Ich wache mal wieder um 7 auf, mache meinen Wecker aus und schlafe
weiter bis 10, schließlich ist ja Sonntag. Dann dusche ich
gemütlich und finde in der Küche mein vorbereitetes
Frühstück und den Zeitung lesenden Hausherrn vor. Nebenbei
läuft im Fernsehen ein Baseball-Spiel. Aber irgendwas ist anders
an am Fernsehprogramm heute. Ich reibe mir ein paarmal die Augen, dann
bin ich sicher: Das muss irgendeine Art von HDTV sein. Das Bild ist
gestochen scharf, kein Vergleich mit dem verrauschten,
Artefakt-verseuchten Fernsehbild, das ich hier bisher immer
wahrgenommen habe.
Während ich noch mein Frühstück esse, spricht mich
Katsuaki san an und fragt mich, was mich denn eigentlich an Japan
interessiert und was ich von Japan gerne noch sehen möchte. Das
sind ziemlich schwierige Fragen am frühen Morgen; das weiß
ich ja selbst auf Deutsch nicht so richtig. Ich finde es spannend,
eine neue Sprache zu lernen und mich mit einer völlig fremden
Kultur zu beschäftigen, aber schon bei Kultur endet mein
Vokabluar. Und was ich von Japan noch sehen will, weiß ich auch
nicht; ich habe all meine Reiseführer zu Hause gelassen, weil ich
ja dieses Jahr nur zum Lernen hergekommen bin. So kommt diese
Unterhaltung nicht so recht in Schwung.
Ich schaffe es aber dann, das Thema zu wechseln und mich nach dem
Fernsehprogamm zu erkundigen. Es ist tatsächlich
hochauflösendes Fernsehen, Katsuaki san nennt es Hi-Vision. Und
zwar über Satellit empfangen und analog. Im Moment ist der
Haushalt noch nicht für den digitalen Empfang ausgerüstet,
das soll in etwa zwei Monaten kommen, wenn ich ihn richtig verstanden
habe. Ob mich elektronische Dinge interessieren? Natürlich, das
ist doch mein Beruf! So erzählt er mir einiges über die
Verbreitung der PCs und der DSL- und Glasfaser-Anschlüsse in
Japan, aber es ist mühsam und beschwerlich, weil ich andauernd
mit meinem denshijisho Vokabeln nachschlagen muss. Und dass es
in Japan in nur 12 Millionen Haushalten PCs gibt, kann ich mir nicht
recht vorstellen. Oder doch? Als ich die Zahl auf Japanisch nicht
verstehen will, sagt es Katsuaki san mehrmals auf Englisch: 12
billion. Äh, also das kann ja nun gar nicht sein.
Große Zahlen sind im Japanischen ein Problem (für mich).
Während wir im Deutschen eigene Wörter für Zehn,
Hundert und Tausend haben und es dann nur noch in 103er
Schritten neue Wörter gibt (Million, Milliarde ...), gibt es im
Japanischen noch ein eigenes Wort für 104, und dann
erst wieder eines für 108. Der Japaner sagt also
eintausendzweihundert-zehtausender, wenn er 12 Millionen meint, und
ausgerechnet für 100 Millionen gibt es wieder ein eigenes
Zahlwort. Zahlen jenseits von 10.000 bringen mich daher
zuverlässig ins Schleudern – Katsuaki umgekehrt anscheinend
auch, wenn er es auf Englisch versucht.
Na ja, ist ja auch egal, in wie vielen Haushalten es PCs gibt, ich
finde es jedenfall ganz nett von ihm, dass er sich die Mühe
macht, sich mit mir zu unterhalten. Denn mühsam ist es für
uns beide. Er kommt wieder auf seinen Job zu sprechen, aber ich komme
immer noch nicht dahinter, was er wirklich macht. In einem
Reiseführer habe ich einmal gelesen, dass Japaner immer nur von
ihrer Firma erzählen und nicht von ihrer konkreten Tätigkeit
in dieser Firma. Das scheint mir hier auch der Fall zu sein. Was
Katsuaki san konkret macht, ist mir nicht klar, aber seine Abteilung
hat etwas mit Verkauf zu tun, und es scheint um den Vertrieb von Musik
oder Videos über Glasfasern/Kabelnetze zu gehen. Aber so richtig
kapier ichs nicht.
