23.09., Karaoke und shabushabu tabehoudai

Ich wache um 4 Uhr auf und bin putzmunter – wie bei meinen beiden anderen Japanreisen auch. Was mach ich jetzt nur? Ich geh runter in den Aufenthaltsraum und hole mir eine Tasse grünen Tee; den gibts hier kostenlos für alle Gäste. Ist aber irgendwie nicht das Richtige, um müde zu werden. Nach einer halben Stunde beschließe ich, ein Bier zu trinken; praktischerweise gibts im Aufenthaltsraum einen Automaten. Nach dem zweiten Bier fühle ich mich endlich wieder müde ... gute Nacht.

Als ich zum zweiten Mal aufwache, ist es 11:50 Uhr, jetzt aber raus aus den Federn! So viel zum Thema Hiko anrufen um 10. Nachdem ich geduscht habe, verabrede ich mich mit Hiko um 13 Uhr in Shinjuku. Er hat sich schon gedacht, dass ich ausschlafen musste. Habe einen Mordshunger; gestern Abend habe ich ja das Abendessen weggelassen. Wir gehen daher erst einmal für mich was zu essen suchen. Es soll gleich was Deftiges sein, und ich lerne bei der Gelegenheit wieder ein neues Wort aus vier Kanji: gyuuyakinikudon, eine Schüssel Reis mit gebratenem Rindfleisch. oomori, große Portion.

Wir spazieren halbwegs ziellos durch Shinjuku, was ich denn sehen will von Tokyo? Das Rathaus? Ich weiß nicht recht ... eigentlich ist mir das hier alles noch zu viel; ich leide wieder unter totaler Reizüberflutung. Ost-Shinjuku ist natürlich nicht gerade die ruhigste Ecke von Tokyo. Wollen wir nicht in einen Park gehen und etwas ausruhen? Immerhin kenne ich mich hier vom letzten Jahr her schon aus und lotse Hiko die Straße entlang, wo letztes Jahr "mein" Hotspot war. Die Straße ist heute für Autos gesperrt, was mir erst so richig auffällt, als ich fassungslos eine Gruppe von Japanern beobachte, die mitten auf der Straße ihre Hunde einander beschnuppern lassen Foto dazu. Aber als ich meinen Blick davon löse, sehe ich, dass alle Leute auf der Straße laufen Foto dazu; letztes Jahr war hier noch keine Fußgängerzone.

Das offene WLAN am Blumenkübel funktioniert noch, und ich schaue kurz durch meine E-Mail, während Hiko sich in einem der Geschäfte umsieht. Was nun? Hiko schlägt vor, Karaoke zu machen. Ach du Schande, ausgerechnet! Sich öffentlich zum Affen machen, indem man singt? Andererseits habe ich das noch nie gemacht ... wer weiß, vielleicht macht es ja tatsächlich Spaß. Hiko kennt einen guten Karaoke-Laden in Shibuya, und überhaupt findet er Shinjuku viel zu groß und zu geschäftig. Shibuya sei viel ruhiger und schöner. Also gut, fahren wir nach Shibuya.

Ich habe Shibuya auch letztes Jahr schon besucht und habe es überhaupt nicht im Geringsten als ruhig in Erinnerung, aber gut. Fast denke ich, Hiko will mich veräppeln, als wir aus dem Bahnhof kommen und uns durch eine unglaubliche Masse von Japanern wuseln. Doch, doch, Shibuya ist viel kleiner und ruhiger, das meint er ernst.

Erst mal gehen wir einen Cappucino trinken. Beziehungsweise ein Güntee-Eis mit Sahne Foto dazu; hmm, das würde mir im Prinzip auch schmecken, aber irgendwie ist mir jetzt ein ganz gewöhnlicher Cappucino doch lieber. Wir sitzen im ersten Stock am Fenster und können auf eine kleine Kreuzung im ruhigen Shibuya herabsehen Foto dazu. Vielleicht ist es wirklich ein kleines bisschen ruhiger als Ost-Shinjuku.

