Endlich ist das Schlafdefizit aufgeholt und die Zeitumstellung
vollbracht: Um 9 wache ich auf, das ist für
Urlaubsverhältnisse doch eine gute Zeit zum Aufstehen. Ich bin ja
schließlich in dieses ruhige Städtchen gefahren, um mich zu
erholen, nicht um unbedingt ganz Japan zu besichtigen. Schon schade,
dass Hiko das Wochenende über arbeiten muss und nicht bei mir
sein kann ...
Direkt um die Ecke ist ein Denny's Restaurant. Da ich das letztes
Jahr in Okazaki schon als Frühstückslokal schätzen
gelernt habe, probiere ich es auch diesmal wieder und werde nicht
enttäuscht: Sie haben ungefähr die gleiche Karte. Ich nehme
das große Frühstück mit Misosuppe, Reis, gegrillten
Lachs und ... nach kurzem Zögern ... natto. Was das
betrifft, habe ich mich zwar an den Geschmack gewöhnt, weil es
das im Frühjahr bei meiner Gastfamilie fast zu jedem Abendessen
gab, aber so pur zum Frühstück ist es doch nicht unbedingt
nötig, und ich lasse die Hälfte stehen. Immerhin: Hier hat es
nicht den Anschein als würde sich irgendjemand hinter meinem
Rücken darüber amüsieren, dass der Ausländer
natto isst. Oder er tut es hinter meinem Rücken ;-).
Um kurz vor halb zwölf ist einiges los in dem abgesperrten
Sträßchen, das ich gestern gefunden habe . Der mikoshi steht
in der Mitte , und nachdem jemand eine
kurze Ansprache gehalten hat , von der ich leider kein
Wort verstehe, geht es los . Mit kleinen Schritten im
Gleichschritt, fast hüpfend tragen sie den Schrein durch die
Straßen . Den Verkehr regelt dabei
nicht etwa die Polizei, sondern anscheinend Leute, die zu der Gruppe
gehören .
Als sich der Schrein allmählich dem Bahnhof nähert,
bemerke ich in einer Parallelstraße eine weitere Gruppe mit
einem weiteren mikoshi . Und um die Ecke steht
noch einer . Das scheint wohl eine
größere Veranstaltung zu werden hier. Ein Kinderschrein ist
auch mit von der Partie ... jetzt weiß
ich, wofür da gestern geübt wurde.
Auf dem Bahnhofsvorplatz beziehungsweise in den Straßen dahin
stauen sich immer mehr Schreine , und vor dem Bahnhof steht
eine Bühne, die gestern noch nicht da war. Ich treffe einen
Amerikaner, der mich fragt, was der Sinn des Ganzen ist. Was soll ich
da sagen, ein matsuri halt, ein Shinto-Fest. Was es genau
bedeutet oder wie es heißt ... keine Ahnung. Er fragt immer
wieder Leute auf Englisch danach, wird aber nicht verstanden. Ich
könnte ja auf Japanisch nach dem Sinn der Veranstaltung fragen,
aber irgendwie habe ich keine Lust, eine eventuelle Antwort zu
decodieren. Er verschwindet für eine Weile und hält mir nach
ein paar Minuten stolz einen Zettel under die Nase: fukuro
matsuri – Eulen-Fest. Ja, so viel weiß ich inzwischen
auch, weil ich nämlich das Schild über der Bühne lesen
kann, jedenfalls die großen Zeichen mit dem Titel der
Veranstaltung (ätsch!) . Auf der Bühne steht
momentan eine einsame Sängerin als "Vorgruppe", die aber bald von
einer Gruppe feierlich aussehender älterer Herren abgelöst
wird, von denen zwei eine Ansprache halten .
Dann endlich beginnt die Parade, und alle Schreine prozessieren
nacheinander vor der Bühne vorbei, wobei sie sich besondere
Mühe geben, zu hüpfen, zu schreien, zu jubeln. Viele tragen
noch ein Kind oder einen Jugendlichen (oder beides ) als Galeonsfigur.
Alles Weitere mögen die Fotos erzählen (zur Erinnerung:
Auf den Tagebuchseiten ist nur ein Teil der Fotos eingebaut; die
gesamte Fotogalerie hat eine eigene Navigation, die von jedem
beliebigen Foto aus erreichbar ist). Ich mache nach der Parade ein
Mittagsschläfchen im Ryokan, um dann festzustellen, dass immer
noch Schreine durch das ganze Viertel getragen werden, eine
Trommlergruppe trommelt und überhaupt das ganze Viertel in
matsuri-Stimmung ist. Ich bummle also weiter durch die Stadt,
mal hierhin, mal dorthin, und sehe so viel Spannendes, dass ich gar
nicht auf die Idee komme, in meinem Reiseführer nachzuschlagen,
was man denn sonst mal machen könnte in Tokyo. Ehe ich michs
versehe, ist der Tag rum. Meinen Hunger befriedige ich in einem
japanischen Schnellrestaurant, wo man an einem Automaten sein Essen
auswählt und bezahlt, es aber dann doch von einem Menschen
gebracht bekommt, mit einem Schnitzel Alex – ach nein, doch
nicht ganz .
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