Nach den vielen Eindrücken von gestern bin ich heute
eigentlich eher auf Ruhe aus. Nachdem ich gefrühstückt und
auf meiner Mauer nutzlos im Internet rumgesurft habe, ziehe ich mich
daher gegen 13 Uhr noch einmal in mein Hotelzimmer zurück, um ein
wenig zu schreiben. Irgendwo muss der ganze Text ja herkommen ;-).
Ich glaube, ich habe es noch nicht ins Tagebuch geschrieben, aber
als ich vorgestern mal kurz nach dem Weggehen zurückgekommen bin,
weil ich nach dem kalten Milchkaffee plötzlich dringend auf die
Toilette musste, da waren sie in heller Aufregung und wollten mich gar
nicht recht ins Zimmer lassen. Hektisch verschwand die Portöse
hinter den Kulissen und telefonierte, während es mir immer
dringender wurde. Dann kam mir die rettende Idee, einfach im
Erdgeschoss auf die allgemeine Toilette zu gehen, und sichtlich
erleichtert rief sie noch einmal oben an und gab Entwarnung, dass der
Gast nun doch nicht kommt. Gestern kam ich schon fünf Minuten
nach dem Weggehen zurück, weil mir eingefallen ist, dass ich was
vergessen hatte. Da war die Aufregung nicht ganz so groß, als
ich sagte, dass ich nur kurz etwas holen will, aber es wurde auch
sofort nach oben telefoniert, dass der Gast jetzt kurz kommt, um etwas
Vergessenes zu holen (ich drücke das so komisch aus, weil die
Durchsage auf Japanisch so lautete; es gibt das nette Wort
wasuremono – vergessener Gegenstand oder so).
Heute habe ich ihnen lange genug Zeit gelassen zum Putzen
anscheinend, und ich bekomme bereitwillig meinen Schlüssel. Aber
als ich gerade den Aufzug betrete, höre ich eine
Lautsprecherdurchsage – und ich nehme an, die ist hotelweit zu
hören –, dass 703 jetzt zurückkehrt. Der Aufzug
hält auch prompt im fünten Stock und die Putzfrau steigt zu,
um mir zu erklären, dass sie mit dem Saubermachen fertig sei,
aber die Tür zu meinem Zimmer noch offen stehe (aiteimasu,
schon im Sprachkurs dieses Frühjahr ist mir diese Form unerwartet
schwergefallen, und ich verstehe es erst beim zweiten Mal). Sie kommt
mit, vergewissert sich, dass auch wirklich alles in Ordnung ist,
schließt für mich noch die Badezimmertür und ich darf
mein Zimmer benutzen. Sehr japanisch irgendwie. Was ich an diesem
Hotel schätze, ist, dass man kein Englisch spricht. Es gibt zwar
nur sehr wenig, was ich mit dem Hotelpersonal zu besprechen
hätte, aber irgendwie möchte ich meine mühsam
erarbeiteten bescheidenen Japanisch-Kenntnisse doch ab und zu auch mal
benutzen. Und außerdem nervt es, wenn Japaner unbedingt meinen,
Englisch sprechen zu müssen, selbst wenn man sie auf Japanisch
anspricht (siehe gestern).
Nach einer halben Stunde ist es mir aber doch zu blöd im
Hotel, und ich ziehe wieder los. Ich brauche einen Kaffe. Um die Ecke
habe ich ein Schild gesehen, auf dem unter anderem Caffe steht. Es
handelt sich anscheinend um ein italienisches Restaurant. Zuerst
zögere ich, ob man da auch hingehen kann, um nur einen Kaffe zu
bestellen, aber dann tue ich es einfach. Schließlich bin ich
hier der Ausländer und kann das nicht wissen.
Auf der Karte kann ich keine Getränke entdecken, aber wenn das
hier ein italienisches Restaurant sein soll, dann muss es doch hier
einen Cappucino geben. Also bestelle ich beim diensteifrigen Kellner
einen Cappucino, woraufhin dieser mir erklärt, dass es
Getränke hier nur per Selbstbedienung gibt (serufu
saabisu). Ich lasse mir zeigen wo und nehme mit einem normalen
Kaffee vorlieb; Cappucino gibts natürlich nicht. Wie das in
japanischen Restaurants so üblich ist, bringt er mir eine
Rechnung an den Tisch auf der komischerweise nichts von Kaffe steht,
sondern irgendwas anderes, was ich nicht lesen kann. Ich schreibe mit
meinem Notebook weiter, und als ich mir meinen zweiten Kaffee hole,
überlege ich noch, ob ich jetzt irgendwo Bescheid sagen muss.
