24.4., Ein Festival im Zeitraffer

Ich wache mal wieder um 7 auf, mache meinen Wecker aus und schlafe weiter bis 10, schließlich ist ja Sonntag. Dann dusche ich gemütlich und finde in der Küche mein vorbereitetes Frühstück und den Zeitung lesenden Hausherrn vor. Nebenbei läuft im Fernsehen ein Baseball-Spiel. Aber irgendwas ist anders an am Fernsehprogramm heute. Ich reibe mir ein paarmal die Augen, dann bin ich sicher: Das muss irgendeine Art von HDTV sein. Das Bild ist gestochen scharf, kein Vergleich mit dem verrauschten, Artefakt-verseuchten Fernsehbild, das ich hier bisher immer wahrgenommen habe.

Während ich noch mein Frühstück esse, spricht mich Katsuaki san an und fragt mich, was mich denn eigentlich an Japan interessiert und was ich von Japan gerne noch sehen möchte. Das sind ziemlich schwierige Fragen am frühen Morgen; das weiß ich ja selbst auf Deutsch nicht so richtig. Ich finde es spannend, eine neue Sprache zu lernen und mich mit einer völlig fremden Kultur zu beschäftigen, aber schon bei Kultur endet mein Vokabluar. Und was ich von Japan noch sehen will, weiß ich auch nicht; ich habe all meine Reiseführer zu Hause gelassen, weil ich ja dieses Jahr nur zum Lernen hergekommen bin. So kommt diese Unterhaltung nicht so recht in Schwung.

Ich schaffe es aber dann, das Thema zu wechseln und mich nach dem Fernsehprogamm zu erkundigen. Es ist tatsächlich hochauflösendes Fernsehen, Katsuaki san nennt es Hi-Vision. Und zwar über Satellit empfangen und analog. Im Moment ist der Haushalt noch nicht für den digitalen Empfang ausgerüstet, das soll in etwa zwei Monaten kommen, wenn ich ihn richtig verstanden habe. Ob mich elektronische Dinge interessieren? Natürlich, das ist doch mein Beruf! So erzählt er mir einiges über die Verbreitung der PCs und der DSL- und Glasfaser-Anschlüsse in Japan, aber es ist mühsam und beschwerlich, weil ich andauernd mit meinem denshijisho Vokabeln nachschlagen muss. Und dass es in Japan in nur 12 Millionen Haushalten PCs gibt, kann ich mir nicht recht vorstellen. Oder doch? Als ich die Zahl auf Japanisch nicht verstehen will, sagt es Katsuaki san mehrmals auf Englisch: 12 billion. Äh, also das kann ja nun gar nicht sein.

Große Zahlen sind im Japanischen ein Problem (für mich). Während wir im Deutschen eigene Wörter für Zehn, Hundert und Tausend haben und es dann nur noch in 103er Schritten neue Wörter gibt (Million, Milliarde ...), gibt es im Japanischen noch ein eigenes Wort für 104, und dann erst wieder eines für 108. Der Japaner sagt also eintausendzweihundert-zehtausender, wenn er 12 Millionen meint, und ausgerechnet für 100 Millionen gibt es wieder ein eigenes Zahlwort. Zahlen jenseits von 10.000 bringen mich daher zuverlässig ins Schleudern – Katsuaki umgekehrt anscheinend auch, wenn er es auf Englisch versucht.

Na ja, ist ja auch egal, in wie vielen Haushalten es PCs gibt, ich finde es jedenfall ganz nett von ihm, dass er sich die Mühe macht, sich mit mir zu unterhalten. Denn mühsam ist es für uns beide. Er kommt wieder auf seinen Job zu sprechen, aber ich komme immer noch nicht dahinter, was er wirklich macht. In einem Reiseführer habe ich einmal gelesen, dass Japaner immer nur von ihrer Firma erzählen und nicht von ihrer konkreten Tätigkeit in dieser Firma. Das scheint mir hier auch der Fall zu sein. Was Katsuaki san konkret macht, ist mir nicht klar, aber seine Abteilung hat etwas mit Verkauf zu tun, und es scheint um den Vertrieb von Musik oder Videos über Glasfasern/Kabelnetze zu gehen. Aber so richtig kapier ichs nicht.

