02.10., Oktoberfest in Tokyo

Nach den vielen Eindrücken von gestern bin ich heute eigentlich eher auf Ruhe aus. Nachdem ich gefrühstückt und auf meiner Mauer nutzlos im Internet rumgesurft habe, ziehe ich mich daher gegen 13 Uhr noch einmal in mein Hotelzimmer zurück, um ein wenig zu schreiben. Irgendwo muss der ganze Text ja herkommen ;-).

Ich glaube, ich habe es noch nicht ins Tagebuch geschrieben, aber als ich vorgestern mal kurz nach dem Weggehen zurückgekommen bin, weil ich nach dem kalten Milchkaffee plötzlich dringend auf die Toilette musste, da waren sie in heller Aufregung und wollten mich gar nicht recht ins Zimmer lassen. Hektisch verschwand die Portöse hinter den Kulissen und telefonierte, während es mir immer dringender wurde. Dann kam mir die rettende Idee, einfach im Erdgeschoss auf die allgemeine Toilette zu gehen, und sichtlich erleichtert rief sie noch einmal oben an und gab Entwarnung, dass der Gast nun doch nicht kommt. Gestern kam ich schon fünf Minuten nach dem Weggehen zurück, weil mir eingefallen ist, dass ich was vergessen hatte. Da war die Aufregung nicht ganz so groß, als ich sagte, dass ich nur kurz etwas holen will, aber es wurde auch sofort nach oben telefoniert, dass der Gast jetzt kurz kommt, um etwas Vergessenes zu holen (ich drücke das so komisch aus, weil die Durchsage auf Japanisch so lautete; es gibt das nette Wort wasuremono – vergessener Gegenstand oder so).

Heute habe ich ihnen lange genug Zeit gelassen zum Putzen anscheinend, und ich bekomme bereitwillig meinen Schlüssel. Aber als ich gerade den Aufzug betrete, höre ich eine Lautsprecherdurchsage – und ich nehme an, die ist hotelweit zu hören –, dass 703 jetzt zurückkehrt. Der Aufzug hält auch prompt im fünten Stock und die Putzfrau steigt zu, um mir zu erklären, dass sie mit dem Saubermachen fertig sei, aber die Tür zu meinem Zimmer noch offen stehe (aiteimasu, schon im Sprachkurs dieses Frühjahr ist mir diese Form unerwartet schwergefallen, und ich verstehe es erst beim zweiten Mal). Sie kommt mit, vergewissert sich, dass auch wirklich alles in Ordnung ist, schließt für mich noch die Badezimmertür und ich darf mein Zimmer benutzen. Sehr japanisch irgendwie. Was ich an diesem Hotel schätze, ist, dass man kein Englisch spricht. Es gibt zwar nur sehr wenig, was ich mit dem Hotelpersonal zu besprechen hätte, aber irgendwie möchte ich meine mühsam erarbeiteten bescheidenen Japanisch-Kenntnisse doch ab und zu auch mal benutzen. Und außerdem nervt es, wenn Japaner unbedingt meinen, Englisch sprechen zu müssen, selbst wenn man sie auf Japanisch anspricht (siehe gestern).

Nach einer halben Stunde ist es mir aber doch zu blöd im Hotel, und ich ziehe wieder los. Ich brauche einen Kaffe. Um die Ecke habe ich ein Schild gesehen, auf dem unter anderem Caffe steht. Es handelt sich anscheinend um ein italienisches Restaurant. Zuerst zögere ich, ob man da auch hingehen kann, um nur einen Kaffe zu bestellen, aber dann tue ich es einfach. Schließlich bin ich hier der Ausländer und kann das nicht wissen.

Auf der Karte kann ich keine Getränke entdecken, aber wenn das hier ein italienisches Restaurant sein soll, dann muss es doch hier einen Cappucino geben. Also bestelle ich beim diensteifrigen Kellner einen Cappucino, woraufhin dieser mir erklärt, dass es Getränke hier nur per Selbstbedienung gibt (serufu saabisu). Ich lasse mir zeigen wo und nehme mit einem normalen Kaffee vorlieb; Cappucino gibts natürlich nicht. Wie das in japanischen Restaurants so üblich ist, bringt er mir eine Rechnung an den Tisch auf der komischerweise nichts von Kaffe steht, sondern irgendwas anderes, was ich nicht lesen kann. Ich schreibe mit meinem Notebook weiter, und als ich mir meinen zweiten Kaffee hole, überlege ich noch, ob ich jetzt irgendwo Bescheid sagen muss. Beim dritten Kaffee interessiert sich immer noch niemand für mich. Als ich schließlich bezahle, sage ich der Kassiererin, dass ich drei Kaffee getrunken habe, aber sie bleibt bei den 231 Yen, die ursprünglich auf der Rechnung standen. nomihoudai desu – ach so, das neue Wort, das ich gleich am zweiten Tag von Hiko gelernt habe: Trinken, so viel man will. sou desu ka? ... ach so! Das merk ich mir; Kaffeetrinken, so viel man will für weniger als 2 Euro, das ist für Tokyo-Verhältnisse schon eher günstig, glaube ich.

