Wenn man zum zweiten Mal nach Japan fährt, ist es irgendwie
nicht mehr ganz so aufregend wie beim ersten Mal. Damit es diesmal
spannend bleibt, wache ich morgens mit Kopfweh und einem Kratzen im
Hals auf und fühle mich, als wäre eine Erkältung im
Anzug. Na prima, das hat ja gerade noch gefehlt. Erst mal eine Aspirin
einwerfen, dann allmählich drüber nachdenken, was ich
eigentlich so einpacken möchte. Der Flug ab Hannover geht erst um
15:00, warum also schon am Vorabend packen? Da ich nicht so fit bin,
wird es dann aber doch etwas hektisch. Ich musste nämlich noch
ein paar Hemden bügeln, und darin habe ich überhaupt keine
Übung, das dauert ewig.
Ab Hannover zu fliegen, hat wirklich etwas für sich.
Überhaupt nichts los, keine Schlangen, keine Wartezeiten... da
hätte ich auch glatt noch ein halbes Stündchen später
zum Flughafen fahren können. Zuerst geht es nach Paris Charles de
Gaulle und von dort um 18:15 auf die große Reise. Knapp 12 Stunden
dauert der Flug diesmal. Es gelingt mir war, ein bisschen zu schlafen,
aber ich bin doch recht matschig, als ich um 13:10 Ortszeit auf dem
neuen Flughafen von Nagoya ankomme. Aber kein Vergleich zum letzten
Jahr; irgendwie ist auch der Anblick großer Mengen japanischer
Schriftzeichen kein so großer Stressfaktor mehr. Die
Einwanderungsformalitäten gehen auch schneller, alles ganz
reibungslos.
Am Ausgang wartet ein freundlicher Herr von Yamasa, den ich schon
vom letzten Jahr kenne (aber dessen Namen ich schon damals nicht
behalten konnte). Er schaut mich etwas überrascht an, als ich ihn
begrüße, so als hätte er nicht mit mir gerechnet.
Merkwürdig. Ob er noch auf weitere Schüler wartet? Ja, noch
eine Schülerin. Er schaut verlegen in seine Unterlagen und fragt
mich, ob ich denn durchgegeben hätte, wann ich ankomme.
Natürlich, schon im Januar. Im Januar!!!? Er kommt aus dem
Staunen nicht mehr raus. Ich hab die Flugdaten natürlich
rübergemailt, als ich den Flug gebucht habe. Drei Monate vorher,
das muss man ja versaubeuteln. Als er mich dann nochmal nach meinem
Namen fragt, bin ich sicher: Ich stehe nicht auf seiner Liste. Wieder
was gelernt für einen eventuellen nächsten Yamasa-Besuch:
Ankunftzeit kurz vorher durchgeben oder wenigstens nochmal durchgeben.
Wobei ich mich nicht beklagen kann: Es stand ja jemand zur Abholung
bereit, nur halt nicht absichtlich, sondern zufällig.
Und eigentlich hatte ich mir unter dem Abholservice ein Auto
vorgestellt. Aber unser "Reiseführer" sagt uns, dass er leider
kein Auto dabei hat und wir Bus fahren müssen. Die 40 Minuten
Wartezeit vertreiben Louise (die andere Schülerin aus England)
und ich uns damit, mal eben schnell über die Ladenetage des
Flughafens zu huschen – fürs Bummeln im eigentlichen Sinne ist
keine Zeit – und einen Kaffee zu trinken. Es ist schon ein wesentlich
besseres Gefühl als bei meinem ersten Japanaufenthalt. Jetzt kann
ich meinen Cappucino bei Starbucks souverän shooto saizu
bestellen (ja, das ist die japanisierte Version von "short size", was
die Japaner, wenn sie Englisch sprechen, mit small
übersetzen).