Als die Unterhaltung zum Erliegen kommt und Katsuaki san sich wieder dem Fernseher zuwendet, entschuldige ich und saugstaube erst einmal mein Zimmer. Schließlich wurde mir ja gestern signalisiert, dass das hier zu meinen Pflichten gehört. Um 15 Uhr soll an einem nahegelegenen Schrein ein Festival beginnen, bei dem man, wenn ich es recht verstande, für die Gesundheit seiner Kinder betet und bei dem Reiskuchen in die Menge geworfen werden. Die Zeit bis dahin verbringe ich mit Tagebuchschreiben und Bildbearbeitung; bin mächtig im Rückstand.

Um kurz vor 15 Uhr brechen wir auf. Wir sind nicht die einzigen, die den schmalen Weg den Berg hoch pilgern Foto dazu, durch das obligatorische Tor Foto dazu hinauf zu einem kleinen Shinto-Schrein Foto dazu. Um fünf vor 3 erklärt jemand mit einem Megaphon den Ablauf Foto dazu: Zuerst gibt es ein Feuerwerk (habe ich das richtig verstanden? Er hat hanabi gesagt). Anschließend ist irgendwas mit den Grundschülern shougakusei – wahrscheinlich kriegen die zuerst was. Und dann gibts irgendwie für alle Reiskuchen. Aha.

Die meisten leute haben Tüten mitgebracht, um darin Reiskuchen zu sammeln Foto dazu. Meine Gastmutter hat sogar freundlicherweise daran gedacht, auch für mich eine Tüte mitzubringen, damit ich nicht leer ausgehe. Pünktlich um 15 Uhr rumst es im Wald auf einmal ein paar Mal, aha, das war also das Feuerwerk. Böller würde ich es nennen – heißt auf Japanisch anscheinend auch hanabi. Und dann kriegen tatsächlich als erstes die kleinen Kinder und die Älteren Leute Tüten mit irgendwelchen Süßigkeiten in die Hand gedrückt Foto dazu Foto dazu Foto dazu.

Wenige Minuten später sagt mir Keiko san, ich müsse mich jetzt bereithalten, womit sie die Plastiktüte meint, aber ich natürlich erst einmal die Kamera. Und schon geht das Bombardement los Foto dazu. Diese Reiskuchen sind gerade mal so eine Handvoll, aber ziemlich hart und ziemlich schwer, wie mir bewusst wird, als ich das erste Mal einen voll an den Kopf kriege. Vor allem vorne geht ein hektisches Gewusel los, in dem jeder versucht, so viele Reiskuchen zu raffen, wie es geht Foto dazu. Gar nicht ungefährlich das Fotografieren; ein Reiskuchen trifft voll auf mein Objektiv und knallt mir die Kamera an die Nase Foto dazu. Etwas weniger gefährlich sind die Chipstüten, die ebenfalls geworfen werden Foto dazu. Ich versuche zwischendurch, auch mal was zu fangen, aber mit nur einer Hand gelingt mir das nur schlecht, und etwas vom Boden aufzusammeln ist bei all den um mich herumwuselnden raffgierigen Japanern auch illosorisch. So lautet meine Schlussbilanz dann: Eine Tüte Chips und drei Reiskuchen. Keiko san hat über 50, ihr Mann über 20. Na ja, dafür hab ich 60 Fotos.

Nach fünf Minuten ist der Spuk vorbei, ein paar Pflanzen zertrampelt Foto dazu, und die ersten Japaner sind schon wieder auf dem Rückweg. Einige betreten aber noch den Schrein, und Katsuaki san winkt mir zu, ich solle doch auch mal schauen kommen Foto dazu Foto dazu. Irgendwie werden da drin noch Sake-Flaschen und Obst ausgetauscht; ich habe keine Ahnung, worum es genau geht. Keiko san fragt, ob sie den Ausländer zum Fotografieren reinschicken darf, und der Ausländer darf fotografieren. Links und rechts stehen zwei laut Keiko san sehr alte Laternen Foto dazu Foto dazu, dazwischen sind die Leute anscheinend schon mit Abbauen und Zusammenräumen beschäftigt. Sie wuseln extra kurz zur Seite, damit de Ausländer ein Foto machen kann Foto dazu.

