Obwohl mit Kyoutaro gestern Abend eingeschärft hat, dass ich
unbedingt einen möglichst frühen Zug nehmen soll, schlafe ich bis kurz
vor 9 aus – schließlich habe ich Ferien. Es ist zwar Golden
Week, aber es fährt nun wirklich alle halbe Stunde von Mikawa-Anjou
aus ein Shinkansen nach Tokyo. Ich kann mir einfach nicht vorstellen,
dass die ausgerechnet am Samstagmorgen alle überfüllt sein sollen.
Vielleicht sind gerade die frühen Züge alle total überfüllt, weil alle
Japaner wie Kyoutaro denken und heute ganz früh losfahren.
Da am Schalter die Leute Schlange stehen, versuche ich mein Glück
am Fahrkartenautomaten. Obwohl ich ja nun schon seit geraumer Zeit die
Kanji studiere, fühle ich mich immer noch leicht unwohl, wenn ich auf
sie angewiesen bin; dieser Automat hat jedenfalls keine englische
Benutzerführung. Aber es klappt ganz gut. Lediglich die Frage ob
einfach oder hin und zurück macht mich nachdenklich; es wird nämlich
nicht gefragt, wann ich zurückfahren will. Wie lange die Karte wohl
gilt? Na ja, morgen zurückfahren wird schon kein Problem sein. Als
unüberwindliche Hürde erweist sich dann aber die Frage nach der
Geheimzahl meiner Kreditkarte. Die Frage kan ich zwar prima lesen,
aber die doofe Geheimzahl habe ich schlicht vergessen. Ich meine mich
zu erinnern, dass ich sie mir irgendwann mal ganz klein mit Bleistift
in meinem Pass notiert hatte, weil ich sie ja praktisch nur im Ausland
brauche. Aber ich habe einen neuen Pass :-(.
Also wohl doch der Schalter. Als ich mich gerade abwenden will,
fragt mich eine aufmerksame Japanerin, ob alles in Ordnung sei. Nein,
nicht wirklich. Ich sage – nur halb der Wahrheit entsprechend
–, dass ich Probleme mit den Kanji habe, und sie hilft mir noch
einmal durch die Menüs. Bei der Frage nach der Rückfahrt sage ich ihr,
dass ich morgen zurückfahren will, und sie meint, dann müsse ich eine
Einzelfahrt kaufen. Ob das stimmt? Einzeln kostet jedenfalls 9.480
Yen, während Hin- und Rückfahrt knapp 15.000 hätte kosten sollen.
Letzteres wäre mir also lieber gewesen, aber gilt die Hin- und
Rückfahrkarte wirklich nur am selben Tag? Nach all den Japanreisen ist
es schon erschreckend, welchen alltäglichen Kleinigkeiten man dann
doch immer wieder hilflos gegenübersteht.
Der Shinkansen ist jedenfalls nicht gerade leer, aber weit von der
angedrohten Überfüllung entfernt, vielleicht halb besetzt . Erst auf den letzten
Stückchen vor Tokyo füllt er sich etwas, aber ich habe nicht den
Eindruck, dass irgendwo jemand stehen muss. Während der Fahrt blättere
ich ein wenig in meinem Reiseführer und mache einen hübschen Garten
ausfindig, den ich noch nicht kenne. Den werde ich mir erst einmal
anschauen, irgendwie ist mir schon wieder nach Ruhe zumute.
Ruhe ist etwas, das ich hier wirklich sehr vermisse, das wird mir
immer mehr bewusst. Obwohl ich eigentlich viel schlafe, bin ich
permanent müde hier. Zu Hause donnert von ca. 6 bis 23 Uhr alle paar
Minuten lang ein Shinkansen vorbei, und ich habe den Eindruck, dass
vor allem nachts auf der dicken Straße direkt vor dem Haus viele
Lastwagen unterwegs sind. Völlige und vor allem lang andauernd Stille
– wann habe ich die zuletzt erlebt? Ich glaube, in
Deutschland.