Als die Unterhaltung zum Erliegen kommt und Katsuaki san sich
wieder dem Fernseher zuwendet, entschuldige ich und saugstaube erst
einmal mein Zimmer. Schließlich wurde mir ja gestern
signalisiert, dass das hier zu meinen Pflichten gehört. Um 15 Uhr
soll an einem nahegelegenen Schrein ein Festival beginnen, bei dem
man, wenn ich es recht verstande, für die Gesundheit seiner
Kinder betet und bei dem Reiskuchen in die Menge geworfen werden. Die
Zeit bis dahin verbringe ich mit Tagebuchschreiben und
Bildbearbeitung; bin mächtig im Rückstand.
Um kurz vor 15 Uhr brechen wir auf. Wir sind nicht die einzigen,
die den schmalen Weg den Berg hoch pilgern , durch das obligatorische
Tor hinauf zu einem kleinen
Shinto-Schrein . Um fünf vor 3
erklärt jemand mit einem Megaphon den Ablauf : Zuerst gibt es ein
Feuerwerk (habe ich das richtig verstanden? Er hat hanabi
gesagt). Anschließend ist irgendwas mit den Grundschülern
shougakusei – wahrscheinlich kriegen die zuerst was. Und
dann gibts irgendwie für alle Reiskuchen. Aha.
Die meisten leute haben Tüten mitgebracht, um darin Reiskuchen
zu sammeln . Meine Gastmutter hat
sogar freundlicherweise daran gedacht, auch für mich eine
Tüte mitzubringen, damit ich nicht leer ausgehe. Pünktlich
um 15 Uhr rumst es im Wald auf einmal ein paar Mal, aha, das war also
das Feuerwerk. Böller würde ich es nennen –
heißt auf Japanisch anscheinend auch hanabi. Und dann
kriegen tatsächlich als erstes die kleinen Kinder und die
Älteren Leute Tüten mit irgendwelchen Süßigkeiten
in die Hand gedrückt .
Wenige Minuten später sagt mir Keiko san, ich müsse mich
jetzt bereithalten, womit sie die Plastiktüte meint, aber ich
natürlich erst einmal die Kamera. Und schon geht das Bombardement
los . Diese Reiskuchen sind
gerade mal so eine Handvoll, aber ziemlich hart und ziemlich schwer,
wie mir bewusst wird, als ich das erste Mal einen voll an den Kopf
kriege. Vor allem vorne geht ein hektisches Gewusel los, in dem jeder
versucht, so viele Reiskuchen zu raffen, wie es geht . Gar nicht
ungefährlich das Fotografieren; ein Reiskuchen trifft voll auf
mein Objektiv und knallt mir die Kamera an die Nase . Etwas weniger
gefährlich sind die Chipstüten, die ebenfalls geworfen
werden . Ich versuche
zwischendurch, auch mal was zu fangen, aber mit nur einer Hand gelingt
mir das nur schlecht, und etwas vom Boden aufzusammeln ist bei all den
um mich herumwuselnden raffgierigen Japanern auch illosorisch. So
lautet meine Schlussbilanz dann: Eine Tüte Chips und drei
Reiskuchen. Keiko san hat über 50, ihr Mann über 20. Na ja,
dafür hab ich 60 Fotos.
Nach fünf Minuten ist der Spuk vorbei, ein paar Pflanzen
zertrampelt , und die ersten Japaner sind schon wieder auf dem
Rückweg. Einige betreten aber noch den Schrein, und Katsuaki san
winkt mir zu, ich solle doch auch mal schauen kommen . Irgendwie werden da drin
noch Sake-Flaschen und Obst ausgetauscht; ich habe keine Ahnung, worum
es genau geht. Keiko san fragt, ob sie den Ausländer zum
Fotografieren reinschicken darf, und der Ausländer darf
fotografieren. Links und rechts stehen zwei laut Keiko san sehr alte
Laternen , dazwischen sind die Leute
anscheinend schon mit Abbauen und Zusammenräumen
beschäftigt. Sie wuseln extra kurz zur Seite, damit de
Ausländer ein Foto machen kann .
Auf der rechten Seite stehen noch etliche Sake-Flaschen , ob das Opfergaben sind?
Aber ich habe auch ganz klar gesehen, dass Besucher Sake-Flaschen in
die Hand gedrückt bekommen haben, statt sie hier abzustellen.
