bestätigen. Heute raucht mir der Kopf wie nie zuvor. Kein Wunder haben wir fast keine neuen Vokabeln gelernt, denn heute geht es an neue Verbformen. Beziehungsweise an das informelle Japanisch, das man unter Freunden spricht. Und das bedeutet als erstes, dass alle, wirklich alle Verbformen anders sind, und dass man außerdem ein paar Partikel weglässt und andere Wörter benutzt.

Da hatte ich mich nun gerade an ikimasu (gehen, Nichtvergangenheit (d.h. Gegenwart oder Zukunft)), ikimasen (nicht gehen, Nichtvergangenheit), ikimashita (gehen, Vergangenheit) und ikimasendeshita (nicht gehen, Vergangenheit) gewöhnt, und jetzt heißt auf einmal alles anders. Die einzige Silbe, auf die noch Verlass ist, ist das i am Anfang, das übrigens normalerweise mit einem Kanji geschrieben wird, das bereits die ganze Bedeutung von "gehen" transportiert. Und so heißt es unter Freunden ab sofort iku, ikanai, itta und ikanakatta.

Für die JET-Teacher ist es anscheinend das totale Aha-Erlebnis: Das ist endlich das Japanisch, das sie Tag für Tag hören. Für mich ist es in der Theorie zwar klar, aber ich verstehe, wenn ich das in Echtzeit höre, nur Bahnhof, und muss sekundenlang überlegen, ob das ki in ikimasen sich nun zu ku wie in iku oder zu ka wie in ikanai wandelt. Kein Wunder verstehe ich in freier Wildbahn noch so unglaublich schlecht Japanisch - kein Mensch benutzt andauernd die höflichen, formellen Formen mir gegenüber. Ich müsste schon ein wichtiger Firmenchef sein, damit man so mit mir spricht, wie ich es bisher gelernt habe. Umgekehrt verstehe ich jetzt, warum sich alle Japaner so gefreut haben, wenn ich sie angesprochen habe, denn ich habe wohl immer ein recht höfliches Japanisch gesprochen. Da bringen sie uns nun einen ganzen Nachmittag lang bei, wie man ohne zu stottern ikanakerebanarimasen sagt, um uns dann am nächsten Tag zu erklären, dass der normale Mensch auf der Straße ikanai to oder allenfalls ikanai to ikenai sagt (oder, wie mir Mike aus der Bar inzwischen erzählt hat, noch zwei, drei weitere, aber durchweg kurze Variationen davon)!

Na gut, tief im Inneren bin ich überzeugt, dass diese Lehrmethode schon ihren Sinn hat. Und außerdem war ich ja schon immer der Typ, der erst das vollständige Manual liest, bevor er in einer neuen Programmiersprache programmiert. Lernen wir also alle Variationen! Vielleicht ist es wirklich gut, zuerst die höflichen Formen zu lernen; so macht man, solange man wenig Japanischkenntnisse hat, bei den Japanern Eindruck mit seiner Höflichkeit. Nur vesteht man nicht, was sie weniger höflich antworten :-(.

Immerhin muntert es mich ein bisschen auf, dass auch die anderen mit gewissen Details ihre Schwierigkeiten haben. So fällt es allen gleichermaßen schwer, sich das spontane hai für Ja und iie für Nein wieder abzugewöhnen. Damit kann man so schön einen Satz anfangen, während man im Hinterkopf noch überlegt, wie er korrekt weitergeht. Aber unter Freunden heißt es um beziehungsweise uum. Es fällt schwer, das Problem dabei in der Schriftsprache wiederzugeben, aber wir üben bestimmt fünf Minuuten lang die Aussprache von uum versus um. Eigentlich ist es gar nichts so Ungewöhnliches. Man denke nur an die Kurzformen von Ja und Nein im Deutschen, von denen ich auch jetzt gar nicht weiß, wie ich sie schreiben soll: mm und m'mmm?

Zum Mittagessen beschließe ich wieder einmal, eine Auszeit von Japan zu nehmen, und lasse mir von Mike seine super leckeren getoasteten, mit Käse und Schinke gefüllten Sandwiches machen Foto dazu.

Im Laufe des Nachmittags bekomme ich leichtes Kopfweh - die Japanisch-Dosis ist heute einfach zu hoch. Es fühlt sich heute den ganzen Tag lang schon so an, als müsste ich eine komplett neue Sprache lernen, bei der allenfalls die ersten ein, zwei Silben der Verben etwas mit dem zu tun haben, was ich bisher wusste. Eine Viertelstunde vor Ende der letzten Stunde überlege ich, ob ich jetzt schreiend den Raum verlassen soll, halte aber tapfer bis zum Ende durch. Weitere 15 Minuten wären aber nicht drin gewesen, mein Kopf ist voll für heute. Während Jeremy und Henrik Ausgleich beim Tischtennis suchen, übe ich mich in Sportfotografie Foto dazu Foto dazu und sehe mit einer gewissen Genugtuung, dass es auch für Jennifer anscheinend ein anstrengender Tag war Foto dazu.

Wie "immer" gehe ich rüber in die Bar, um mit Mike Go zu spielen. Er möchte es heute mit nur zwei Vorgabesteinen (auf dem 9 × 9-Brett) versuchen, und da er schon etliche Partien mit drei Steinen gewonnen hat, kann ich ihm das nicht abschlagen. Obwohl es guttut, meine Gedanken an einem 9 × 9-Gitter auszurichten, will der Druck in meinem Kopf nicht so recht nachlassen. Nachdem ich eine Weile über den auf der Bar herumliegenden Bierdeckel Foto dazu sinniert habe (die Überschrift heißt paafekto painto, das perfekte Pint :-), schon lustig, das japanische Englisch), beschließe ich, meine eiserne Regel zu brechen und doch schon vor vier ein Bier zu trinken.

Das tut gut. Bei einem bleibt es allerdings nicht ganz, und ich gehe gegen 18 Uhr nach Hause, falle in mein Bett und schlafe bis zum nächsten Morgen durch. Musste anscheinend sein.

 

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©2004 by Harald Bögeholz