Beim dritten Kaffee interessiert sich immer noch niemand für
mich. Als ich schließlich bezahle, sage ich der Kassiererin,
dass ich drei Kaffee getrunken habe, aber sie bleibt bei den 231 Yen,
die ursprünglich auf der Rechnung standen. nomihoudai desu
– ach so, das neue Wort, das ich gleich am zweiten Tag von Hiko
gelernt habe: Trinken, so viel man will. sou desu ka? ... ach
so! Das merk ich mir; Kaffeetrinken, so viel man will für weniger
als 2 Euro, das ist für Tokyo-Verhältnisse schon eher
günstig, glaube ich.
Jetzt aber los, irgendwo hin. Mein Reiseführer hat nur einen
sehr rudimentären Stadtplan mit Ausschnitten von Tokyo, aber man
kann grüne Flächen immerhin schon von bebauten
unterscheiden. Mir ist nach Ruhe, also gucke ich mir einen
großen grünen Fleck aus, an dem ich noch nicht war, der
nicht weiter beschriftet ist und von dem ich auch sonst keine
Beschreibung finden kann. Das macht mich neugierig, ein großer
grüner Fleck mitten in Tokyo, das ist bestimmt nett. Der Fleck
liegt südlich von Yotsuya, also gehts erst einmal dorthin, mit
der Chuou-Linie bin ich auch noch nie gefahren.
Als ich in Richtung des grünen Flecks laufe, wundere ich mich
schon aus der Ferne: Bin ich jetzt plötzlich irgendwo in Paris
gelandet ? Sieht jedenfalls sehr
europäisch aus, der Zaun und die Fassade. Beim Näherkommen
bemerke ich, dass sich gerade eine feierliche Gesellschaft vor dem Tor
zu versammeln beginnt und sehe dann auch schon von weitem das
Hochzeitspaar kommen. Ich will es nicht so offensichtlich
fotografieren und warte daher Paparazzi-like (schreibt man das so?)
hinter einem Baum, bis es vorbeikommt . Die ganze Gesellschaft
stellt sich ordentlich vor dem Tor auf, das Hochzeitspaar in der
Mitte, und die Fotografen fotografieren . Dann noch schnell ein
paar Extra-Fotos, als der Bräutigam seine Braut auf den Armen
trägt , und wenige Minuten
später löst sich die Gesellschaft auf und alle ziehen von
dannen.
Das gibt mir Gelegenheit, den Palast in Ruhe durch die
Gitterstäbe zu fotografieren . Wären die typisch
japanisch geschnittenen Bäume nicht, könnte man glatt
meinen, man wäre in Europa. Nur schade, dass man nicht hinein
kann in diesen schönen Garten. Aber irgendein Teil dieser
großen grünen Fläche auf meinem Stadtplan muss doch
zugänglich sein. Also laufe ich nach links am Zaun entlang, der
sich um die Ecke in eine unfreundliche, hohe, kahle Mauer verwandelt.
Dann auf einmal ein Stück japanische Architektur, ein
hölzernes Tor, aber abgesperrt und mit zwei unfreundlich
guckenden Überwachungskameras bestückt .
Überhaupt ist das irgendwie eine komische Gegend hier. Links
ein bisschen Wasser und Schnellstraßen auf Stelzen , rechts die
Hochsicherheits-Mauern, und kaum ein Mensch unterwegs auf den
Straßen, weder Autos noch Fußgänger. Hinter der Mauer
stehen anscheinend Wohnhäuser, man hört sogar
Kindergeschrei. Aber es ist alles abgesperrt, mit Zäunen und
Überwachungskameras gesichert. Alle hundert Meter patrouilliert
sogar ein Polizist.
Es sieht so aus, als wäre der ganze, ziemlich große
grüne Bereich im Stadtplan meines Reiseführers für die
Öffentlichkeit nicht zugänglich. Das hätten sie ja auch
mal dranschreiben können. Als ich halb rum bin, fasse ich mir ein
Herz und frage einen Polizisten, was denn das hier ist. Die Antwort
verstehe ich (natürlich) nicht auf Anhieb, aber ich drücke
ihm mein denshijisho in die Hand und er tippt ein:
douguu, ah, der Kronprinz, also der Palast des Kronprinzen.
Warum steht sowas nicht in meinem Reiseführer? Wahrscheinlich,
weil es halt für Besucher wirklich nichts zu sehen gibt. Trotzdem
hätte man ja mal was in die grüne Fläche reinschreiben
können; ich muss mich beim Verlag beschweren ;-).
Nachdem ich das Palastgelände fast komplett umrundet habe,
wende ich mich in die andere Richtung. Dort sieht es auf meinem
Stadtplan auch ein bischen grün aus; es scheint sich aber um ein
Fußball- oder Baseball-Stadion zu handeln, und irgendwas ist da
los, jedenfalls bewegt sich ein zwar nicht übermäßig
großer, aber doch anhaltender Strom von Menschen auf das
Gelände. In einer Ecke sehe ich aus der Ferne weiße Zelte;
was mag das wohl sein ?
