Als ich gegen 10 aufwache, höre ich es draußen regnen.
Hunger habe ich auch noch nicht im geringsten und besondere Lust zu
irgendwas auch nicht, also drehe ich mich nochmal um und schlafe
weiter. Das Spielchen geht so weiter, bis es endlich nicht mehr
regnet. Wir haben gestern wirklich unglaublich viel gegessen,
tabehoudai mussten wir schließlich ausnutzen und
nomihoudai auch.
Draußen zieht eine merkwürdige Prozession um die
Häuser; ich höre die Trillerpfeife schon seit einer ganzen
Weile. An zwei langen Seilen zieht die Gesellschaft einen kleinen
Wagen mit Kindern und einer Trommel drauf durch die
Straßen . Gleich gegenüber von
meiner Herberge steht ein Zelt mit einem mikoshi, einem
tragbaren Shinto-Schrein. Irgendwas ist da im Anmarsch. Aber so
richtig viel ist nicht los; vielleicht üben sie nur?
Ich komme nicht umhin, noch einmal zu fotografieren, wie
unglaublich verschandelt manche Ecken doch durch oberirdisch verlegte
Leitungen sind . Nach dem Essen erkunde ich weiter die
Nachbarschaft meiner Herberge. Ehe man sichs versieht, wird es auch
schon wieder dunkel; das kommt davon, wenn man den halben Tag
schläft. Aber irgendwie steckte mir die Zeitverschiebung doch
noch in den Knochen.
Eine Straße ist mit Laternen behängt und für Autos
gesperrt, was mag da wohl los sein ? Ah, ein weiterer
mikoshi, diesmal einer für Erwachsene . Und eine Art
Empfang (die beiden Schriftzeichen
in der Mitte des Bildes kommen mir so vor wie uketsuke,
Rezeption, und wie ich beim Tagebuchschreiben an Hand meines
Wörterbuchs feststelle, habe ich mich nicht getäuscht. Ich
lese (!) auf einem Schild, dass morgen um 11:30 die Parade zum
Bahnhofsvorplatz beginnt. Aha, dann ist das heute vermutlich die
Anmeldung für die Leute, die mitmachen wollen. Oder die
Spendenannahmestelle für den Schrein. Oder wahrscheinlich beides
in einem. Ich beobachte jedenfalls, wie ein neues Täfelchen an
die große Tafel hinter dem Schrein gesteckt wird; habe letztes
Jahr von Declan gelernt, dass auf solchen Tafeln üblicherweise
die Namen der Spender stehen.
Als nächstes brauche ich einen Internet-Zugang. Wär doch
gelacht, wenn es in Tokyo keine WLANs gäbe. Da ein leichter
Nieselregen eingesetzt hat, wähle ich eine überdachte Treppe
neben einem Schild, auf dem in Katakana was von akademii und in
lateinischen Buchstaben "Success18" steht. Und Bingo! Ich empfange 4
WLANs, davon ein offenes, das mir eine IP-Nummer gibt und mich
ins Internet lässt. Sehr touristenfreundliches Land, Japan.
Hiermit erkläre ich diese Treppe zu meinem neuen
Internet-Cafe . Und praktischerweise ist
sie keine 100 Meter von meiner Herberge entfernt!
Nachdem ich die erste Tagebuchseite und die ersten Fotos ins Netz
gestellt und all meine E-Mails gesichtet habe, ziehe ich mich in meine
Unterkunft zurück. Der Nieselregen dauert an; heute ist einfach
ein Tag zum zu Hause Bleiben. Ich schlüpfe in meinen
yukata , bearbeite die
nächsten Bilder und schreibe die nächste Tagebuchseite.
Man könnte auf den ersten Blick meinen, ein Yukata wäre
ein Bademantel. Aber es handelt sich durchaus um
gesellschaftsfähige Kleidung; die Leute im Ryokan (auch Japaner,
obwohl hier fast nur Ausländer sind) laufen damit rum. Man kann
einen Yukata auch auf der Straße tragen, jedenfalls zu
traditionellen Anlässen wie einem matsuri. Natürlich
käme ich nicht im Traum auf die Idee, im Yukata meine Herberge zu
verlassen. Bin ja Ausländer.
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