Neben den natürlichen Geräuschen, zu denen ich im weitesten
Sinne auch den Verkehrslärm zähle, weil er halt irgendwie sein muss,
reichern die Japaner ihre Umgebung ja noch mit allerlei künstlicher
Geräuschkulisse an. Wenn man zum Beispiel am Bahnhof sitzt und auf den
Zug wartet, dann wäre es eigentlich fast still. Aber aus allen
möglichen Ecken macht es permanent Ding Dong, mit verschiedenen
Tonhöhen und verschiedenem Rhythmus. Ich glaube, das sind
Orientierungshilfen für Sehbehinderte, jedenfalls ertönt das Dingdong
an jedem Aufzug aus und auch an der Fahrkartenkontrolle. In der Ferne
hört man die Rolltreppe vor sich hin erzählen: Diese Rolltreppe
fährt nach oben. Bitte Vorsicht. Diese Rolltreppe fährt nach oben.
Bitte Vorsicht. Diese Rolltreppe ... Bei vielen (allen?)
Lastwagen ist der Blinker mit einer Lautsprecheransage gekoppelt.
Ich biege nach links ab! Vorsicht! Ich biege nach links ab!
Vorsicht! Ich biege ... hört man zum Beispiel, wenn man mit
dem Fahrrad unterwegs ist. Wenn man Japanisch kann, hilft es
vielleicht sogar ;-).
Tokyo ist natürlich auch nicht gerade als Ort der Ruhe bekannt,
obwohl der Hauptbahnhof im Vergleich etwa mit dem von Shinjuku
geradezu menschenleer ist . Am Hauptpostamt gegenüber
will ich erst einmal Geld abheben; dass ich den unerwartet teuren
Shinkansen auch noch in bar bezahlen musste, hat meine Finanzplanung
doch ein bisschen durcheinandergebracht. Doch leider Fehlanzeige:
Ausgerechnet vom 3. bis 6. Mai sind die Geldautomaten wegen
Wartungsarbeiten geschlossen. Immerhin hätten sie sonst wenigstens
theoretisch auch am Wochenende geöffnet. Das Postamt in Okazaki hat
nachts und am Wochenende zu – einschließlich der
Geldautomaten.
An der U-Bahn-Haltestelle, an der ich eigentlich einen
beschaulichen japanischen Garten erwarte, herrscht Volksfeststimmung.
Der Blick fällt als erstes auf eine große Achterbahn , dann auf ein Stadion
– Baseball, wie ich inzwischen weiß, den toukyou doomu.
Also lasse ich mich erst mal ein wenig durch das Getümmel treiben und
mache ein paar Fotos, bevor ich dann rüber gehe in den Garten.
korakuen heißt er, und er ist ebenfalls recht
überlaufen . Im Folgenden fällt es mir
nur schwer, Fotos ohne Menschen zu machen; der Eindruck trügt . Und immer sieht man
irgendwo ein Hochhaus aufragen oder hört das Gedonner der
nahegelegenen Achterban und das Gekreische ihrer Benutzer . Ruhe ist relativ in
Tokyo; von der Vorstellung, mich irgendwo in Ruhe in die Sonne zu
setzen oder gar zu legen, verabschiede ich mich.
Nach dem Garten schaue ich nochmal im Vergnügungspark vorbei,
trinke im Biergarten ein Bier und wandere dann
noch ein bisschen in einem Viertel herum, das laut meinem Reiseführer
ein Uni-Viertel und für seine zahlreichen Buchhandlungen bekannt ist
(stimmt, vor allem viele gebrauchte ), bevor ich nach Shinjuku
rüberfahre, dort noch ein Stündchen Zeit in einer Buchhandlung
totschlage, um mich dann mit Hiko zu treffen. Ich hatte mich sehr auf
Shabushabu gefreut, aber Hiko überredet mich, Thailändisch essen zu
gehen ... auch lecker .
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