18.4., Die Extraportion Konversation

Ich fahre heute einmal mit der Kamera im Fahrradkorb zur Schule, um ein paar Fotos von den japanischen Schulkindern zu machen, die mir auf der ganzen Strecke begegnen. Auf dem Schulhof der Grundschule, die ich am Wochenende ganz ohne Menschen fotografiert habe, scheint heute die ganze Schule angetreten zu sein, und alle singen gemeinsam ein Lied zu Klaviermusik, die wahrscheinlich aus Lautsprechern kommt Foto dazu. Ob die das wohl jeden Tag machen? Oder nur Montags? Ich werde es im Laufe der nächsten Wochen herausfinden.

Zuerst überhole ich einen Pulk von Schülern, die zu Fuß unterwegs sind Foto dazu. Was man auf dem Foto nur erahnen kann: Sie haben nicht nur alle die gleiche Schuluniform an, sondern fast alle auch die gleichen Taschen. Ich bin mir nicht sicher, ob das zur Schuluniform gehört. Ich glaube nicht und meine in irgendeinem meiner schlauen Reiseführer gelesen zu haben, dass das Phänomen der gleichen Taschen reiner Gruppenzwang ist.

Ich glaube, ich schrieb es schon: Ob hier Rechts- oder Linksverkehr herrscht oder ob Radfahrer auf den Gehweg oder die Straße gehören, könnte man allein durch Beobachten der Radfahrer, insbesondere der Schüler, nicht herausfinden. Die fahren wie sie lustig sind, aber meistens in der Gruppe. Und ich bin in der Minderheit und muss sehen, wie ich ausweiche, wenn so ein Pulk auf "meiner" Straßenseite mir entgegen kommt Foto dazu. Manchmal mache ich mir echt Sorgen, dass ich am hellichten Tage einen Frontalzusammenstoß mit einem japanischen Schüler haben könnte, weil es erstens keine einheitliche Konvention gibt, wie man einander ausweicht, wenn man schon auf der gleichen Straßenseite fährt, und es andererseits durchaus nicht unüblich zu sein scheint, im Halbschlaf zur Schule zu fahren beziehungsweise kreuz und quer über die Straße eiernd eine SMS zu schreiben.

Von einem Kindergarten schallt jeden Morgen ein Singsang herüber, bei dem es sich nur um Kinderlieder handeln kann. Keine Ahnung, warum die das so laut drehen müssen, dass man es trotz Verkehrslärm sogar in einigem Abstand auf der anderen Straßenseite hört Foto dazu. Vielleicht ist es eine Schutzmaßnahme, die allen Verkehrsteilnehmern signalisieren soll, dass man hier vorsichtig fahren muss. Obwohl – laut genug, als dass man es im Auto hören könnte, ist es wohl nicht.

Der Unterricht läuft heute besser als am Freitag. Wir haben eine andere Lehrerin, Sugiura sensei Foto dazu. Das ist bei Yamasa so üblich: Jede Klasse wird von einem Team von normalerweise vier Lehrern unterrichtet, die sich abwechseln. Auf diese Weise wird man nicht auf eine Aussprache, einen Dialekt oder eine bestimmte Art zu unterrichten fixiert. Ich verstehe Sugiura sensei ein bisschen besser als Kawashima sensei. Trotzdem verlangt es mir meine volle Konzentration ab, halbwegs viel von dem rein in Japanisch gehaltenen Unterricht zu verstehen. Das Pendel zwischen Frust und Erfolgserlebnis schlägt heute aber überwiegend in Richtung Erfolgserlebnis aus, wenn ich auch im Hinterkopf denke, dass ich diese Lektion eigentlisch schon beherrschen sollte.

Aber ich beginne den Unterricht allmählich mehr als Animation zu verstehen. Es ist etwas völlig anderes, ob man sich im stillen Kämmerlein ein Kapitel über japanische Grammatik durchliest und erarbeitet oder ob man genötigt wird, diese Grammatik in Echtzeit anzuwenden und vor allem noch mit Vokabeln aus dem wirklichen Leben zu füllen: Als Du ein Kind warst, was für eine Art Kind warst Du? *schluck*, die Frage ist ja schon auf Deutsch schwierig ... Der große Unterschied zwischen einem Selbststudium auf dem Sofa in Hannover und einem Sprachkurs hier ist also die konkrete Anwendung.

Was mich wirklich ein bisschen an meinen eigenen Lernfortschritten nervt, ist eben der Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Ich bin ein großer Theoretiker: Wenn ich eine schriftliche Prüfung schreibe und nicht unter massivem Zeitdruck stehe, dann beherrsche ich die Grammatik. Aber wenn ich frei sprechen soll, dann kommt oft so ein Mist raus, es ist einfach nicht zu glauben! Und zwar bei den einfachen Dingen, die in den ersten paar Kapiteln des Lehrbuchs stehen, die ich ja an dieser Schule gar nicht durchgenommen, sondern übersprungen habe. Die blöden Adjektive haben hierzulande eine Vergangenheitsform; ich bin gespannt, ob ich es je lerne, die in Echtzeit zu generieren. Es heißt nicht "es war lecker", sondern "es ist lecker[Vergangenheitsform]". Nein, es ist irgendwie anders als der Unterschied zwischen Imperfekt und Perfekt, wenn es jetzt in dem Beispiel auch so aussieht, wie erklär ich das nur?

