Ich hatte meinen Wecker auf 8 Uhr gestellt, weil es von 7 bis 9
Frühstück gibt in diesem Hotel. Aber als er klingelt, mache
ich ihn eine halbe Stunde lang alle neun Minuten aus und
beschließe dann, dass es doch noch zu früh ist zum
Aufstehen. Die Zeitumstellung ...
Um kurz nach 10 klingelt das Telefon. hai hai, was gibt es
denn? Die Rezeption fragt höflich an, wann sie denn heute das
Zimmer sauber machen darf. Ich hatte wohlweiselich das Schildchen
"bitte nicht stören" an die Tür gehängt, daher durften
sie mich an der Tür nicht stören. Aber telefonisch scheint
was anderes zu sein. Ich sage, dass ich vorhabe, in einer halben
Stunde das Zimmer zu verlassen, und man entschuldigt sich vielmals und
legt auf. (In Wirklichkeit habe ich im Halbschlaf gesagt, dass ich
vor einer halben Stunde ausgehen möchte, wie mir nach dem
Auflegen bewusst wird. Aber das können Ausländer schon mal
verwechseln, man hat mich anscheinend trotzdem verstanden.)
Jetzt fühle ich mich richtig munter, die anderthalb Stunden
Schlaf-Nachschlag haben Wunder gewirkt. Ich ziehe los, kaufe mir im
Supermarkt nebenan ein paar Sandwiches, O-Saft, und einen kalten
Milchkaffee im Plastikbecher. Erst mal auf die Mauer. Schon gestern
Abend habe ich einen neuen Internet-Zugang ausgekundschaftet, gleich
um die Ecke vor einem großen Apartment-Haus . Ich nehme mal an, der
Besitzer des Netzes hat eine Flatrate, sonst hätte er sein WLAN
ja wohl nicht für die Allgemeinheit freigegeben ;-).
Nachdem ich schnell die obligatorischen Fotos von der Umgebung
meines Hotels geschossen habe , will ich von der
großen, lauten Straße weg, an der es liegt, und laufe durch
die kleinen Seitensträßchen. In unmittelbarer Nähe ist
eine Olympus-Niederlassung; das Bemerkenswerte daran ist ein kleiner
Schrein auf dem Dach – inklusive den
typischen geschwungenen Toren davor.
Die Straßen hier sind teilweise wirklich winzig ; gestern Abend war Hiko
aus Versehen am Hotel vorbeigefahren und musste durch diese
Sträßchen zurücknavigieren – mit einem VW Passat
durchaus ein Problem. Man kann von hier aus die Hochhäuser von
West-Shinjuku sehen , also beschließe
ich, erst einmal dorthin einen Spaziergang zu machen. Ich kenne es ja
bisher nur bei Nacht. Auf dem Weg schieße ich wieder mal ein
Foto zum alten Thema Elektroleitungen; diese oberirdische Verkabelung
ist wirklich erstaunlich für europäische Augen .
West-Shinjuku fühlt sich nicht ganz so an wie Chikago oder so,
aber das Gebäude der Stadtverwaltung und manche anderen
Hochhäuser sind doch ganz schön
schön hoch. In meinem Reiseführer steht, dass es im
Sumitomo-Gebäude eine Aussichtsplattform gibt. Also fahre ich mit
dem Lift in das höchste erreichbare Stockwerk (52), finde aber
nur zwei Restaurants, aber Hunger habe ich gerade nicht. Ansonsten
kann man durch die Fenster in den Innenhof sehen :-(. Das Gebäude
der Stadtverwaltung soll angeblich auch eine Aussichtsplattform haben,
aber egal, letztes Jahr war ich ja schon auf dem Tokyo Tower, da muss
das mit der Aussicht vielleicht gar nicht schon wieder sein.