Am Bahnhof von Okazaki heißt es wieder ein paar Minuten
warten auf das Auto, das uns mit unserem Gepäck vollends zur
Schule bringt. Ich nutze die Gelegenheit, mir schnell im Kombini ein
o nigiri zu holen, so ein dreieckiges Reisbällchen mit
irgendwas drin. Die Dinger sind echt was schönes gegen den
kleinen Hunger, wenn ich auch in der Hektik die Verpackung nicht
richtig öffne, sodass ich irgendwie das Plastik und den Seetang
nicht richtig getrennt kriege. Da gab es eine ganz besondere
Auswickeltechnik, mit der man das Plastik so raffiniert von dem Ding
abziehen konnte, dass die Seetanghülle in der Hand zum Essen
übrig blieb, das mus ich nochmal üben ...
Kurz nach 16 Uhr endlich bei Yamasa angekommen, heißt es
wieder warten. Ich verstehe Iijima san deutlich besser als letztes
Jahr, als sie mir erklärt, ich solle nach meinem Aufenthalt einen
Fragebogen über die Gastfamilie ausfüllen und ich werde
gegen 5 abgeholt. Genug Zeit, schnell mal in die Aoi Hall
rüberzugehen ... ja, das WLAN funktioniert noch. Das Telefonieren
über Sipgate funktioniert nicht bzw. nur in eine Richtung: Ich
hör leider nix, der andere schon. Skype dagegen klappt prima.
Habe ich wohl aus falsche Pferd gesetzt? Vielleicht muss ich mir noch
den Sypeout-Service holen, um günstig nach Hause telefonieren zu
können.
Zurück im Studentensekretariat warte ich noch eine geschlagene
Stunde auf meine Gastgeberin. Währenddessen erfahre ich, dass
Declan auch am Flughafen war, um mich und zwei weitere
Yamasa-Studenten abzuholen. Und zwar mit dem Auto. Also so ein
winziges bisschen chaotisch erscheint mir die Organisation hier
schon.
Gegen 18 Uhr kommt meine Gastgeberin endlich, lädt mich in ihr
Auto und wir fahren los. Ich solle mir den Weg gut einprägen,
denn ich wolle doch wohl mit dem Fahrrad fahren, oder? Ja, das hatte
ich vor. Und ich darf sogar ein Fahrrad der Familie benutzen. Jetzt
muss ich mir nur noch merken ... oh je, ist das weit. Es geht zwar im
Großen und Ganzen immer geradeaus, aber wenn das mit dem Auto
schon 20 Minuten dauert, dann ist die Fahrzeitschätzung von 30
Minuten wohl recht optimistisch. Es regnet übrigens die ganze
Zeit, was mir die Vorstellung, diese Strecke täglich mit dem
Fahrrad zurückzulegen, auch erst mal nicht sonderlich attraktiv
erscheinen lässt. Aber das wusste ich ja vorher, da muss ich
jetzt durch. Ob ich den Weg mit dem Fahrrad allerdings finden werde,
nachdem ich ihn nur einmal als Beifahrer im Auto gezeigt bekommen
habe, das wird noch eine spannende Frage. So 10 Kilometer dürften
es jedenfalls sein.
Mit meiner Gastgeberin unterhalte ich mich übrignes in einer
Mischung aus Japanisch und Englisch. Wie schon befürchtet –
sie hat als eines ihrer Hobbys Englisch angegeben –, möchte
sie gern ihr Englisch üben, freut sich aber auch immer sichtlich,
wenn ich mal einen korrekten Satz auf Japanisch hinbekommen. Es wird
also hier nicht die ganz harte Tour werden ohne ein einziges
nichtjapanisches Wort, aber ich denke, ich kann trotzdem eine Menge
lernen.
Da ich schon genügend Reiseführer gelesen und vor kurzem
auch die Sendung mit der Maus über Japan gesehen habe, bin ich
auf ein original japanisches Haus gut vorbereitet. Man zieht gleich am
Eingang, im genkan , die Schuhe aus und bewegt
sich im Haus in Pantoffeln. Mein Zimmer ist ein klassisch japanisches,
so mit Schiebetüren und mit Tatami ausgelegt . (Fotos vom nächsten
Tag.) Ihre Pantoffeln lässt meine Gastgeberin beim Betreten der
Tatami im Gang stehen.