Jetzt aber los, irgendwo hin. Mein Reiseführer hat nur einen sehr rudimentären Stadtplan mit Ausschnitten von Tokyo, aber man kann grüne Flächen immerhin schon von bebauten unterscheiden. Mir ist nach Ruhe, also gucke ich mir einen großen grünen Fleck aus, an dem ich noch nicht war, der nicht weiter beschriftet ist und von dem ich auch sonst keine Beschreibung finden kann. Das macht mich neugierig, ein großer grüner Fleck mitten in Tokyo, das ist bestimmt nett. Der Fleck liegt südlich von Yotsuya, also gehts erst einmal dorthin, mit der Chuou-Linie bin ich auch noch nie gefahren.

Als ich in Richtung des grünen Flecks laufe, wundere ich mich schon aus der Ferne: Bin ich jetzt plötzlich irgendwo in Paris gelandet Foto dazu? Sieht jedenfalls sehr europäisch aus, der Zaun und die Fassade. Beim Näherkommen bemerke ich, dass sich gerade eine feierliche Gesellschaft vor dem Tor zu versammeln beginnt und sehe dann auch schon von weitem das Hochzeitspaar kommen. Ich will es nicht so offensichtlich fotografieren und warte daher Paparazzi-like (schreibt man das so?) hinter einem Baum, bis es vorbeikommt Foto dazu. Die ganze Gesellschaft stellt sich ordentlich vor dem Tor auf, das Hochzeitspaar in der Mitte, und die Fotografen fotografieren Foto dazu. Dann noch schnell ein paar Extra-Fotos, als der Bräutigam seine Braut auf den Armen trägt Foto dazu, und wenige Minuten später löst sich die Gesellschaft auf und alle ziehen von dannen.

Das gibt mir Gelegenheit, den Palast in Ruhe durch die Gitterstäbe zu fotografieren Foto dazu. Wären die typisch japanisch geschnittenen Bäume nicht, könnte man glatt meinen, man wäre in Europa. Nur schade, dass man nicht hinein kann in diesen schönen Garten. Aber irgendein Teil dieser großen grünen Fläche auf meinem Stadtplan muss doch zugänglich sein. Also laufe ich nach links am Zaun entlang, der sich um die Ecke in eine unfreundliche, hohe, kahle Mauer verwandelt. Dann auf einmal ein Stück japanische Architektur, ein hölzernes Tor, aber abgesperrt und mit zwei unfreundlich guckenden Überwachungskameras bestückt Foto dazu.

Überhaupt ist das irgendwie eine komische Gegend hier. Links ein bisschen Wasser und Schnellstraßen auf Stelzen Foto dazu, rechts die Hochsicherheits-Mauern, und kaum ein Mensch unterwegs auf den Straßen, weder Autos noch Fußgänger. Hinter der Mauer stehen anscheinend Wohnhäuser, man hört sogar Kindergeschrei. Aber es ist alles abgesperrt, mit Zäunen und Überwachungskameras gesichert. Alle hundert Meter patrouilliert sogar ein Polizist.

Es sieht so aus, als wäre der ganze, ziemlich große grüne Bereich im Stadtplan meines Reiseführers für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Das hätten sie ja auch mal dranschreiben können. Als ich halb rum bin, fasse ich mir ein Herz und frage einen Polizisten, was denn das hier ist. Die Antwort verstehe ich (natürlich) nicht auf Anhieb, aber ich drücke ihm mein denshijisho in die Hand und er tippt ein: douguu, ah, der Kronprinz, also der Palast des Kronprinzen. Warum steht sowas nicht in meinem Reiseführer? Wahrscheinlich, weil es halt für Besucher wirklich nichts zu sehen gibt. Trotzdem hätte man ja mal was in die grüne Fläche reinschreiben können; ich muss mich beim Verlag beschweren ;-).

Nachdem ich das Palastgelände fast komplett umrundet habe, wende ich mich in die andere Richtung. Dort sieht es auf meinem Stadtplan auch ein bischen grün aus; es scheint sich aber um ein Fußball- oder Baseball-Stadion zu handeln, und irgendwas ist da los, jedenfalls bewegt sich ein zwar nicht übermäßig großer, aber doch anhaltender Strom von Menschen auf das Gelände. In einer Ecke sehe ich aus der Ferne weiße Zelte; was mag das wohl sein Foto dazu?