Eigentlich hatte ich für den Rest des Tages Ginza ins Auge
gefasst. Aber vorhin habe ich mit Pamela telefoniert, der Schweizerin,
die ich im Frühjahr bei meinem Sprachkurs in Okazaki
kennengelernt habe und die jetzt ein Postdoc-Jahr an der
toudai, der Universität Tokyo macht. Sie hat mich zum
Abendessen eingeladen, und sie wohnt im Norden von Tokyo;
gemäß ihrer Wegbeschreibung muss ich in Ueno oder Nippori
umsteigen. Daher beschließe ich, nicht nach Ginza zu fahren, das
in der entgegengesetzten Richtung liegt, sondern nach Ueno.
Ueno kenne ich zwar schon ein bisschen, aber letztes Jahr hat es
ununterbrochen geregnet; mal schauen, wie es bei schönem Wetter
aussieht. Leider gibt es nicht mehr viel Tageslicht; ich komme in der
Abenddämmerung dort an. Der Zoo soll sehr schön sein, aber
um diese Tageszeit kann ich allenfalls durch die Gitter des Zauns
einen Blick auf die im Zoo stehende fünfstöckige Pagode
erhaschen, die in meinem Reiseführer erwähnt ist .
Nachdem ich noch ein paar Fotos geschossen habe, trinke ich in
einem Cafe in der Nähe des Bahnhofs noch einen Kaffe und klappe
mein Notebook auf – oh, ein WLAN namens FREESPOT, da muss ich
doch gleich ...
Pamela wohnt nördlich von Tokyo in Hatsuishi. Zuerst
muss ich nach Kashiwa fahren und dann umsteigen in eine andere Linie.
Man merkt schon, dass man auf dem Lande ist, denn hier sind alle
U-Bahn-Netzpläne nur noch in Kanji. Und ich weiß doch
nicht, wie man Hatsuishi mit Kanji schreibt! Aber ich habe inzwischen
keine Hemmungen mehr, irgendwelche Leute zu fragen, und außerdem
hatte mir Pamela schon gesagt, dass es 160 Yen kostet nach Hatsuishi.
Was mich wundert: Auf dem Plan sind es nur zwei Stationen, in
Wirklichkeit aber drei (wie mir Pamela auch vorher per Mail mitgeteilt
hat). Ja, die neue Station hat erst vor kurzem eröffnet, die ist
wohl noch nicht auf allen Plänen drauf, erklärt mir Pamela
später, ach so.
Nach einem netten Abendessen mache ich mich um kurz nach 22 Uhr
wieder auf den Heimweg. Anderthalb Stunden dauert es mindestens, und
ich möchte nicht riskieren, irgendwo auf dem Lande zu stranden,
wo keine U-Bahn mehr fährt. Geniales Schild in der Bahn auf dem
Lande : Man beachte auch die bildliche Darstellung, die
besonders Ausländern das Verständnis erleichtern soll, weil
in Englisch beschriftet.
Meine Sorge, dass es mit dem Nach-Hause-kommen schwierig werden
könnte, ist nicht unbegründet. Ich habe mich ja noch nicht
wirklich mit der Frage beschäftigt, wie denn die Linie
heißt, an der "mein" Bahnhof Hatagaya liegt. Das war ein Fehler.
Denn die komplette Beschilderung ist natürlich nach Linien. Ich
kann in Shinjuku also in die Yamanote, die Marunouchi, die Toei Oedo,
ach, was weiß ich in was für Linien wechseln, dieser
Bahnhof ist echt die Hölle. Mein Reiseführer meint dazu nur
lapidar: Achtung, manche Stationen haben verwirrend viele
Zugänge.
Auf dem Plan, den ich heute Nachmittag extra noch fotografiert
habe , sah es so aus als
würde ich an einer grünen Linie wohnen, die in
Shinjukusanchoume hält, eigentlich ein anderer Bahnhof, wenn man
so will, aber unterirdisch durch ein einziges riesiges Labyrinth mit
dem Bahnhof Shinjuku verbunden. Aber alles hat schon zu, die Passagen,
an die ich mich dunkel erinnere, die auch zu den Kaufhäusern
führen, sind alle verrammelt. Ich gehe an die Oberfläche,
laufe die Straße herunter, die ich kenne, wo der Eingang zur
Marunochi-Linie ist, aber überall sind schon die Rollläden
runter. Kann es wirklich sein, dass man an einem Freitagabend um 23.45
(so spät ist es inzwischen) nicht mehr mit der U-Bahn nach Hause
kommt in Tokyo?
