Ich fahre heute einmal mit der Kamera im Fahrradkorb zur Schule, um
ein paar Fotos von den japanischen Schulkindern zu machen, die mir auf
der ganzen Strecke begegnen. Auf dem Schulhof der Grundschule, die ich
am Wochenende ganz ohne Menschen fotografiert habe, scheint heute die
ganze Schule angetreten zu sein, und alle singen gemeinsam ein Lied zu
Klaviermusik, die wahrscheinlich aus Lautsprechern kommt . Ob die das wohl jeden Tag
machen? Oder nur Montags? Ich werde es im Laufe der nächsten
Wochen herausfinden.
Zuerst überhole ich einen Pulk von Schülern, die zu
Fuß unterwegs sind . Was man auf dem Foto nur
erahnen kann: Sie haben nicht nur alle die gleiche Schuluniform an,
sondern fast alle auch die gleichen Taschen. Ich bin mir nicht sicher,
ob das zur Schuluniform gehört. Ich glaube nicht und meine in
irgendeinem meiner schlauen Reiseführer gelesen zu haben, dass
das Phänomen der gleichen Taschen reiner Gruppenzwang ist.
Ich glaube, ich schrieb es schon: Ob hier Rechts- oder Linksverkehr
herrscht oder ob Radfahrer auf den Gehweg oder die Straße
gehören, könnte man allein durch Beobachten der Radfahrer,
insbesondere der Schüler, nicht herausfinden. Die fahren wie sie
lustig sind, aber meistens in der Gruppe. Und ich bin in der
Minderheit und muss sehen, wie ich ausweiche, wenn so ein Pulk auf
"meiner" Straßenseite mir entgegen kommt . Manchmal mache ich mir
echt Sorgen, dass ich am hellichten Tage einen
Frontalzusammenstoß mit einem japanischen Schüler haben
könnte, weil es erstens keine einheitliche Konvention gibt, wie
man einander ausweicht, wenn man schon auf der gleichen
Straßenseite fährt, und es andererseits durchaus nicht
unüblich zu sein scheint, im Halbschlaf zur Schule zu fahren
beziehungsweise kreuz und quer über die Straße eiernd eine
SMS zu schreiben.
Von einem Kindergarten schallt jeden Morgen ein Singsang
herüber, bei dem es sich nur um Kinderlieder handeln kann. Keine
Ahnung, warum die das so laut drehen müssen, dass man es trotz
Verkehrslärm sogar in einigem Abstand auf der anderen
Straßenseite hört . Vielleicht ist es eine
Schutzmaßnahme, die allen Verkehrsteilnehmern signalisieren
soll, dass man hier vorsichtig fahren muss. Obwohl – laut genug,
als dass man es im Auto hören könnte, ist es wohl nicht.
Der Unterricht läuft heute besser als am Freitag. Wir haben
eine andere Lehrerin, Sugiura sensei . Das ist bei Yamasa so
üblich: Jede Klasse wird von einem Team von normalerweise vier
Lehrern unterrichtet, die sich abwechseln. Auf diese Weise wird man
nicht auf eine Aussprache, einen Dialekt oder eine bestimmte Art zu
unterrichten fixiert. Ich verstehe Sugiura sensei ein bisschen besser
als Kawashima sensei. Trotzdem verlangt es mir meine volle
Konzentration ab, halbwegs viel von dem rein in Japanisch gehaltenen
Unterricht zu verstehen. Das Pendel zwischen Frust und Erfolgserlebnis
schlägt heute aber überwiegend in Richtung Erfolgserlebnis
aus, wenn ich auch im Hinterkopf denke, dass ich diese Lektion
eigentlisch schon beherrschen sollte.
Aber ich beginne den Unterricht allmählich mehr als Animation
zu verstehen. Es ist etwas völlig anderes, ob man sich im stillen
Kämmerlein ein Kapitel über japanische Grammatik durchliest
und erarbeitet oder ob man genötigt wird, diese Grammatik in
Echtzeit anzuwenden und vor allem noch mit Vokabeln aus dem wirklichen
Leben zu füllen: Als Du ein Kind warst, was für eine Art
Kind warst Du? *schluck*, die Frage ist ja schon auf Deutsch
schwierig ... Der große Unterschied zwischen einem
Selbststudium auf dem Sofa in Hannover und einem Sprachkurs hier ist
also die konkrete Anwendung.
Was mich wirklich ein bisschen an meinen eigenen Lernfortschritten
nervt, ist eben der Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Ich bin
ein großer Theoretiker: Wenn ich eine schriftliche Prüfung
schreibe und nicht unter massivem Zeitdruck stehe, dann beherrsche ich
die Grammatik. Aber wenn ich frei sprechen soll, dann kommt oft so ein
Mist raus, es ist einfach nicht zu glauben! Und zwar bei den einfachen
Dingen, die in den ersten paar Kapiteln des Lehrbuchs stehen, die ich
ja an dieser Schule gar nicht durchgenommen, sondern übersprungen
habe. Die blöden Adjektive haben hierzulande eine
Vergangenheitsform; ich bin gespannt, ob ich es je lerne, die in
Echtzeit zu generieren. Es heißt nicht "es war lecker",
sondern "es ist lecker[Vergangenheitsform]". Nein, es ist
irgendwie anders als der Unterschied zwischen Imperfekt und Perfekt,
wenn es jetzt in dem Beispiel auch so aussieht, wie erklär ich
das nur?
