11.4.-12.4., Anreise

Wenn man zum zweiten Mal nach Japan fährt, ist es irgendwie nicht mehr ganz so aufregend wie beim ersten Mal. Damit es diesmal spannend bleibt, wache ich morgens mit Kopfweh und einem Kratzen im Hals auf und fühle mich, als wäre eine Erkältung im Anzug. Na prima, das hat ja gerade noch gefehlt. Erst mal eine Aspirin einwerfen, dann allmählich drüber nachdenken, was ich eigentlich so einpacken möchte. Der Flug ab Hannover geht erst um 15:00, warum also schon am Vorabend packen? Da ich nicht so fit bin, wird es dann aber doch etwas hektisch. Ich musste nämlich noch ein paar Hemden bügeln, und darin habe ich überhaupt keine Übung, das dauert ewig.

Ab Hannover zu fliegen, hat wirklich etwas für sich. Überhaupt nichts los, keine Schlangen, keine Wartezeiten... da hätte ich auch glatt noch ein halbes Stündchen später zum Flughafen fahren können. Zuerst geht es nach Paris Charles de Gaulle und von dort um 18:15 auf die große Reise. Knapp 12 Stunden dauert der Flug diesmal. Es gelingt mir war, ein bisschen zu schlafen, aber ich bin doch recht matschig, als ich um 13:10 Ortszeit auf dem neuen Flughafen von Nagoya ankomme. Aber kein Vergleich zum letzten Jahr; irgendwie ist auch der Anblick großer Mengen japanischer Schriftzeichen kein so großer Stressfaktor mehr. Die Einwanderungsformalitäten gehen auch schneller, alles ganz reibungslos.

Am Ausgang wartet ein freundlicher Herr von Yamasa, den ich schon vom letzten Jahr kenne (aber dessen Namen ich schon damals nicht behalten konnte). Er schaut mich etwas überrascht an, als ich ihn begrüße, so als hätte er nicht mit mir gerechnet. Merkwürdig. Ob er noch auf weitere Schüler wartet? Ja, noch eine Schülerin. Er schaut verlegen in seine Unterlagen und fragt mich, ob ich denn durchgegeben hätte, wann ich ankomme. Natürlich, schon im Januar. Im Januar!!!? Er kommt aus dem Staunen nicht mehr raus. Ich hab die Flugdaten natürlich rübergemailt, als ich den Flug gebucht habe. Drei Monate vorher, das muss man ja versaubeuteln. Als er mich dann nochmal nach meinem Namen fragt, bin ich sicher: Ich stehe nicht auf seiner Liste. Wieder was gelernt für einen eventuellen nächsten Yamasa-Besuch: Ankunftzeit kurz vorher durchgeben oder wenigstens nochmal durchgeben. Wobei ich mich nicht beklagen kann: Es stand ja jemand zur Abholung bereit, nur halt nicht absichtlich, sondern zufällig.

Und eigentlich hatte ich mir unter dem Abholservice ein Auto vorgestellt. Aber unser "Reiseführer" sagt uns, dass er leider kein Auto dabei hat und wir Bus fahren müssen. Die 40 Minuten Wartezeit vertreiben Louise (die andere Schülerin aus England) und ich uns damit, mal eben schnell über die Ladenetage des Flughafens zu huschen – fürs Bummeln im eigentlichen Sinne ist keine Zeit – und einen Kaffee zu trinken. Es ist schon ein wesentlich besseres Gefühl als bei meinem ersten Japanaufenthalt. Jetzt kann ich meinen Cappucino bei Starbucks souverän shooto saizu bestellen (ja, das ist die japanisierte Version von "short size", was die Japaner, wenn sie Englisch sprechen, mit small übersetzen).