Jetzt wirds ernst: Karaoke. Vor 18 Uhr ist es billiger, wir haben also noch zwei Stunden. Zwei Stunden!? Äh, also, hmm ... zwei ganze Stunden lang soll ich singen? Können wir vielleicht doch eher nur eine ... öhem. Karaoke World ZIO, das ist Hikos Geheimtipp Foto dazu Foto dazu. Ich kriege sogar ungefähr mit, wie er am Empfang sagt, dass wir noch nicht genau wissen, wie lange wir bleiben wollen und erst einmal nur für eine Stunde buchen wollen. Mit dem Aufzug gehts in den siebten Stock (nach japanischer Zählweise; wir würden sagen in den sechsten), und während der Fahrt wird es plötzlich dunkel und fluoreszierende Wandmalereien leuchten auf ... wie in der Geisterbahn.

Karaoke findet, und das wusste ich vorher, sonst hätte ich mich nicht darauf eingelassen, im Allgemeinen nicht in der breiten Öffentlichkeit statt, sondern man mietet eine Karaoke-Box, ein kleines Zimmer, das eine Handvoll Leute fasst (vielleicht gibts auch größere, keine Ahnung, ist mein erstes Mal heute). Ich bin also mit Hiko allein in der Karaoke-Box und brauche mich allenfalls vor ihm zu schämen. Ich habe irgendwo gelesen, dass so eine Karaoke-Box ein willkommener Ort ist, an dem sich junge Pärchen näherkommen können ... kann ich mir vorstellen. Aber der Raum ist videoüberwacht (auf dem Foto Foto dazu habe ich von der Kamera rechts oben nur das Anschlusskabel erwischt), also keine Ferkeleien in der Karaoke-Box.

Es gibt telefonbuchdicke Kataloge mit Liedern, die man singen kann Foto dazu, und eine Bedienungsanleitung, die ich ohne Hiko wahrscheinlich nicht verstanden hätte Foto dazu. Im Wesentlichen sucht man sich aus dem Telefonbuch einen Titel aus, gibt die Nummer ein Foto dazu und schon darf man singen. Hiko fängt an und singt was Japanisches, und dann soll ich. Oh weh, was mach ich nur? Soll ich wirklich ...? Hiko hat für mich im Karaoke-Telefonbuch das Kapitel mit den englischsprachigen Titeln aufgeschlagen, und mir springt "Hello" von Lionel Richie ins Auge. Eine Schnulze aus meiner Jugend, bei der ich mich wenigstens zuverlässig an die Melodie erinnere. Also los.

Es ist wirklich eine interessante Erfahrung, in dieser Situation Liebeslieder zu singen. Die Karoke-Anlage blendet den Text ein und hebt die Wörter synchron hervor und legt außerdem einen gnädigen Hall-Effekt über die Stimme des Sängers. Die Wahl des Liedes erweist sich allerdings als problematisch, weil das Nachsingen einer Liebesschnulze aus der Jungendzeit doch heftige Gefühle weckt ... Als nächstes nehm ich Rock you like a hurricane von den Scorpions, das fällt leichter.

Nach der ersten halben Stunde habe ich mich beruhigt und finde großen Gefallen an Karaoke. Hiko singt sehr schön, und es ist einfach eine sehr individuelle Art, gemeinsam Musik zu hören. Ich singe nicht ganz so gut, aber Hiko lobt mich hinterher, dass ich die Töne treffe (wenn ich die Melodie gerade kenne). Immerhin, das krieg ich hin, ganz unmusikalisch bin ich ja nicht. Als nach einer knappen Stunde das Telefon klingelt und die Rezeption das Ende unserer Zeit ankündigt, verlängert Hiko noch um eine Stunde. Auch die vergeht im Fluge, Karaoke ist toll! Wer hätte das gedacht? Wenn ich so überlege ... Sushi zu essen konnte ich mir ja auch nicht vorstellen, bevor ich es das erste Mal gemacht habe.