Die Intensität des Unterrichts ist jedenfalls gerade so zu ertragen. Ich ertappe mich kurz vor Ende der Stunde immer öfter bein Blick auf die Uhr, nicht, weil ich mich langweilen würde, sondern weil ich eine Auszeit brauche. Kurz vor Ende der dritten Stunde fängt die Lehrerin an, uns auf die nächste Lektion einzustimmen. Wie jetzt, nächste Lektion? Letztes Jahr gab es höchstens eine pro Tag mit Zeit, die neuen Vokabeln vorzubereiten. Und jetzt? Jetzt wirft sie uns wie sonst am Ende eines Tages üblich einen Schwung neue Vokabeln an den Kopf und meint locker flockig, die sollen wir bis zur nächsten Stunden lernen. Wie bitte? Das sind 50 Minuten Pause, in denen man ja auch noch was essen muss! Bin ich froh, dass ich diese Lektion schon durchgenommen habe und die meisten Vokabeln noch weiß. Wenn das in dem Tempo weiter gehen soll, schwant mir Übles.

Die Mittagspause vergeht wie im Fluge bei einer Portion Sushi vom Supermarkt Foto dazu (4,50 Euro!) und Apfelsaft. Toni, der Mutige, hat einen Becher mit grünem Glibber gekauft, von dem er sagt, dass er nach grünem Tee schmeckt Foto dazu. (Juhuu, das Kanji für Tee kenn ich schon, das steht da tatsächlich drauf.)

Am Nachmittag lernen wir die dritte Lehrerin kennen, Narumi sensei. Sie fragt als erstes die neuen Vokabeln ab; bin ich froh, dass sie für mich nicht wirklich neu sind. Dann weist sie auf eine Veranstaltung am Nachmittag hin: Eine Konversationsstunde mit Japanern. Genau genommen anderthalb Stunden, jeder ist willkommen. Na ja, schaun wir mal.

Nach zwei weiteren Stunden intensiven Unterrichts ist endlich Feierabend. Ich plaudere in der Frühlingssonne ein wenig mit anderen Studenten und setze mich dann in den Aufenthaltsraum, um ein wenig an den Tagebuchseiten zu basteln und in meine Mail zu schauen. Die Stunde bis zum Beginn der Konversationsrunde reicht mir eigentlich kaum zur Erholung, und wir haben einen Riesenhaufen Hausaufgaben auf. Aber ach, jetzt bin ich schonmal hier, nun überwinde ich auch den inneren Schweinehund. Anderthalb Stunden extra werden schon gehen, ganbatte!

Nach und nach finden sich immer mehr Japanerinnen (hauptsächlich, ein Japaner ist auch dabei) ein. Nachdem ich mich der Veranstalterin kurz vorgestellt, meinen Namen in eine Liste eingetragen und ein kleines Namensschildchen geschrieben habe, geht es ganz zwanglos sofort zur Sache. Eine neben mir sitzende Japanerin beginnt sich mit mir zu unterhalten. (Es sind ungefähr so viele Japanerinnen wie Sprachschüler da, sodass jeder eine abbekommt Foto dazu Foto dazu.) Wie ich denn heiße, was ich arbeite, wo ich wohne, wie ich das Leben in Japan so finde und, und, und ... ehe ich michs versehe, habe ich noch mehr Japanisch gesprochen als an einem ganzen Tag Intensivunterricht. Sie arbeitet zwar nicht für die Schule, aber sie scheint Übung darin zu haben, Sprachschüler mit einfachen Fragen zum Reden zu bringen.

Ich schaffe es, ein paar Gegenfragen zu stellen... Sie ist Hausfrau, hat zwei Kinder – ganz ähnlich wie meine Gastfamilie! Ich frage sie, warum sie hierher kommt, und sie antwortet (glaube ich), dass sie selbst Englisch lernt und gelegentlich Konversationsstunden mit Muttersprachlern besucht. Weil ihr das so viel bringt, findet sie das eine gute Sache und möchte sich revanchieren, indem sie einmal die Woche zu Yamasa kommt, um sich mit Leuten wie mir zu unterhalten.

Ich bin ganz baff, mit wie viel Geduld sie sich mit mir unterhält. Es kommen noch weitere Schüler und Japanerinnen hinzu, und auf einmal unterhalte ich mich eine Zeitlang mit einer anderen Dame. Als sich noch jemand zu uns gesellt, nutze ich die Gelegenheit für eine kurze Auszeit am Getränkeautomaten. Aber als ich zurückkomme, ist schon wieder eine Japanerin da, die nur darauf wartet, sich mit mir unterhalten zu dürfen. Sie stellt mir ähnliche Fragen wir ihre Vorgängerinnen, aber es ist so ein gutes Gefühl, halbwegs fließend etwas erzählen zu können!

Nach anderthalb Stunden bin ich allerdings fix und fertig; ich bekomme tatsächlich Kopfweh davon. Ich entschuldige mich bei meiner Gesprächspartnerin, dass ich müde bin und Japanisch mir sehr schwer fällt. Sie antwortet (glaube ich), dass sie auch allmählich gehen wollte, und so bedanke ich mich für das Gespräch und ziehe mich mit meinem Notebook ans andere Ende des Aufenthaltsraums zurück. Offiziell endet die Konversationsstunde genau jetzt, um 17 Uhr; ich muss das irgendwie gespürt haben. Die anderen unterhalten sich aber munter weiter, haben die ein Durchhaltevermögen! Ich glaube, wenn man jetzt nur noch ein einziges japanisches Wort in meinen Kopf stopfen würde, dann würde er platzen!.

Mist, jetzt habe ich schon wieder so viel geschrieben und es ist schon nach Mitternacht. Schneller Vorlauf: Heimfahren, Hausaufgaben (anderthalb Stunden, doch nicht so lange wie ich dachte), Abendessen, Fernsehen, Bildbearbeitung, Tagebuch... gute Nacht!

 

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©2005 by Harald Bögeholz