Heute will ich Pamela an der Uni besuchen, mir mal anschauen,
wie eine japanische Uni so aussieht und mir erzählen lassen, wie
es sich da so arbeitet. Ich weiß gerade nicht, ob ich es schon
geschrieben habe: Ich habe Pamela im April in Okazaki kennengelernt,
wo sie noch schnell einen Sprachkurs gemacht hat, bevor sie ab Mai an
der Uni Tokyo (toukyou daigaku, kurz toudai) mit einem
Postdoc-Jahr angefangen hat.
Der Campus liegt in Kashiwa, also ein ganzes Stück
außerhalb von Tokyo – ich war Freitag auf dem Weg zu
Pamela schon dort. Diesmal hat mir Pamela empfohlen, einen Bus zu
nehmen, der vom Tokyo-Bahnhof quasi direkt bis vor die Tür des
Campus fährt. Er fährt nicht besonders oft, braucht aber nur
50 Minuten, und ich will den um 14.10 nehmen. Da habe ich noch massig
Zeit, nach dem Frühstück zu schreiben und am Internet
rumzutrödeln, bevor ich mich auf den Weg mache.
Von Shinjuku aus nehme ich die Yamanote-Linie, weil es mir so
aussieht, als führe die Chuo-Linie nicht direkt nach Tokyo.
Stimmt aber nicht, ich habe den Plan nur falsch gelesen und hätte
vermutlich schneller dort sein können. Die Yamanote-Linie
umrundet das Zentrum von Tokyo und braucht eine halbe Stunde von
Shinjuku bis Tokyo; die Chuo-Linie fährt dagegen durch diesen
Kreis mittendurch. Aber egal, durch das häufige Fahren mit der
Yamanote-Linie hat sich mir jetzt immerhin ein weiteres Stückchen
der ständigen Lautsprecherdurchsage erschlossen:
uchimawari bedeutet wörtlich auf dem inneren Gleis und
meint, da in Japan Linksverkehr ist, linksrum um die Stadt, also gegen
den Uhrzeigersinn. Die andere Richtung heißt sotomawari,
auf dem äußeren Gleis. Und die Kanji kenn ich auch
schon.
Durch die Trödelei und die ungeschickte Wahl der U-Bahn-Linie
ist es tatsächlich schon 14 Uhr, als ich am Bahnhof Tokyo bin.
Das wäre locker genug Zeit, wenn man eine Ahnung hätte, in
welchen Bus man steigen muss. So stehe ich ziemlich ratlos zwischen
verschiedenen Bus-Haltestellen, an denen alles nur mit Kanji
beschriftet ist. Zu allem Überfluss habe ich die Beschreibung,
also Endhaltestelle und wo ich aussteigen soll, vergessen, und muss
erst mein Notebook booten, um in Pamelas E-Mail nachzuschauen. Das
hätt ich mir natürlich auch mal auf einen Zettel schreiben
können vorher.
Pamela hat die Wegbeschreibung offensichtlich von der englischen
Website des Instituts kopiert. Ich soll in einen Bus mit Ziel
Edogawadai steigen und am National Cancer Center aussteigen. Ratlos
irre ich zwischen den Bussen umher und überlege, wie Edogawadai
wohl in Kanji aussieht. In der Retrospektive hätte ich erraten
können, dass das dritte Kanji wohl das für Fluss ist, das
ich schon kenne (gawa), aber schließlich komme ich auf
die rettende Idee, mich an den auf Displays an den Haltestellen
angezeigten Abfahrtszeiten zu orientieren. Und es gibt nur zwei Busse,
die zur richtigen Zeit abfahren (14:10 Uhr), und nur einer davon
gehört der richtigen Firma (Tobu). Und als ich den Fahrer frage,
ob er nach Edogawadai fährt, bejaht er.
