Nach den unruhigen Stunden um den Sonnenaufgang schlafe ich dann
doch noch einmal tief ein und wache um 9 Uhr auf. Die japanische
Dusche funktioniert, wenn auch der Schlauch nicht lang genug ist, als
dass ich ihn mir im Stehen über den Kopf halten könnte. Aber
der Japaner duscht ja im Sitzen, dafür gibt es das kleine
Höckerchen.
Zum Frühstück toastet mir meine Gastmutter selbst
gebackenes Weißbrot mit Rosinen (sehr lecker, Brot backen ist
eines ihrer Hobbys) und kredenzt mir eine Art Omelette, dazu schwarzen
Tee. Was ich heute für Pläne habe? Nichts Besonderes, ich
werde wohl mit dem Fahrrad losziehen und erst einmal schauen, ob ich
den Weg zur Schule finde. Denn ihn nur einmal als Beifahrer aus dem
Auto gesehen zu haben, erfüllt mich nicht gerade mit Zuversicht.
Immerhin ist es trocken heute – hoffentlich habe ich noch recht
viele regenfreie Tage, denn ich habe natürlich vergessen,
Regenjacke und -hose einzupacken.
Der Vormittag vergeht wie im Fluge mit Tagebuch und Bildbearbeitung
(seit ich im Raw-Format knipse, muss ich an jedem Bild irgendwie
wenigstens ein bisschen rumfummeln, sonst lohnt es sich ja nicht).
Meine Gastgeberin erwartet um 12:30 ihre Englischlehrerin und zwei
weitere Freundinnen, die auch Englisch lernen. Sie hat mir das gestern
schon erzählt und meinte, ich könne mich anschließend
um 14 Uhr noch mit ihr und ihren Freundinnen auf Englisch unterhalten.
Das passt mir aber nun gar nicht mehr in den Kram; ich will jetzt los,
das schöne Wetter nutzen. Sie versichert mir, dass das kein
Problem ist, und obwohl ich nicht ganz sicher bin, breche ich auf.
Erst einmal schieße ich Fotos vom Haus , der Straße vor dem
Haus und dem Fahrrad , das ich freundlicherweise
benutzen darf. Dann gehts los – diesmal schön auf der
linken Straßenseite, die rechte hat ja letztes Jahr kein
Glück gebracht. Obwohl ich wieder mal bemerke, dass sich die
japanischen Radfahrer einen Dreck darum scheren, die fahren links oder
rechts, wie es ihnen gerade passt. Es scheint nicht einmal eine
einheitliche oder wenigstens eine vorherrschende Konvention
darüber zu geben, wie man einander ausweicht, wenn sich zwei
Radfahrer auf einer Seite der Straßenseite oder auf einem Radweg
entgegenkommen. Links, rechts, egal ... mir scheint fast, die Regel
ist, der Ausländer sieht zu wie er ausweicht. Kann das das
Prinzip sein?
Schon nach wenigen hundert Metern gibt es den ersten Anlass zur
Pause, den yamanaka hachiman-Schrein, wie immer zu erkennen an
dem orangefarbenen Eingangstor . Nach einer schmucken
Brücke geht es über eine
düstere, steile, von Steinlaternen gesäumte Treppe hinauf zum
Hauptgebäude . Im Vergleich zu so
manchen von denen, die ich letztes Jahr so gesehen habe, wirkt dieses
gut gepflegt und hübsch bunt angemalt .
Jetzt aber zurück aufs Fahrrad. Einen Kilometer weiter kommt
die erste Unsicherheit. Ich könnte schwören, mit dem Auto
ist meine Gastgeberin hier geradeausgefahren, aber die Strße ist
weg. Beziehungsweise knickt sie nach links ab und macht einen langen,
immer weiteren Bogen, immer weiter nach links ... das kann nicht
sein, und ich kehre um. Der nächste Versuch entpuppt sich nach
ein paar hundert Metern als die Einfahrt in ein Firmengelände,
das war es auch nicht. Schließlich kapiere ich, dass der Weg
tatsächlich durch die scheinbare Vollsperrung führt
da ist eine Baustelle, aber eine Umleitung für
Fußgänger und Radfahrer führt drumrum. Etwa zwei
Kilometer wieder eine Unsicherheit: Auf dem Hinweg ging es immer
geradeaus, aber jetzt gabelt sich die Straße im spitzen Winkel.