Als wir fertig sind, erklärt mir Hiko, dass Karaoke eine Abkürzung ist: kara ookesutora – leeres Orchester. (Kara heißt leer, wie in Karate, leere Hand.) Aha, schon wieder was gelernt. Ich setze gedanklich kara auf die Liste der zu lernenden Kanji, te kenn ich schon.

Und wieder diese Unentschlossenheit ... was machen wir jetzt mal? Es ist zwar meiner Meinung nach noch zu früh zum Abendessen, aber ich deute schonmal zaghaft an, dass wir über diese Frage nachdenken könnten. Während wir so nachdenken, schlendern wir durch die Gegend östlich vom Bahnhof Shibuya. Als ich Hiko erzähle, dass ich letztes Jahr mit Declan und der kleinen Reisegruppe in Harajuku shabushabu essen war und das so toll fand, ist er Feuer und Flamme, ja, shabushabu, da kennt er ein gutes Restaurant. Das ist allerdings in West-Shinjuku. Kein Problem, fahren wir halt wieder nach Shinjuku. (Für Nicht-Tokyo-Kenner: Das ist drei U-Bahn-Stationen oder 150 Yen (1,11 Euro) weit weg.

Shabushabu ist so eine Art Fondue: Man bekommt verschiedene Fleisch- und Gemüsesorten und kocht sie am Tisch in Wasser, nicht in Öl. Dazu gibt es Soßen, Schnittlauch und Rettich. In diesem Restaurant wird tabehoudai angeboten: essen, so viel man kann. Das klingt gut, ich habe schon wieder Hunger. Hiko erkundigt sich, ob es auch nomihoudai gibt: trinken bis zum Abwinken. Ja, für 1000 Yen pro Person (7,50 Euro) können wir trinken, so viel wir wollen. Nur kein Bier vom Fass (das würde 1500 Yen kosten), aber Flaschenbier ist OK. Das klingt ja gut.

Wir schlagen uns so richtig den Bauch voll; endlich lächelt Hiko auch mal vor der Kamera Foto dazu :-). Um 21 Uhr kommt dann die Ernüchterung, wie, letzte Bestellung? Ja, um 21 Uhr ist letzte Bestellung und um 22 Uhr schließt das Gebäude, bis dahin müssen wir hier raus sein. So viel zum Thema essen und trinken, so viel man will. Ok, gegessen haben wir allmählich wirklich genug, wir haben drei Runden von allem geschafft, also drei Teller Rindfleisch, Schweinefleisch, Geflügel und Gemüse.

Mir fällt auf, das Hiko viel höflicher spricht, wenn die weibliche Bedienung an den Tisch kommt. Ja, irgendwie gehört sich das, wenn eine ältere Dame im Kimono (!) an den Tisch kommt. Ob ich es je lernen werde, die angemessene Höflichkeitsstufe zu finden? Wahrscheinlich nicht.

Spannend übrigens auch das Gespräch am Nachbartisch. Hiko erzählt mir zwischendurch immer wieder auf Deutsch, was sich da gerade für eine dramatische Szene abspielt: Sie liebt einen anderen und er versucht verzweifelt, sie zu halten. Sie hat auch schon mit dem anderen geschlafen, ach, ach, das kann ich jetzt gar nicht alles im Detail niederschreiben, aber die netteste Wendung zum Schluss möchte ich meinen Lesern nicht vorenthalten: Als sie gerade auf der Toilette ist, sitzt er völlig niedergeschlagen an seinem Tisch, den Kopf auf die Arme gestützt und sagt zur Bedienung: Ach, das Leben ist schwierig (oder so). Und sie meint, vielleicht hilft da ein kaltes Getränk, und bringt ihm ein Glas Eiswasser. Sehr aufmerksam, die Japaner ...

Hiko und ich legen uns in einem nahegelegenen Park auf die Wiese und schauen mit unserem vollgefressenen Bauch eine halbe Stunde lang in den Himmel Foto dazu, bevor wir uns trennen und nach Hause fahren. totemo tanoshii ichinichi deshita (Das war ein sehr schöner Tag).

 

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©2005 by Harald Bögeholz