Am Bahnhof von Okazaki heißt es wieder ein paar Minuten warten auf das Auto, das uns mit unserem Gepäck vollends zur Schule bringt. Ich nutze die Gelegenheit, mir schnell im Kombini ein o nigiri zu holen, so ein dreieckiges Reisbällchen mit irgendwas drin. Die Dinger sind echt was schönes gegen den kleinen Hunger, wenn ich auch in der Hektik die Verpackung nicht richtig öffne, sodass ich irgendwie das Plastik und den Seetang nicht richtig getrennt kriege. Da gab es eine ganz besondere Auswickeltechnik, mit der man das Plastik so raffiniert von dem Ding abziehen konnte, dass die Seetanghülle in der Hand zum Essen übrig blieb, das mus ich nochmal üben ...

Kurz nach 16 Uhr endlich bei Yamasa angekommen, heißt es wieder warten. Ich verstehe Iijima san deutlich besser als letztes Jahr, als sie mir erklärt, ich solle nach meinem Aufenthalt einen Fragebogen über die Gastfamilie ausfüllen und ich werde gegen 5 abgeholt. Genug Zeit, schnell mal in die Aoi Hall rüberzugehen ... ja, das WLAN funktioniert noch. Das Telefonieren über Sipgate funktioniert nicht bzw. nur in eine Richtung: Ich hör leider nix, der andere schon. Skype dagegen klappt prima. Habe ich wohl aus falsche Pferd gesetzt? Vielleicht muss ich mir noch den Sypeout-Service holen, um günstig nach Hause telefonieren zu können.

Zurück im Studentensekretariat warte ich noch eine geschlagene Stunde auf meine Gastgeberin. Währenddessen erfahre ich, dass Declan auch am Flughafen war, um mich und zwei weitere Yamasa-Studenten abzuholen. Und zwar mit dem Auto. Also so ein winziges bisschen chaotisch erscheint mir die Organisation hier schon.

Gegen 18 Uhr kommt meine Gastgeberin endlich, lädt mich in ihr Auto und wir fahren los. Ich solle mir den Weg gut einprägen, denn ich wolle doch wohl mit dem Fahrrad fahren, oder? Ja, das hatte ich vor. Und ich darf sogar ein Fahrrad der Familie benutzen. Jetzt muss ich mir nur noch merken ... oh je, ist das weit. Es geht zwar im Großen und Ganzen immer geradeaus, aber wenn das mit dem Auto schon 20 Minuten dauert, dann ist die Fahrzeitschätzung von 30 Minuten wohl recht optimistisch. Es regnet übrigens die ganze Zeit, was mir die Vorstellung, diese Strecke täglich mit dem Fahrrad zurückzulegen, auch erst mal nicht sonderlich attraktiv erscheinen lässt. Aber das wusste ich ja vorher, da muss ich jetzt durch. Ob ich den Weg mit dem Fahrrad allerdings finden werde, nachdem ich ihn nur einmal als Beifahrer im Auto gezeigt bekommen habe, das wird noch eine spannende Frage. So 10 Kilometer dürften es jedenfalls sein.

Mit meiner Gastgeberin unterhalte ich mich übrignes in einer Mischung aus Japanisch und Englisch. Wie schon befürchtet – sie hat als eines ihrer Hobbys Englisch angegeben –, möchte sie gern ihr Englisch üben, freut sich aber auch immer sichtlich, wenn ich mal einen korrekten Satz auf Japanisch hinbekommen. Es wird also hier nicht die ganz harte Tour werden ohne ein einziges nichtjapanisches Wort, aber ich denke, ich kann trotzdem eine Menge lernen.

Da ich schon genügend Reiseführer gelesen und vor kurzem auch die Sendung mit der Maus über Japan gesehen habe, bin ich auf ein original japanisches Haus gut vorbereitet. Man zieht gleich am Eingang, im genkan Foto dazu, die Schuhe aus und bewegt sich im Haus in Pantoffeln. Mein Zimmer ist ein klassisch japanisches, so mit Schiebetüren und mit Tatami ausgelegt Foto dazu Foto dazu. (Fotos vom nächsten Tag.) Ihre Pantoffeln lässt meine Gastgeberin beim Betreten der Tatami im Gang stehen.