Ich irre zurück in die Unterwelt des Bahnhofs Shinjuku. An
einer Linie, von der ich mir sicher bin, dass es nicht die richtige
ist, frage ich noch einmal, wie ich nach Hatagaya komme. Von der
Erklärung verstehe ich allerdings nur, dass ich zunächst
nach rechts durch diesen Tunnel muss, anschließend nach links
und dann .. irgendwas mit minami guchi, Südausgang. Ok,
arigatou gozaimashita, mal schauen. Der Tunnel führt mich
an die Oberfläche, genau da hin wo ich vorher schon war.
Südausgang? Ich bin immer noch östlich von diesem
Riesenbahnhof. Also versuche ich ihn in südlicher Richtung zu
umrunden.
Irgendwann wird mir die Lauferei zu blöd. Ich habe inzwischen
den Bahnof umrundet und bin südlich des Bahnhofs an der
Straße Nummer 20, wie ich den Verkehrsschildern entnehme. Das
ist genau die Straße, an der ich wohne, so viel habe ich auf dem
Stadtplan gesehen, als ich für Hiko versucht habe, die Navigation
zu übernehmen. Also will ich jetzt ein Taxi nehmen. Taxi gefahren
bin ich schließlich auch noch nicht in Japan; dieses Erlebnis
muss ja irgendwann sein.
Ich habe bei all der Aufregung ganz das Fotografieren vergessen;
sorry, keine Bilder. In japanischen Taxis sitzt man jedenfalls hinten,
und der Fahrer macht über irgendeine Mechanik die hintere linke
Tür für einen auf (in Japan ist Linksverkehr!). Ich sage
hatagaya eki he onegaishimasu, und er fährt in die
richtige Richtung los. Ein kleines Erfolgserlebnis wieder (ja, ja, ich
freue mich mit meinen bescheidenen Japanisch-Kenntnissen immer noch,
wenn ein Japaner die einfachsten Sachen, die ich sage, auf Anhieb
versteht).
Besorgt behalte ich das Taxameter im Auge; irgendwo habe ich
gelesen, dass Taxifahren in Japan sehr teuer sein soll. Aber es steht
fest auf 680 Yen; ja, außen am Taxi stand was von 2 km und
680 Yen; die ersten zwei Kilometer sind wohl ein Pauschalpreis.
Aber dann beginnt das Taxameter doch zu laufen. Wir sind auf dem
richtigen Weg, ich erkenne schon die Schnellstraße, die auf
Stelzen über uns verläuft, und immer wieder
Fußgängerbrücken, auf denen steht, wo wir sind.
Als wir unter einer Brücke durchkommen, auf der ich
hatagayaeki lesen kann (Bahnhof Hatagaya), sage ich dem
Taxifahrer, dass er mich doch hier bitte rauslassen soll, bezahle brav
und steige aus. Etwas über 1000 Yen hat es gekostet, so um die
8 Euro. Tja, und nun stehe ich hier, und mir wird klar, dass auf
den Brücken immer der Name der nächsten Brücke
angeschrieben steht. Ich weiß nicht, warum, aber ich dachte
irgendwie, der japanische Taxifahrer will mich übers Ohr hauen.
Ich Idiot, was lege ich mich auch mit einem Einheimischen wegen der
Fahrtroute an! Na ja, wahrscheinlich habe ich ein paar hundert Yen
gespart, und so weit ist es zum Glück nicht mehr bis zur
nächsten Fußgängerbrücke, wo ich eigentlich hin
wollte. Ich muss unbedingt erkunden, wie man mit der U-Bahn hierher
kommt. Es kann ja wohl nicht sein, dass das schon vor Mitternacht
nicht mehr geht.
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