03.10., Zu Besuch an der toudai (Uni Tokyo)

Heute will ich Pamela an der Uni besuchen, mir mal anschauen, wie eine japanische Uni so aussieht und mir erzählen lassen, wie es sich da so arbeitet. Ich weiß gerade nicht, ob ich es schon geschrieben habe: Ich habe Pamela im April in Okazaki kennengelernt, wo sie noch schnell einen Sprachkurs gemacht hat, bevor sie ab Mai an der Uni Tokyo (toukyou daigaku, kurz toudai) mit einem Postdoc-Jahr angefangen hat.

Der Campus liegt in Kashiwa, also ein ganzes Stück außerhalb von Tokyo – ich war Freitag auf dem Weg zu Pamela schon dort. Diesmal hat mir Pamela empfohlen, einen Bus zu nehmen, der vom Tokyo-Bahnhof quasi direkt bis vor die Tür des Campus fährt. Er fährt nicht besonders oft, braucht aber nur 50 Minuten, und ich will den um 14.10 nehmen. Da habe ich noch massig Zeit, nach dem Frühstück zu schreiben und am Internet rumzutrödeln, bevor ich mich auf den Weg mache.

Von Shinjuku aus nehme ich die Yamanote-Linie, weil es mir so aussieht, als führe die Chuo-Linie nicht direkt nach Tokyo. Stimmt aber nicht, ich habe den Plan nur falsch gelesen und hätte vermutlich schneller dort sein können. Die Yamanote-Linie umrundet das Zentrum von Tokyo und braucht eine halbe Stunde von Shinjuku bis Tokyo; die Chuo-Linie fährt dagegen durch diesen Kreis mittendurch. Aber egal, durch das häufige Fahren mit der Yamanote-Linie hat sich mir jetzt immerhin ein weiteres Stückchen der ständigen Lautsprecherdurchsage erschlossen: uchimawari bedeutet wörtlich auf dem inneren Gleis und meint, da in Japan Linksverkehr ist, linksrum um die Stadt, also gegen den Uhrzeigersinn. Die andere Richtung heißt sotomawari, auf dem äußeren Gleis. Und die Kanji kenn ich auch schon.

Durch die Trödelei und die ungeschickte Wahl der U-Bahn-Linie ist es tatsächlich schon 14 Uhr, als ich am Bahnhof Tokyo bin. Das wäre locker genug Zeit, wenn man eine Ahnung hätte, in welchen Bus man steigen muss. So stehe ich ziemlich ratlos zwischen verschiedenen Bus-Haltestellen, an denen alles nur mit Kanji beschriftet ist. Zu allem Überfluss habe ich die Beschreibung, also Endhaltestelle und wo ich aussteigen soll, vergessen, und muss erst mein Notebook booten, um in Pamelas E-Mail nachzuschauen. Das hätt ich mir natürlich auch mal auf einen Zettel schreiben können vorher.

Pamela hat die Wegbeschreibung offensichtlich von der englischen Website des Instituts kopiert. Ich soll in einen Bus mit Ziel Edogawadai steigen und am National Cancer Center aussteigen. Ratlos irre ich zwischen den Bussen umher und überlege, wie Edogawadai wohl in Kanji aussieht. In der Retrospektive hätte ich erraten können, dass das dritte Kanji wohl das für Fluss ist, das ich schon kenne (gawa), aber schließlich komme ich auf die rettende Idee, mich an den auf Displays an den Haltestellen angezeigten Abfahrtszeiten zu orientieren. Und es gibt nur zwei Busse, die zur richtigen Zeit abfahren (14:10 Uhr), und nur einer davon gehört der richtigen Firma (Tobu). Und als ich den Fahrer frage, ob er nach Edogawadai fährt, bejaht er.