Da bin ich nun in meinem neuen Zimmer und weiß erst einmal nicht recht, was anfangen. Vom Flug noch ziemlich erschöpft, bin ich auch nicht sonderlich gesprächig. Meine Gastgeberin erklärt mir, wie man den Tisch aufklappt und hinstellt und wo ich meine Wäsche lassen kann. Stühle gibt es in einem japanischen Zimmer natürlich nicht; der Tisch ist flach, vielleicht 30 Zentimeter hoch, und ich bekomme ein großes Kissen zum Knien.

Ich frage nach ihrem Ehemann und werde in die Wohnküche geführt, wo er vor dem Fernseher sitzt. Auch er spricht Englisch, vielleicht etwas weniger gut als sie, aber als ich mich auf Japanisch vorstelle, antwortet er auch auf Japanisch. Es wird also von mir abhängen, ob ich hier mein Japanisch übe oder meinen Gastgebern als Übungspartner in englischer Konversation diene. Den Rest des Hauses bekomme ich nicht gezeigt, und fragen mag ich danach nicht. Immerhin erklärt sie mir jetzt noch Badezimmer und Toilette.

Die japanische Badewanne ist tief und weniger lang als unsere: Man kann nicht darin liegen, sondern man hockt. Sie ist mit einem Deckel abgedeckt, damit das Wasser nicht kalt wird, wenn sich die Familie, wie in Japan üblich, das Badewasser teilt Foto dazu. Zum Glück hab ich mit der Sendung mit der Maus gerade meine Kenntnisse aufgefrischt, es ist alles tatsächlich genau so. (ps hat die Sendung aufgezeichnet, vielleicht verleiht er ja die DVD :-).) Das gilt auch für die Toilette Foto dazu, die mit einem elektrischen High-Tech-Sitz ausgestattet ist. Meine Gastgeberin erklärt mir die wichtigsten Knöpfe auf dem Steuerkästchen an der Wand Foto dazu: Deckel rauf, Brille rauf, Deckel runter, große Spülung, kleine Spülung, das soll fürs erste genügen. Und natürlich stehen am Eingang der Toilette die speziellen Klo-Pantoffeln bereit, die man zu sanitären Anlässen trägt.

Als ich die Toilette später benutze, ist das schon ein komisches Gefühl. Der Sitz summt nach dem Herunterassen leise und ist tatsächlich beheizt. Nach dem Hinsetzen fängt irgendwo weiter hinten etwas an zu zischeln, es passiert aber weiter nichts. Nach dem Aufstehen brummt die Toilette – erwartungsfroh? – bis ich die Spülung betätige und mit einem anderen Knopf den Deckel wieder schließe. Der Spülkasten sieht oben aus wie ein Mini-Waschbecken: Das Wasser kommt aus einem kleinen Hahn und läuft dann in den Spülkasten. Ich gehe davon aus, dass das zum Händewaschen gedacht ist. Praktische Idee eigentlich, da kann das Schmutzwasser vom Händewaschen gleich recycelt werden. Ich glaube, ich werde aber sicherheitshalber nochmal fragen. Denn Seife habe ich in der Nähe der Toilette nicht gesehen, und ich würde mir die Händer normalerweise doch mit Seife waschen. Die anderen Knöpfe am Toilettenkontrollpult drücke ich lieber mal nicht. Wie in der Sendung mit der Maus gesehen, kann man sich hier anscheinend noch den Hintern abspritzen und trocken föhnen lassen, außerdem gibt es einen Knopf, der in Katakana mit masaji beschriftet ist (Massage?!). Ein paar Abenteuer muss ich mir ja noch für die nächsten Tage aufheben.

Während die Gastgeberin sich um das Abendessen kümmert, fange ich in meinem Zimmer an, diese Zeilen zu schreiben. Leider gibts schon wieder ein technisches Problem: Da habe ich mir nun extra von Georg einen anderen Adapterstecker ausgeliehen, weil mein alter nicht in die Japanischen Steckdosen ohne Erdungsloch passt, und jetzt passt der Stecker meines Notebooks nicht in den Adapter. Der Adapter dafür aber prima in die Steckdose. Ob ich wohl einen kleinen chirurgischen Eingriff an Deinem Adapter vornehmen darf, Georg? Na ja, eine Weile läuft so ein Notebook ja auch mit Akku.