Gut, dann möchte ich jetzt eine Fahrkarte zum National Cancer
Center lösen. National Cancer Center? Der Fahrer schaut mich
ratlos an, das sagt ihm gar nichts. Er kann kein Englisch. Auch
mehrfache Wiederholung hilft nichts. Zum Gück steht ein Japaner
im Bus auf, der Englisch spricht und übersetzen kann:
kokuritsu gan sentaa. Was solche Kleinigkeiten doch für
Unterschiede machen. Hätte ich gewusst, wie es auf Japanisch
heißt, dann hätte ich es auch gleich so aussprechen
können und der Busfahrer hätte mich verstanden. Aber in dem
Bemühen, die Wegbeschreibung für den Ausländer ins
Englische zu übersetzen, nimmt man ihm genau die
Möglichkeit, sich mit den Japanern über das Ziel zu
verständigen. Ein Tipp für die Gestalter von
Wegbeschreibungen in Japan: Gerne die englischen Übersetzungen
mit angeben, aber unbedingt alle Ortsbezeichnungen auch in Kanji und
dann mit der Aussprache dahinter, das würde viel helfen.
Mein Begleiter will auch zur Uni und will mich noch zu meinem
Gebäude begleiten, wo ich denn hin will? Zur
Festkörperphysik? Zur kosmischen Strahlung? Nein, irgendwas mit
Transdisciplinary sciences, und es soll laut Wegbeschreibung KIBAN
dranstehen. Ja, er ahnt, wo das ist. Der Campus ist ein wahrer Traum
in Beton, und wir gehen gemeinsam die lange Reiher dieser Riesenbunker
entlang (Fotos erst auf dem
Rückweg, daher schon in der Abenddämmerung).
Auf dem Schild vor Pamelas Gebäude steht wie angekündigt
KIBAN, wie mein Begleiter schon von weitem sieht. Nicht, dass ich das
lesen könnte, denn es steht natürlich in Kanji dran. Laut
meinem Begleiter handelt sich um das vierte und fünfte von
insgesamt sechs Kanji (基盤 ). Wirklich sehr
nützlich für Ausländer, diese Wegbeschreibung. Wenn man
Japanisch kann, dann findet man das Gebäude auch anhand der
englischen Beschreibung.
Das ist sie also, die berühmte toudai. Irgendwie sieht
es in diesem Gebäude genauso trostlos aus wie seinerzeit an der
Uni Stuttgart. Fast noch trostloser. Aber man merkt sofort, dass man
in Japan ist, denn vor jeder Tür stehen Schuhe; anscheinend zieht
man hier vor dem Betreten eines Büros oder Labors die Schuhe
aus .
Pamela kocht uns erst einmal einen Espresso und wir plaudern ein
bisschen, bevor sie mich ein bisschen herumführt. In den
Gängen hängen Plakate, die die einzelnen Projekte
vorstellen, an denen hier gearbeitet wird, zum Beispiel ein Gadget mit
Beschleunigungssensoren, mit dessen Hilfe man einander Dateien von PDA
zu PDA zuwerfen kann . Dass das hier eine
internationale Universität ist, an der auch etliche Nicht-Japaner
forschen, merkt man den Plakaten allerdings nicht an. Alles nur in
Japanisch. Warum manchmal die Überschriften in Englisch sind,
bleibt mir ein Rätsel .
Pamela zeigt mir ein Labor, in dem ihre Kollegen basteln –
kreatives Chaos . Darin auch ein Sofa und
ein Klappbett ... Pamela erklärt mir, dass die Jungs hier
manchmal auch schlafen. Statt jeden Tag hier aufzuschlagen, kommen sie
lieber ab und zu mal für zwei, drei Tage rund um die Uhr und
übernachten dann hier in ihrem Labor. Wie man auch in Pamelas
Großraumbüro sieht, ist es unter den Studenten nicht
sonderlich beliebt, sich jeden Tag auf dem Campus aufzuhalten:
Außer ihr ist niemand da heute . Es ist ja auch Montag,
kein sonderlich beliebter Tag, um an der Uni zu arbeiten. Donnerstags
ist immer Abteilungsmeeting, da sind sie alle da. Aber
Montag ...