Gut, dann möchte ich jetzt eine Fahrkarte zum National Cancer Center lösen. National Cancer Center? Der Fahrer schaut mich ratlos an, das sagt ihm gar nichts. Er kann kein Englisch. Auch mehrfache Wiederholung hilft nichts. Zum Gück steht ein Japaner im Bus auf, der Englisch spricht und übersetzen kann: kokuritsu gan sentaa. Was solche Kleinigkeiten doch für Unterschiede machen. Hätte ich gewusst, wie es auf Japanisch heißt, dann hätte ich es auch gleich so aussprechen können und der Busfahrer hätte mich verstanden. Aber in dem Bemühen, die Wegbeschreibung für den Ausländer ins Englische zu übersetzen, nimmt man ihm genau die Möglichkeit, sich mit den Japanern über das Ziel zu verständigen. Ein Tipp für die Gestalter von Wegbeschreibungen in Japan: Gerne die englischen Übersetzungen mit angeben, aber unbedingt alle Ortsbezeichnungen auch in Kanji und dann mit der Aussprache dahinter, das würde viel helfen.

Mein Begleiter will auch zur Uni und will mich noch zu meinem Gebäude begleiten, wo ich denn hin will? Zur Festkörperphysik? Zur kosmischen Strahlung? Nein, irgendwas mit Transdisciplinary sciences, und es soll laut Wegbeschreibung KIBAN dranstehen. Ja, er ahnt, wo das ist. Der Campus ist ein wahrer Traum in Beton, und wir gehen gemeinsam die lange Reiher dieser Riesenbunker entlang Foto dazu (Fotos erst auf dem Rückweg, daher schon in der Abenddämmerung).

Auf dem Schild vor Pamelas Gebäude steht wie angekündigt KIBAN, wie mein Begleiter schon von weitem sieht. Nicht, dass ich das lesen könnte, denn es steht natürlich in Kanji dran. Laut meinem Begleiter handelt sich um das vierte und fünfte von insgesamt sechs Kanji (基盤 Foto dazu). Wirklich sehr nützlich für Ausländer, diese Wegbeschreibung. Wenn man Japanisch kann, dann findet man das Gebäude auch anhand der englischen Beschreibung.

Das ist sie also, die berühmte toudai. Irgendwie sieht es in diesem Gebäude genauso trostlos aus wie seinerzeit an der Uni Stuttgart. Fast noch trostloser. Aber man merkt sofort, dass man in Japan ist, denn vor jeder Tür stehen Schuhe; anscheinend zieht man hier vor dem Betreten eines Büros oder Labors die Schuhe aus Foto dazu.

Pamela kocht uns erst einmal einen Espresso Foto dazu und wir plaudern ein bisschen, bevor sie mich ein bisschen herumführt. In den Gängen hängen Plakate, die die einzelnen Projekte vorstellen, an denen hier gearbeitet wird, zum Beispiel ein Gadget mit Beschleunigungssensoren, mit dessen Hilfe man einander Dateien von PDA zu PDA zuwerfen kann Foto dazu. Dass das hier eine internationale Universität ist, an der auch etliche Nicht-Japaner forschen, merkt man den Plakaten allerdings nicht an. Alles nur in Japanisch. Warum manchmal die Überschriften in Englisch sind, bleibt mir ein Rätsel Foto dazu.

Pamela zeigt mir ein Labor, in dem ihre Kollegen basteln – kreatives Chaos Foto dazu. Darin auch ein Sofa und ein Klappbett ... Pamela erklärt mir, dass die Jungs hier manchmal auch schlafen. Statt jeden Tag hier aufzuschlagen, kommen sie lieber ab und zu mal für zwei, drei Tage rund um die Uhr und übernachten dann hier in ihrem Labor. Wie man auch in Pamelas Großraumbüro sieht, ist es unter den Studenten nicht sonderlich beliebt, sich jeden Tag auf dem Campus aufzuhalten: Außer ihr ist niemand da heute Foto dazu. Es ist ja auch Montag, kein sonderlich beliebter Tag, um an der Uni zu arbeiten. Donnerstags ist immer Abteilungsmeeting, da sind sie alle da. Aber Montag ...