Nach wenigen Absätzen wird mir kalt, das Zimmer ist anscheinend nicht beheizt. Ich sehe auch nichts, was auf das Vorhandensein einer Heizung hindeuten würde. (Es ist glaube ich tatsächlich nicht unüblich, dass es unbeheizte Zimmer gibt, aber das finde ich auch noch raus.) Na ja, geh ich halt mal in der Küche vorbeischauen. Dort ist der Hausherr vor dem Fernseher eingeschlafen und liegt mit dem Oberkörper auf dem Esstisch. Warum man dort so schön einschlafen kann, kapiere ich sogleich: Der Tisch ist von unten beheizt. Unter der Tischplatte liegt eine dicke, gefütterte Heizdecke, unter die man seine Füße steckt, sodass man es beim Essen angenehm warm hat. Oder beim Fernsehschlaf. Obwohl die Küche durch die Hitze des Kochens auch so schon kuschlig warm ist Foto dazu.

Zum Abendessen gibt es viele kleine Schüsselchen mit leckeren Sachen drin – wie ich das schon gewohnt bin, weiß ich nicht von allem, was es ist. (Fotos vom Essen gibts nicht, ich wollte am ersten Abend nicht unhöflich sein.) Ein Schüsselchen mit grünen Sachen (Brocoli etc.), eines mit eher gelben Sachen (Fischpastete? Kartoffel?), eines mit dicken, schwarzen, süßlichen Bohnen, eines mit durchsichtigen, glibberigen Nudeln (in Wirklichkeit keine Nudeln sonden irgendwelche Meeresgewächse) und ein extra Tellerchen mit einem Stück gegrillter Hähnchenhaut (?). Die Gastgeberin fragt mich besorgt, ob ich das essen kann, aber ja, ich habe in Japan bisher alles essen können, was man mir vorgesetzt hat, und in Deutschland ess ich beim Hähnchen die Haut ja auch mit. Das scheinen die Vorspeisen zu sein, und dann gibts auf einem größeren Teller noch Kartoffeln und Hühnerfleisch mit Tomatensoße, ein paar Maiskörnern und werweißwas.

Als das Essen auf dem Tisch steht, erscheint auch die Tochter des Hauses, Chihiro, 17 Jahre alt. Sie trägt ihre Schuluniform und ist, abgesehen von einer kurzen Begrüßung, in ihr Handy vertieft, auf dem sie ununterbrochen herumtippt. Das Phänomen Handyschmuck hatte ich schon letztes Jahr gewürdigt; bei einer 17-Jährigen ist es noch etwas ausgeprägter. Auch während des Essens wird zwischendurch immer noch weitergeSMSt oder auch mal gebannt auf den nebenher laufenden Fernseher geschaut. Das Kind wird also nicht genötigt, sich anders zu benehmen als sonst, nur weil ein deutscher Gast da ist ... allgemein scheint mir die Familie sehr aufgeschlossen und locker drauf zu sein.

Zum Trinken öffnet der Familienvater eine Flasche choushuu, das scheint etwas Hochprozentiges zu sein, das ich auf den ersten Blick unter dem einsortiert hätte, was wir Sake nennen und in Japan nihonshuu heißt. Ich frage nach dem Unterschied: nihonshuu wird ausschließlich aus Reis gemacht, choushuu aus Getreide und noch irgendwas. Jedenfalls verdünnt er es 1:1 mit heißem Wasser, und für mich schmeckt es ähnlich wie der warme Sake, den man so in asiatischen Restaurants in Deutschland bekommt.

Obwohl ich davon nur zwei Gläser trinke, leistet der Alkohol meiner Reisemüdigkeit gewaltigen Vorschub, und ich ziehe mich um kurz nach 22 Uhr auf meinen Futon zurück. Um 4 Uhr wache ich putzmunter auf (das war letztes Jahr auch schon so), schreibe an dieser Tagebuchseite, bis der Akku leer ist und lege mich dann wieder hin.

 

(Gästebuch außer Betrieb)     Inhaltsverzeichnis     weiter >


©2005 by Harald Bögeholz