Die Intensität des Unterrichts ist jedenfalls gerade so zu
ertragen. Ich ertappe mich kurz vor Ende der Stunde immer öfter
bein Blick auf die Uhr, nicht, weil ich mich langweilen würde,
sondern weil ich eine Auszeit brauche. Kurz vor Ende der dritten
Stunde fängt die Lehrerin an, uns auf die nächste Lektion
einzustimmen. Wie jetzt, nächste Lektion? Letztes Jahr gab es
höchstens eine pro Tag mit Zeit, die neuen Vokabeln
vorzubereiten. Und jetzt? Jetzt wirft sie uns wie sonst am Ende eines
Tages üblich einen Schwung neue Vokabeln an den Kopf und meint
locker flockig, die sollen wir bis zur nächsten Stunden lernen.
Wie bitte? Das sind 50 Minuten Pause, in denen man ja auch noch was
essen muss! Bin ich froh, dass ich diese Lektion schon durchgenommen
habe und die meisten Vokabeln noch weiß. Wenn das in dem Tempo
weiter gehen soll, schwant mir Übles.
Die Mittagspause vergeht wie im Fluge bei einer Portion Sushi vom
Supermarkt (4,50 Euro!) und
Apfelsaft. Toni, der Mutige, hat einen Becher mit grünem Glibber
gekauft, von dem er sagt, dass er nach grünem Tee
schmeckt . (Juhuu, das Kanji
für Tee kenn ich schon, das steht da tatsächlich drauf.)
Am Nachmittag lernen wir die dritte Lehrerin kennen, Narumi sensei.
Sie fragt als erstes die neuen Vokabeln ab; bin ich froh, dass sie
für mich nicht wirklich neu sind. Dann weist sie auf eine
Veranstaltung am Nachmittag hin: Eine Konversationsstunde mit
Japanern. Genau genommen anderthalb Stunden, jeder ist willkommen. Na
ja, schaun wir mal.
Nach zwei weiteren Stunden intensiven Unterrichts ist endlich
Feierabend. Ich plaudere in der Frühlingssonne ein wenig mit
anderen Studenten und setze mich dann in den Aufenthaltsraum, um ein
wenig an den Tagebuchseiten zu basteln und in meine Mail zu schauen.
Die Stunde bis zum Beginn der Konversationsrunde reicht mir eigentlich
kaum zur Erholung, und wir haben einen Riesenhaufen Hausaufgaben auf.
Aber ach, jetzt bin ich schonmal hier, nun überwinde ich auch den
inneren Schweinehund. Anderthalb Stunden extra werden schon gehen,
ganbatte!
Nach und nach finden sich immer mehr Japanerinnen
(hauptsächlich, ein Japaner ist auch dabei) ein. Nachdem ich mich
der Veranstalterin kurz vorgestellt, meinen Namen in eine Liste
eingetragen und ein kleines Namensschildchen geschrieben habe, geht es
ganz zwanglos sofort zur Sache. Eine neben mir sitzende Japanerin
beginnt sich mit mir zu unterhalten. (Es sind ungefähr so viele
Japanerinnen wie Sprachschüler da, sodass jeder eine
abbekommt .) Wie ich denn
heiße, was ich arbeite, wo ich wohne, wie ich das Leben in Japan
so finde und, und, und ... ehe ich michs versehe, habe ich noch
mehr Japanisch gesprochen als an einem ganzen Tag Intensivunterricht.
Sie arbeitet zwar nicht für die Schule, aber sie scheint
Übung darin zu haben, Sprachschüler mit einfachen Fragen zum
Reden zu bringen.
Ich schaffe es, ein paar Gegenfragen zu stellen... Sie ist Hausfrau,
hat zwei Kinder – ganz ähnlich wie meine Gastfamilie! Ich
frage sie, warum sie hierher kommt, und sie antwortet (glaube ich),
dass sie selbst Englisch lernt und gelegentlich Konversationsstunden
mit Muttersprachlern besucht. Weil ihr das so viel bringt, findet sie
das eine gute Sache und möchte sich revanchieren, indem sie
einmal die Woche zu Yamasa kommt, um sich mit Leuten wie mir zu
unterhalten.
Ich bin ganz baff, mit wie viel Geduld sie sich mit mir
unterhält. Es kommen noch weitere Schüler und Japanerinnen
hinzu, und auf einmal unterhalte ich mich eine Zeitlang mit einer
anderen Dame. Als sich noch jemand zu uns gesellt, nutze ich die
Gelegenheit für eine kurze Auszeit am Getränkeautomaten.
Aber als ich zurückkomme, ist schon wieder eine Japanerin da, die
nur darauf wartet, sich mit mir unterhalten zu dürfen. Sie stellt
mir ähnliche Fragen wir ihre Vorgängerinnen, aber es ist so
ein gutes Gefühl, halbwegs fließend etwas erzählen zu
können!
Nach anderthalb Stunden bin ich allerdings fix und fertig; ich
bekomme tatsächlich Kopfweh davon. Ich entschuldige mich bei
meiner Gesprächspartnerin, dass ich müde bin und Japanisch
mir sehr schwer fällt. Sie antwortet (glaube ich), dass sie auch
allmählich gehen wollte, und so bedanke ich mich für das
Gespräch und ziehe mich mit meinem Notebook ans andere Ende des
Aufenthaltsraums zurück. Offiziell endet die Konversationsstunde
genau jetzt, um 17 Uhr; ich muss das irgendwie gespürt haben. Die
anderen unterhalten sich aber munter weiter, haben die ein
Durchhaltevermögen! Ich glaube, wenn man jetzt nur noch ein
einziges japanisches Wort in meinen Kopf stopfen würde, dann
würde er platzen!.
Mist, jetzt habe ich schon wieder so viel geschrieben und es ist
schon nach Mitternacht. Schneller Vorlauf: Heimfahren, Hausaufgaben
(anderthalb Stunden, doch nicht so lange wie ich dachte), Abendessen,
Fernsehen, Bildbearbeitung, Tagebuch... gute Nacht!
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