In einem Gang auf der anderen Seite hängen Plakate, die die
Mitarbeiter vorstellen . Und siehe da: Da ist auch
das von Yasumasa Kanada, dem Pi-Berechner, den ich eventuell vor hatte
zu besuchen . Leider hat er nicht
rechtzeitig auf die Mail von Andreas geantwortet, und wo sein
Büro ist, weiß Pamela auch nicht. Ist ja auch nicht so
wichtig; ich habe jetzt eh keine Festplatte mitgenommen. Vielleicht
hole ich mir nächstes Jahr ein paar hundert Gigabyte Pi ab.
Zurück an Pamelas Rechner sehe ich, dass Hiko mittlerweile
wach ist, und wir beratschlagen per Chat, was wir heute Abend
unternehmen. Um 19 Uhr wollen wir uns in Shinjuku treffen und lecker
essen gehen, ich freue mich. 17.20 fährt der Bus, das kommt genau
hin. Ein Stündchen bis Ueno, dann noch mit der Yamanote ein
halbes Stündchen bis Shinjuku, ja, 19 Uhr ist gut.
An der Bushaltestelle finde ich den richtigen Bus diesmal besser,
weil ich sowohl kashiwaekinishiguchi lesen und als das falsche
Ziel identifizieren kann
(柏駅西口) als auch die Zeichen für Tokyo
und Ueno mittlerweile kenne. Nur noch wenige Jahre, und ich kann Kanji
lesen :-).
Auf meinen Wunsch hin, weil mir das an unserem ersten gemeinsamen
Abend so gut geschmeckt hat, gibt es heute noch einmal
shabushabu, und zwar tabenomihoudai, zum Pauschalpreis
so viel essen und trinken, wie wir wollen. Allerdings mit Zeitlimit:
Nach genau 90 Minuten bringt man uns die Rechnung und wirft uns mehr
oder weniger raus. Nicht, dass 90 Minuten nicht genug Zeit wären
zum Essen, aber irgendwie schafft so ein Zeitlimit eine gewisse
Hektik, ich weiß auch nicht. Wir haben viel zu schnell gegessen
– und viel zu viel. Ich glaube, ich würde dick und rund
werden, wenn ich noch lange so weiter machen würde. Leider sind
es nur noch ein paar Tage ...
Wir sind so vollgefressen, dass wir uns kaum rühren
können. Daher machen wir erst einmal einen kleinen Spaziergang.
Aber wohin? Wir landen wieder im Park in Shinjuku, wo wir uns ein
Weilchen auf die Wiese legen und noch ein bisschen Dosenbier zu uns
nehmen. Als ein leichter Nieselregen einsetzt, machen wir uns auf den
Heimweg.
Wenn man genau hinschaut, sieht man in Tokyo eine Menge Obdachlose.
Hiko erklärt mir, dass sie hier aber keine Drogen nehmen und
eigentlich sehr gebildet und sehr rücksichtsvoll sind. Ich bin
mir nicht ganz sicher, in welcher Ecke des Parks wir gerade sind, aber
als ich bei Tage hier durchgelaufen bin, sind mir keine Zelte
aufgefallen. aber jetzt sehe ich die Zeltsiedlung im Gebüsch umso
deutlicher und überwinde mich, doch mal ein Foto zu machen
– schwierig so ganz ohne Licht und ohne Blitz . Ich glaube, Obdachlose in
Tokyo wären ein sehr interessantes Reportagethema ... da das so
offensichtlich ist, hat es bestimmt schon jemand gemacht.
Meine Beine sind eigentlich schon ziemlich müde von all der
Lauferei in den letzten Tagen, aber Hiko überredet mich, dass wir
nach Hause laufen. Ich bekomme also nicht nur viel zu essen und zu
trinken in seiner Gesellschaft, sondern auch Bewegung.
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