In einem Gang auf der anderen Seite hängen Plakate, die die Mitarbeiter vorstellen Foto dazu. Und siehe da: Da ist auch das von Yasumasa Kanada, dem Pi-Berechner, den ich eventuell vor hatte zu besuchen Foto dazu. Leider hat er nicht rechtzeitig auf die Mail von Andreas geantwortet, und wo sein Büro ist, weiß Pamela auch nicht. Ist ja auch nicht so wichtig; ich habe jetzt eh keine Festplatte mitgenommen. Vielleicht hole ich mir nächstes Jahr ein paar hundert Gigabyte Pi ab.

Zurück an Pamelas Rechner sehe ich, dass Hiko mittlerweile wach ist, und wir beratschlagen per Chat, was wir heute Abend unternehmen. Um 19 Uhr wollen wir uns in Shinjuku treffen und lecker essen gehen, ich freue mich. 17.20 fährt der Bus, das kommt genau hin. Ein Stündchen bis Ueno, dann noch mit der Yamanote ein halbes Stündchen bis Shinjuku, ja, 19 Uhr ist gut.

An der Bushaltestelle finde ich den richtigen Bus diesmal besser, weil ich sowohl kashiwaekinishiguchi lesen und als das falsche Ziel identifizieren kann Foto dazu (柏駅西口) als auch die Zeichen für Tokyo und Ueno mittlerweile kenne. Nur noch wenige Jahre, und ich kann Kanji lesen :-).

Auf meinen Wunsch hin, weil mir das an unserem ersten gemeinsamen Abend so gut geschmeckt hat, gibt es heute noch einmal shabushabu, und zwar tabenomihoudai, zum Pauschalpreis so viel essen und trinken, wie wir wollen. Allerdings mit Zeitlimit: Nach genau 90 Minuten bringt man uns die Rechnung und wirft uns mehr oder weniger raus. Nicht, dass 90 Minuten nicht genug Zeit wären zum Essen, aber irgendwie schafft so ein Zeitlimit eine gewisse Hektik, ich weiß auch nicht. Wir haben viel zu schnell gegessen – und viel zu viel. Ich glaube, ich würde dick und rund werden, wenn ich noch lange so weiter machen würde. Leider sind es nur noch ein paar Tage ...

Wir sind so vollgefressen, dass wir uns kaum rühren können. Daher machen wir erst einmal einen kleinen Spaziergang. Aber wohin? Wir landen wieder im Park in Shinjuku, wo wir uns ein Weilchen auf die Wiese legen und noch ein bisschen Dosenbier zu uns nehmen. Als ein leichter Nieselregen einsetzt, machen wir uns auf den Heimweg.

Wenn man genau hinschaut, sieht man in Tokyo eine Menge Obdachlose. Hiko erklärt mir, dass sie hier aber keine Drogen nehmen und eigentlich sehr gebildet und sehr rücksichtsvoll sind. Ich bin mir nicht ganz sicher, in welcher Ecke des Parks wir gerade sind, aber als ich bei Tage hier durchgelaufen bin, sind mir keine Zelte aufgefallen. aber jetzt sehe ich die Zeltsiedlung im Gebüsch umso deutlicher und überwinde mich, doch mal ein Foto zu machen – schwierig so ganz ohne Licht und ohne Blitz Foto dazu. Ich glaube, Obdachlose in Tokyo wären ein sehr interessantes Reportagethema ... da das so offensichtlich ist, hat es bestimmt schon jemand gemacht.

Meine Beine sind eigentlich schon ziemlich müde von all der Lauferei in den letzten Tagen, aber Hiko überredet mich, dass wir nach Hause laufen. Ich bekomme also nicht nur viel zu essen und zu trinken in seiner Gesellschaft, sondern auch Bewegung.

 

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©2005 by Harald Bögeholz