Sieh an, das Tokyo Oktoberfest 2005, mit deutschen Autos vor dem
Eingang , deutschen
Nussknackern , deutschem Kaffee ... und natürlich mit
der Maus . Das große Zelt ist
ein Bierzelt, in dem die Japaner sehr gesittet ihre Bratwurst
verzehren und ein deutsches Bier genießen – der halbe Liter
Erdinger Weißbier für umgerechnet 7,50 Euro . Der Preis schreckt die
Japaner aber nicht: Während an dem Stand mit dem deutschen Bier
immer eine Schlange steht, herrscht beim japanischen Bier, das die
Hälfte kostet, gähnende Leere . Na logisch, wenn schon
mal Oktoberfest ist in Tokyo, dann trinkt man auch deutsches Bier.
Um 17:15 Uhr beginnt der nächste Teil des
Unterhaltungsprogramms: ein Quiz, wie ich vorher schon auf einer Tafel
gelesen habe. Eine Japanerin im Dirndl macht Stimmung im Bierzelt und
stellt dann die schwierige Frage, wie denn die Währung in
Deutschland hieß, bevor der Euro kam: furanku,
paundo oder maaku? Scheint nicht schwierig zu sein
für die Japaner, denn bei maaku jubeln sie alle und
strecken die Hände in die Höhe.
Und jetzt kommt etwas, das ich erst kapiere, als es sich
wiederholt. Um den Gewinner zu ermitteln, spielen sie janken,
bei uns auch bekannt als Papier-Stein-Schere. Und zwar alle gegen die
Quizmasterin: Zuerst dürfen alle mitmachen, die die Antwort
richtig hatten . Wer verliert, scheidet
aus, und so sind es in der zweiten Runde schon weniger , in der dritten Runde nur
noch eine Handvoll und beim vierten Mal
bleibt, welch Zufall, genau ein Sieger übrig. Der bekommt dann
die Überraschungstüte mit Spezialitäten aus Deutschland
überreicht . Hossa, da kommt Stimmung
auf im Festzelt!
Nachdem ich jetzt eine Dreiviertelstunde mit mir gehadert habe, ob
ich oder ob ich doch lieber nicht ..., kaufe ich mir doch ein
Erdinger. Es muss einfach sein. Meine Frage an die freundliche Dame
hinter dem Zapfhahn, ob es denn für Deutsche einen Preisnachlass
gibt, wird freundlich ignoriert. So genieße ich dann an einem
Biertisch zwischen lauter Japanern auf dem Tokyoter Oktoberfest das
teuerste Erdinger, das ich bisher getrunken habe und freue mich schon
ein bisschen darauf, mir nach meiner Rückkehr am Donnerstag
für 1,10 Euro wieder eines am Kiosk ziehen zu können.
Telefonieren ist auch im Bierzelt unschicklich, daher tut man es
hinter vorgehaltener Hand . Ich glaube, das habe ich
letztes Jahr schon geschrieben; für meine Begriffe ist es auf
diese Weise auffälliger als wenn man es ganz normal einfach
täte.
Ich frage den neben mir einzeln sitzenden Japaner "doitsu no
biiru ha oishii desu ka?" [Schmeckt Ihnen das deutsche Bier?]
"hai, oishii desu.". [Ja, es schmeckt mir.] "demo takai desu
ne." [Aber, es ist teuer, nicht wahr?] "takasugimasu ne."
[Ja, es ist zu teuer.]. So weit meine Bierzelt-Unterhaltung auf
Japanisch; mehr fällt weder mir noch ihm ein. Aber ich sehe, wie
es in ihm arbeitet, und ahne schon, was jetzt kommt: Er hat
versehentlich ganz normal auf Japanisch geantwortet, aber jetzt
dämmert ihm, dass ich ja ein Ausländer bin. Auf Jenglisch
fängt er an, mir zu erklären: "You know Edelweiß
Kapelle? At six fifteen ..." "hai, shitteimasu" [Ja, ich
weiß.] Die Androhung, dass es ab 18:15 ederubaisu kapere
gibt, hatte ich auf dem Schild schon gesehen, vorher will ich mich
unbedingt aus dem Staub machen. Den Alkoholpegel zu erreichen, bei dem
mir von japanischen Musikern vorgetragene deutsche Volksmusik
Spaß macht, würde in diesem Bierzelt ein Vermögen
kosten ;-).
Da habe ich heute also doch wieder was erlebt, obwohl es ein ganz
ruhiger Tag werden sollte. Man braucht einfach nur loszuziehen und
sich treiben zu lassen in Japan; irgendwas Lustiges passiert
früher oder später immer. Zum Abendessen gibt es Sushi in
einer finsteren, kleinen Sushi-Bar in einer unterirdischen Passage in
der Nähe meines Hotels, wo man ganz offensichtlich zwar
überrascht ist, einen verirrten Ausländer zu sehen, aber
kein Englisch spricht. Lesen kann ich hier zwar nichts , aber im Schaufenster
stehen Plastik-Sushi und Fotos, an Hand derer ich meine Auswahl
treffe .
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