Auf der rechten Seite stehen noch etliche Sake-Flaschen Foto dazu, ob das Opfergaben sind? Aber ich habe auch ganz klar gesehen, dass Besucher Sake-Flaschen in die Hand gedrückt bekommen haben, statt sie hier abzustellen. Links stehen sorgfältig durchnummerierte Tabletts mit Obst; auch hier scheint aber schon irgendwie mit dem Abbau begonnen worden zu sein Foto dazu. Ich will die hektische Betriebsamkeit nicht weiter stören und trete heraus. Draußen kommt mir einer entgegen, der zwei Laternen trägt Foto dazu – die wurden wohl auch extra für diesen Anlass aufgestellt und werden jetzt wieder abgeräumt. Einige Leute fegen den Boden Foto dazu, wobei sich mir der Sinn nicht recht erschließt, denn es liegen keinerlei Abfälle rum und vergessene Reiskuchen schon gar nicht, und der Boden ist nicht von einer Beschaffenheit, dass er durch Fegen gewönne. Eine Japanerin sieht wohl meine mitleiderregend kleine Beute und drückt mir schnell noch eine von den vorgepackten Tüten für kleine Kinder und Greise in die Hand, damit ich nicht ganz so leer ausgehe. Das ist ja nett. Ein kleines Mädchen sagt zu einem anderen gaikokujin – Ausländer –, und beide rufen mir vernehmlich "Hello" zu und schauen ganz verblüfft, als ich mit konnichiwa antworte.

Wir beobachten noch, wie die beiden großen Fahnenstangen abgebaut werden, die leider auf meinen Fotos von vorhin nicht wirklich gut zu erkennen sind Foto dazu Foto dazu Foto dazu Foto dazu. Nach insgesamt einer halben Stunde ist der Spuk vorbei, inklusive Abbau. Mir kommt das Ganze völlig unwirklich vor, so als hätte ich gerade im Zeitraffer etwas erlebt, das normalerweise einen ganzen Tag dauert.

Zu Hause ergreift die Hausfrau das Kommando: Ich soll helfen, den Tisch auszutauschen. Es wird nämlich jetzt Sommer, und da müssen die Sommermöbel in die Küche. Die Heizdecke ist schon vor einigen Tagen unter dem Küchentisch verschwunden, und jetzt werden Tisch und Stühle auch noch gegen höhere ausgetauscht. Die Umzugsaktion gibt mir Gelegenheit, "offiziell" die restlichen Räume des Hauses zu besichtigen. In der Küche stehen die Sommermöbel Foto dazu, in Keiko sans Werkraum der bisherige Esstisch Foto dazu, und weil ich schon mal dabei bin, knipse ich auch mal kurz in Chihiros Zimmer rein Foto dazu. Als nächstes stürmt Keiko san in mein Zimmer, und ich muss ihr vom Schrank einen Karton anreichen, auf dem kabuto steht. Das ist der Helm eines Kriegers, und damit wird flugs das Sideboard im Eingangsbereich umdekoriert Foto dazu. Ob das jetzt den ganzen Sommer da steht? Nein, nur bis zum 5. Mai. Warum wohl ausgerechnet bis zum 5. Mai? Gestern hat mir Keiko san erzählt, dass am 5. Mai Kindertag ist, aber was das mit einer verkleinerten Nachbildung eines Kriegshelms zu tun hat, erschließt sich mir nicht. Na ja, ich kann ja auch nicht erwarten, die ganze japanische Kultur an einem Tag zu begreifen.

Keiko san hatte mir im Vorfeld erklärt, dass wir die Reiskuchen dann abends essen können. Da ich ein bisschen hungrig bin, packe ich mir einen aus und beiße rein. Ziemlich hart und irgendwie nicht so dolle. In diesem Moment kommt Keiko san an meinem Zimmer vorbei, sieht das und lacht: Nein nein, den kann man doch nicht so essen! Den muss man erst backen! Öhem, ach so, also tue ich den Rest von dem Ding wieder in sein Tütchen. Gegen den Nachmittagshunger ess ich halt zwei von den kleinen Chipstüten leer, da kann man ja wohl nichts falsch machen.

Nach dem Entwickeln und Sortieren der Bilder mache ich mich an meine Hausaufgaben und meine Vokabeln; es gibt eine ganze Menge zu lernen heute, und gestern und Freitag habe ich ja überhaupt nichts für mein Japanisch getan. Nur unterbrochen durch das Abendessen, lerne ich bis 23 Uhr und schreibe dann noch schnell diese Tagebuchseite. Von wegen schnell, huch, es ist ja schon fast 1! Jetzt aber ins Bett.

 

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©2005 by Harald Bögeholz