Da bin ich nun in meinem neuen Zimmer und weiß erst einmal
nicht recht, was anfangen. Vom Flug noch ziemlich erschöpft, bin
ich auch nicht sonderlich gesprächig. Meine Gastgeberin
erklärt mir, wie man den Tisch aufklappt und hinstellt und wo ich
meine Wäsche lassen kann. Stühle gibt es in einem
japanischen Zimmer natürlich nicht; der Tisch ist flach,
vielleicht 30 Zentimeter hoch, und ich bekomme ein großes
Kissen zum Knien.
Ich frage nach ihrem Ehemann und werde in die Wohnküche
geführt, wo er vor dem Fernseher sitzt. Auch er spricht Englisch,
vielleicht etwas weniger gut als sie, aber als ich mich auf Japanisch
vorstelle, antwortet er auch auf Japanisch. Es wird also von mir
abhängen, ob ich hier mein Japanisch übe oder meinen
Gastgebern als Übungspartner in englischer Konversation diene. Den
Rest des Hauses bekomme ich nicht gezeigt, und fragen mag ich danach
nicht. Immerhin erklärt sie mir jetzt noch Badezimmer und
Toilette.
Die japanische Badewanne ist tief und weniger lang als unsere: Man
kann nicht darin liegen, sondern man hockt. Sie ist mit einem Deckel
abgedeckt, damit das Wasser nicht kalt wird, wenn sich die Familie,
wie in Japan üblich, das Badewasser teilt . Zum Glück hab ich
mit der Sendung mit der Maus gerade meine Kenntnisse aufgefrischt, es
ist alles tatsächlich genau so. (ps hat die Sendung
aufgezeichnet, vielleicht verleiht er ja die DVD :-).) Das gilt auch
für die Toilette , die mit einem
elektrischen High-Tech-Sitz ausgestattet ist. Meine Gastgeberin
erklärt mir die wichtigsten Knöpfe auf dem
Steuerkästchen an der Wand : Deckel rauf, Brille rauf,
Deckel runter, große Spülung, kleine Spülung, das soll
fürs erste genügen. Und natürlich stehen am Eingang der
Toilette die speziellen Klo-Pantoffeln bereit, die man zu
sanitären Anlässen trägt.
Als ich die Toilette später benutze, ist das schon ein
komisches Gefühl. Der Sitz summt nach dem Herunterassen leise und
ist tatsächlich beheizt. Nach dem Hinsetzen fängt irgendwo
weiter hinten etwas an zu zischeln, es passiert aber weiter nichts.
Nach dem Aufstehen brummt die Toilette – erwartungsfroh? –
bis ich die Spülung betätige und mit einem anderen Knopf den
Deckel wieder schließe. Der Spülkasten sieht oben aus wie
ein Mini-Waschbecken: Das Wasser kommt aus einem kleinen Hahn und
läuft dann in den Spülkasten. Ich gehe davon aus, dass das
zum Händewaschen gedacht ist. Praktische Idee eigentlich, da kann
das Schmutzwasser vom Händewaschen gleich recycelt werden. Ich
glaube, ich werde aber sicherheitshalber nochmal fragen. Denn Seife
habe ich in der Nähe der Toilette nicht gesehen, und ich
würde mir die Händer normalerweise doch mit Seife waschen.
Die anderen Knöpfe am Toilettenkontrollpult drücke ich
lieber mal nicht. Wie in der Sendung mit der Maus gesehen, kann man
sich hier anscheinend noch den Hintern abspritzen und trocken
föhnen lassen, außerdem gibt es einen Knopf, der in
Katakana mit masaji beschriftet ist (Massage?!). Ein paar
Abenteuer muss ich mir ja noch für die nächsten Tage
aufheben.
Während die Gastgeberin sich um das Abendessen kümmert,
fange ich in meinem Zimmer an, diese Zeilen zu schreiben. Leider gibts
schon wieder ein technisches Problem: Da habe ich mir nun extra von
Georg einen anderen Adapterstecker ausgeliehen, weil mein alter nicht
in die Japanischen Steckdosen ohne Erdungsloch passt, und jetzt passt
der Stecker meines Notebooks nicht in den Adapter. Der Adapter
dafür aber prima in die Steckdose. Ob ich wohl einen kleinen
chirurgischen Eingriff an Deinem Adapter vornehmen darf, Georg? Na ja,
eine Weile läuft so ein Notebook ja auch mit Akku.