Links stehen sorgfältig durchnummerierte Tabletts mit Obst; auch
hier scheint aber schon irgendwie mit dem Abbau begonnen worden zu
sein . Ich will die hektische
Betriebsamkeit nicht weiter stören und trete heraus.
Draußen kommt mir einer entgegen, der zwei Laternen
trägt – die wurden wohl
auch extra für diesen Anlass aufgestellt und werden jetzt wieder
abgeräumt. Einige Leute fegen den Boden , wobei sich mir der Sinn
nicht recht erschließt, denn es liegen keinerlei Abfälle
rum und vergessene Reiskuchen schon gar nicht, und der Boden ist nicht
von einer Beschaffenheit, dass er durch Fegen gewönne. Eine
Japanerin sieht wohl meine mitleiderregend kleine Beute und
drückt mir schnell noch eine von den vorgepackten Tüten
für kleine Kinder und Greise in die Hand, damit ich nicht ganz so
leer ausgehe. Das ist ja nett. Ein kleines Mädchen sagt zu einem
anderen gaikokujin – Ausländer –, und beide
rufen mir vernehmlich "Hello" zu und schauen ganz verblüfft, als
ich mit konnichiwa antworte.
Wir beobachten noch, wie die beiden großen Fahnenstangen
abgebaut werden, die leider auf meinen Fotos von vorhin nicht wirklich
gut zu erkennen sind . Nach insgesamt einer
halben Stunde ist der Spuk vorbei, inklusive Abbau. Mir kommt das
Ganze völlig unwirklich vor, so als hätte ich gerade im
Zeitraffer etwas erlebt, das normalerweise einen ganzen Tag
dauert.
Zu Hause ergreift die Hausfrau das Kommando: Ich soll helfen, den
Tisch auszutauschen. Es wird nämlich jetzt Sommer, und da
müssen die Sommermöbel in die Küche. Die Heizdecke ist
schon vor einigen Tagen unter dem Küchentisch verschwunden, und
jetzt werden Tisch und Stühle auch noch gegen höhere
ausgetauscht. Die Umzugsaktion gibt mir Gelegenheit, "offiziell" die
restlichen Räume des Hauses zu besichtigen. In der Küche
stehen die Sommermöbel , in Keiko sans Werkraum
der bisherige Esstisch , und weil ich schon mal
dabei bin, knipse ich auch mal kurz in Chihiros Zimmer rein . Als nächstes
stürmt Keiko san in mein Zimmer, und ich muss ihr vom Schrank
einen Karton anreichen, auf dem kabuto steht. Das ist der Helm
eines Kriegers, und damit wird flugs das Sideboard im Eingangsbereich
umdekoriert . Ob das jetzt den ganzen Sommer da steht? Nein,
nur bis zum 5. Mai. Warum wohl ausgerechnet bis zum 5. Mai? Gestern
hat mir Keiko san erzählt, dass am 5. Mai Kindertag ist, aber was
das mit einer verkleinerten Nachbildung eines Kriegshelms zu tun hat,
erschließt sich mir nicht. Na ja, ich kann ja auch nicht
erwarten, die ganze japanische Kultur an einem Tag zu begreifen.
Keiko san hatte mir im Vorfeld erklärt, dass wir die
Reiskuchen dann abends essen können. Da ich ein bisschen hungrig
bin, packe ich mir einen aus und beiße rein. Ziemlich hart und
irgendwie nicht so dolle. In diesem Moment kommt Keiko san an meinem
Zimmer vorbei, sieht das und lacht: Nein nein, den kann man doch nicht
so essen! Den muss man erst backen! Öhem, ach so, also tue ich
den Rest von dem Ding wieder in sein Tütchen. Gegen den
Nachmittagshunger ess ich halt zwei von den kleinen Chipstüten
leer, da kann man ja wohl nichts falsch machen.
Nach dem Entwickeln und Sortieren der Bilder mache ich mich an
meine Hausaufgaben und meine Vokabeln; es gibt eine ganze Menge zu
lernen heute, und gestern und Freitag habe ich ja überhaupt
nichts für mein Japanisch getan. Nur unterbrochen durch das
Abendessen, lerne ich bis 23 Uhr und schreibe dann noch schnell diese
Tagebuchseite. Von wegen schnell, huch, es ist ja schon fast 1! Jetzt
aber ins Bett.
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