Sieh an, das Tokyo Oktoberfest 2005, mit deutschen Autos vor dem Eingang Foto dazu, deutschen Nussknackern Foto dazu, deutschem Kaffee Foto dazu ... und natürlich mit der Maus Foto dazu. Das große Zelt ist ein Bierzelt, in dem die Japaner sehr gesittet ihre Bratwurst verzehren und ein deutsches Bier genießen Foto dazu – der halbe Liter Erdinger Weißbier für umgerechnet 7,50 Euro Foto dazu. Der Preis schreckt die Japaner aber nicht: Während an dem Stand mit dem deutschen Bier immer eine Schlange steht, herrscht beim japanischen Bier, das die Hälfte kostet, gähnende Leere Foto dazu. Na logisch, wenn schon mal Oktoberfest ist in Tokyo, dann trinkt man auch deutsches Bier.

Um 17:15 Uhr beginnt der nächste Teil des Unterhaltungsprogramms: ein Quiz, wie ich vorher schon auf einer Tafel gelesen habe. Eine Japanerin im Dirndl macht Stimmung im Bierzelt und stellt dann die schwierige Frage, wie denn die Währung in Deutschland hieß, bevor der Euro kam: furanku, paundo oder maaku? Scheint nicht schwierig zu sein für die Japaner, denn bei maaku jubeln sie alle und strecken die Hände in die Höhe.

Und jetzt kommt etwas, das ich erst kapiere, als es sich wiederholt. Um den Gewinner zu ermitteln, spielen sie janken, bei uns auch bekannt als Papier-Stein-Schere. Und zwar alle gegen die Quizmasterin: Zuerst dürfen alle mitmachen, die die Antwort richtig hatten Foto dazu Foto dazu. Wer verliert, scheidet aus, und so sind es in der zweiten Runde schon weniger Foto dazu, in der dritten Runde nur noch eine Handvoll Foto dazu und beim vierten Mal bleibt, welch Zufall, genau ein Sieger übrig. Der bekommt dann die Überraschungstüte mit Spezialitäten aus Deutschland überreicht Foto dazu Foto dazu. Hossa, da kommt Stimmung auf im Festzelt!

Nachdem ich jetzt eine Dreiviertelstunde mit mir gehadert habe, ob ich oder ob ich doch lieber nicht ..., kaufe ich mir doch ein Erdinger. Es muss einfach sein. Meine Frage an die freundliche Dame hinter dem Zapfhahn, ob es denn für Deutsche einen Preisnachlass gibt, wird freundlich ignoriert. So genieße ich dann an einem Biertisch zwischen lauter Japanern auf dem Tokyoter Oktoberfest das teuerste Erdinger, das ich bisher getrunken habe und freue mich schon ein bisschen darauf, mir nach meiner Rückkehr am Donnerstag für 1,10 Euro wieder eines am Kiosk ziehen zu können. Telefonieren ist auch im Bierzelt unschicklich, daher tut man es hinter vorgehaltener Hand Foto dazu. Ich glaube, das habe ich letztes Jahr schon geschrieben; für meine Begriffe ist es auf diese Weise auffälliger als wenn man es ganz normal einfach täte.

Ich frage den neben mir einzeln sitzenden Japaner "doitsu no biiru ha oishii desu ka?" [Schmeckt Ihnen das deutsche Bier?] "hai, oishii desu.". [Ja, es schmeckt mir.] "demo takai desu ne." [Aber, es ist teuer, nicht wahr?] "takasugimasu ne." [Ja, es ist zu teuer.]. So weit meine Bierzelt-Unterhaltung auf Japanisch; mehr fällt weder mir noch ihm ein. Aber ich sehe, wie es in ihm arbeitet, und ahne schon, was jetzt kommt: Er hat versehentlich ganz normal auf Japanisch geantwortet, aber jetzt dämmert ihm, dass ich ja ein Ausländer bin. Auf Jenglisch fängt er an, mir zu erklären: "You know Edelweiß Kapelle? At six fifteen ..." "hai, shitteimasu" [Ja, ich weiß.] Die Androhung, dass es ab 18:15 ederubaisu kapere gibt, hatte ich auf dem Schild schon gesehen, vorher will ich mich unbedingt aus dem Staub machen. Den Alkoholpegel zu erreichen, bei dem mir von japanischen Musikern vorgetragene deutsche Volksmusik Spaß macht, würde in diesem Bierzelt ein Vermögen kosten ;-).

Da habe ich heute also doch wieder was erlebt, obwohl es ein ganz ruhiger Tag werden sollte. Man braucht einfach nur loszuziehen und sich treiben zu lassen in Japan; irgendwas Lustiges passiert früher oder später immer. Zum Abendessen gibt es Sushi in einer finsteren, kleinen Sushi-Bar in einer unterirdischen Passage in der Nähe meines Hotels, wo man ganz offensichtlich zwar überrascht ist, einen verirrten Ausländer zu sehen, aber kein Englisch spricht. Lesen kann ich hier zwar nichts Foto dazu, aber im Schaufenster stehen Plastik-Sushi und Fotos, an Hand derer ich meine Auswahl treffe Foto dazu.

 

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©2005 by Harald Bögeholz