Nach wenigen Absätzen wird mir kalt, das Zimmer ist
anscheinend nicht beheizt. Ich sehe auch nichts, was auf das
Vorhandensein einer Heizung hindeuten würde. (Es ist glaube ich
tatsächlich nicht unüblich, dass es unbeheizte Zimmer gibt,
aber das finde ich auch noch raus.) Na ja, geh ich halt mal in der
Küche vorbeischauen. Dort ist der Hausherr vor dem Fernseher
eingeschlafen und liegt mit dem Oberkörper auf dem Esstisch.
Warum man dort so schön einschlafen kann, kapiere ich sogleich:
Der Tisch ist von unten beheizt. Unter der Tischplatte liegt eine
dicke, gefütterte Heizdecke, unter die man seine Füße
steckt, sodass man es beim Essen angenehm warm hat. Oder beim
Fernsehschlaf. Obwohl die Küche durch die Hitze des Kochens auch
so schon kuschlig warm ist .
Zum Abendessen gibt es viele kleine Schüsselchen mit leckeren
Sachen drin – wie ich das schon gewohnt bin, weiß ich
nicht von allem, was es ist. (Fotos vom Essen gibts nicht, ich wollte
am ersten Abend nicht unhöflich sein.) Ein Schüsselchen mit
grünen Sachen (Brocoli etc.), eines mit eher gelben Sachen
(Fischpastete? Kartoffel?), eines mit dicken, schwarzen,
süßlichen Bohnen, eines mit durchsichtigen, glibberigen
Nudeln (in Wirklichkeit keine Nudeln sonden irgendwelche
Meeresgewächse) und ein extra Tellerchen mit einem Stück
gegrillter Hähnchenhaut (?). Die Gastgeberin fragt mich besorgt,
ob ich das essen kann, aber ja, ich habe in Japan bisher alles essen
können, was man mir vorgesetzt hat, und in Deutschland ess ich
beim Hähnchen die Haut ja auch mit. Das scheinen die Vorspeisen
zu sein, und dann gibts auf einem größeren Teller noch
Kartoffeln und Hühnerfleisch mit Tomatensoße, ein paar
Maiskörnern und werweißwas.
Als das Essen auf dem Tisch steht, erscheint auch die Tochter des
Hauses, Chihiro, 17 Jahre alt. Sie trägt ihre Schuluniform und
ist, abgesehen von einer kurzen Begrüßung, in ihr Handy
vertieft, auf dem sie ununterbrochen herumtippt. Das Phänomen
Handyschmuck hatte ich schon letztes Jahr gewürdigt; bei einer
17-Jährigen ist es noch etwas ausgeprägter. Auch
während des Essens wird zwischendurch immer noch weitergeSMSt
oder auch mal gebannt auf den nebenher laufenden Fernseher geschaut.
Das Kind wird also nicht genötigt, sich anders zu benehmen als
sonst, nur weil ein deutscher Gast da ist ... allgemein scheint mir
die Familie sehr aufgeschlossen und locker drauf zu sein.
Zum Trinken öffnet der Familienvater eine Flasche
choushuu, das scheint etwas Hochprozentiges zu sein, das ich
auf den ersten Blick unter dem einsortiert hätte, was wir Sake
nennen und in Japan nihonshuu heißt. Ich frage nach dem
Unterschied: nihonshuu wird ausschließlich aus Reis
gemacht, choushuu aus Getreide und noch irgendwas. Jedenfalls
verdünnt er es 1:1 mit heißem Wasser, und für mich
schmeckt es ähnlich wie der warme Sake, den man so in asiatischen
Restaurants in Deutschland bekommt.
Obwohl ich davon nur zwei Gläser trinke, leistet der Alkohol
meiner Reisemüdigkeit gewaltigen Vorschub, und ich ziehe mich um
kurz nach 22 Uhr auf meinen Futon zurück. Um 4 Uhr wache ich
putzmunter auf (das war letztes Jahr auch schon so), schreibe an
dieser Tagebuchseite, bis der Akku leer ist und lege mich dann wieder
hin.
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