Etwas links oder etwas rechts, das ist hier die Frage ... ich
wähle links und bin mir kilometerlang unsicher, ob das eine gute
Wahl war, bis ich endlich ein Gebäude wiedererkenne. Puh, gut,
dass ich einen Tag Zeit hatte, um meinen Schulweg zu üben.
Im Aufenthaltsraum der Schule verbringe ich mehr Zeit als erwartet
am Internet – es dauert halt, bis die Tagebuch-Templates an
ihrem Platz sind, die Bildgalerie angelegt und im richtigen
Verzeichnis ist und das Perl-Skript, das mir die Links
zusammenbieg ... Computer halt. Nicht, dass ich das schon von zu
Hause aus hätte vorbereiten können :-).
Für den Rückweg brauche ich nur noch 40 Minuten und habe
keine Navigationsprobleme mehr. Leider geht es überwiegend
bergauf; das wird ein sportlicher Urlaub.
Nachdem ich mich in meinem Zimmer ein Weilchen mit den Fotos des
Tages beschäftigt habe (wie gefallen Euch die Farben, hab ich zu
übertrieben an den Reglern gedreht?), wird mir kalt so ohne
Heizung, und ich geselle mich mit meinem Japanischbuch zu meiner
Gastgeberin in die Küche. So ein kleines Bisschen Wiederholung
kann vielleicht doch nicht schaden, schließlich möchte ich
morgen beim Einstufungstest eine gute Figur machen. Will ja keine
Klasse wiederholen.
Es ist ganz interessant, ihr beim Kochen zuzuschauen. Sie macht
einen ganz schönen Wirbel, hantiert mit vielen Töpfen und
Pfannen, um wieder einmal lauter Kleinigkeiten zuzubereiten. Als sie
allerdings gyouza mit natto macht, wird mir leicht
mulmig. Wer im letzten Jahr mein Tagebuch gelesen hat, erinnert sich
vielleicht: Bei natto handelt es sich um vergammelte –
Verzeihung, fermentierte Soyabohnen, die klebrige Fäden ziehen
und einen fiesen säuerlichen Geschmack haben.
Als das Essen aber auf dem Tisch steht , bin ich positiv
überrascht. Sie hat das natto nämlich mit
kimuchi gemischt, und in der Kombination finde ich
ausgesprochen lecker. Zu trinken gibt es einen selbst gemixtren
Fruchtlikör, bestehend wohl aus einer Art japanischer Orangen,
mit choushuu aufgesetzt und serviert mit Wasser und Eis
verdünnt. Sehr lecker. Mir fällt allerdings auf, dass sich
eine Eigentümlichkeit japanischer Gastfreundschaft wiederholt,
die ich schon gestern unbewusst wahrgenommen hatte: Ihr Glas ist
doppelt so groß wie meins. Ob das etwas zu bedeuten hat? Und sie
bietet mir kein weiteres an, als ich ausgetrunken habe, und ich bin zu
schüchtern, zu fragen. Man will ja nicht am zweiten Tag gleich
einen schlechten Eindruck machen.
Als wir alles aufgegessen haben und ich eigentlich schon satt bin,
fängt sie wieder an, in der Küche zu wirbeln. Und zwar eine
ganze Weile, nicht nur zwei Minuten. Diesmal gibt es udon, eine
japanische Nudelart . Heute habe ich
übrigens höflich gefragt, ob ich das Essen fotografieren
darf; so richtig sicher bin ich mir nicht, ob das erwünscht ist.
Gastgeberin und Tochter (die sich übrigens ähnlich
ungezwungen benimmt wie gestern) lichte ich später mal irgendwann
ab, denke ich. Ich werde hier jedenfalls hervorragend bekocht; wenn
das jeden Tag so weitergeht, werde ich es schwer vermissen, wenn ich
wieder nach Hause muss.
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