Ich wache um 4 Uhr auf und bin putzmunter – wie bei meinen
beiden anderen Japanreisen auch. Was mach ich jetzt nur? Ich geh
runter in den Aufenthaltsraum und hole mir eine Tasse grünen Tee;
den gibts hier kostenlos für alle Gäste. Ist aber irgendwie
nicht das Richtige, um müde zu werden. Nach einer halben Stunde
beschließe ich, ein Bier zu trinken; praktischerweise gibts im
Aufenthaltsraum einen Automaten. Nach dem zweiten Bier fühle ich
mich endlich wieder müde ... gute Nacht.
Als ich zum zweiten Mal aufwache, ist es 11:50 Uhr, jetzt aber raus
aus den Federn! So viel zum Thema Hiko anrufen um 10. Nachdem ich
geduscht habe, verabrede ich mich mit Hiko um 13 Uhr in Shinjuku. Er
hat sich schon gedacht, dass ich ausschlafen musste. Habe einen
Mordshunger; gestern Abend habe ich ja das Abendessen weggelassen. Wir
gehen daher erst einmal für mich was zu essen suchen. Es soll
gleich was Deftiges sein, und ich lerne bei der Gelegenheit wieder ein
neues Wort aus vier Kanji: gyuuyakinikudon, eine Schüssel
Reis mit gebratenem Rindfleisch. oomori, große
Portion.
Wir spazieren halbwegs ziellos durch Shinjuku, was ich denn sehen
will von Tokyo? Das Rathaus? Ich weiß nicht recht ... eigentlich
ist mir das hier alles noch zu viel; ich leide wieder unter totaler
Reizüberflutung. Ost-Shinjuku ist natürlich nicht gerade die
ruhigste Ecke von Tokyo. Wollen wir nicht in einen Park gehen und
etwas ausruhen? Immerhin kenne ich mich hier vom letzten Jahr her
schon aus und lotse Hiko die Straße entlang, wo letztes Jahr
"mein" Hotspot war. Die Straße ist heute für Autos
gesperrt, was mir erst so richig auffällt, als ich fassungslos
eine Gruppe von Japanern beobachte, die mitten auf der Straße
ihre Hunde einander beschnuppern lassen . Aber als ich meinen Blick
davon löse, sehe ich, dass alle Leute auf der Straße
laufen ; letztes Jahr war hier
noch keine Fußgängerzone.
Das offene WLAN am Blumenkübel funktioniert noch, und ich
schaue kurz durch meine E-Mail, während Hiko sich in einem der
Geschäfte umsieht. Was nun? Hiko schlägt vor, Karaoke zu
machen. Ach du Schande, ausgerechnet! Sich öffentlich zum Affen
machen, indem man singt? Andererseits habe ich das noch nie gemacht
... wer weiß, vielleicht macht es ja tatsächlich
Spaß. Hiko kennt einen guten Karaoke-Laden in Shibuya, und
überhaupt findet er Shinjuku viel zu groß und zu
geschäftig. Shibuya sei viel ruhiger und schöner. Also gut,
fahren wir nach Shibuya.
Ich habe Shibuya auch letztes Jahr schon besucht und habe es
überhaupt nicht im Geringsten als ruhig in Erinnerung, aber gut.
Fast denke ich, Hiko will mich veräppeln, als wir aus dem Bahnhof
kommen und uns durch eine unglaubliche Masse von Japanern wuseln.
Doch, doch, Shibuya ist viel kleiner und ruhiger, das meint er
ernst.
Erst mal gehen wir einen Cappucino trinken. Beziehungsweise ein
Güntee-Eis mit Sahne ; hmm, das würde mir
im Prinzip auch schmecken, aber irgendwie ist mir jetzt ein ganz
gewöhnlicher Cappucino doch lieber. Wir sitzen im ersten Stock am
Fenster und können auf eine kleine Kreuzung im ruhigen Shibuya
herabsehen . Vielleicht ist es
wirklich ein kleines bisschen ruhiger als Ost-Shinjuku.
Jetzt wirds ernst: Karaoke. Vor 18 Uhr ist es billiger, wir haben
also noch zwei Stunden. Zwei Stunden!? Äh, also, hmm ... zwei
ganze Stunden lang soll ich singen? Können wir vielleicht doch
eher nur eine ... öhem. Karaoke World ZIO, das ist Hikos
Geheimtipp . Ich kriege sogar
ungefähr mit, wie er am Empfang sagt, dass wir noch nicht genau
wissen, wie lange wir bleiben wollen und erst einmal nur für eine
Stunde buchen wollen. Mit dem Aufzug gehts in den siebten Stock (nach
japanischer Zählweise; wir würden sagen in den sechsten),
und während der Fahrt wird es plötzlich dunkel und
fluoreszierende Wandmalereien leuchten auf ... wie in der
Geisterbahn.
Karaoke findet, und das wusste ich vorher, sonst hätte ich
mich nicht darauf eingelassen, im Allgemeinen nicht in der breiten
Öffentlichkeit statt, sondern man mietet eine Karaoke-Box, ein
kleines Zimmer, das eine Handvoll Leute fasst (vielleicht gibts auch
größere, keine Ahnung, ist mein erstes Mal heute). Ich bin
also mit Hiko allein in der Karaoke-Box und brauche mich allenfalls
vor ihm zu schämen. Ich habe irgendwo gelesen, dass so eine
Karaoke-Box ein willkommener Ort ist, an dem sich junge Pärchen
näherkommen können ... kann ich mir vorstellen. Aber der
Raum ist videoüberwacht (auf dem Foto habe ich von der Kamera
rechts oben nur das Anschlusskabel erwischt), also keine Ferkeleien in
der Karaoke-Box.
Es gibt telefonbuchdicke Kataloge mit Liedern, die man singen
kann , und eine
Bedienungsanleitung, die ich ohne Hiko wahrscheinlich nicht verstanden
hätte . Im Wesentlichen sucht man
sich aus dem Telefonbuch einen Titel aus, gibt die Nummer ein und schon darf man singen.
Hiko fängt an und singt was Japanisches, und dann soll ich. Oh
weh, was mach ich nur? Soll ich wirklich ...? Hiko hat für mich
im Karaoke-Telefonbuch das Kapitel mit den englischsprachigen Titeln
aufgeschlagen, und mir springt "Hello" von Lionel Richie ins Auge.
Eine Schnulze aus meiner Jugend, bei der ich mich wenigstens
zuverlässig an die Melodie erinnere. Also los.
Es ist wirklich eine interessante Erfahrung, in dieser Situation
Liebeslieder zu singen. Die Karoke-Anlage blendet den Text ein und
hebt die Wörter synchron hervor und legt außerdem einen
gnädigen Hall-Effekt über die Stimme des Sängers. Die
Wahl des Liedes erweist sich allerdings als problematisch, weil das
Nachsingen einer Liebesschnulze aus der Jungendzeit doch heftige
Gefühle weckt ... Als nächstes nehm ich Rock you like a
hurricane von den Scorpions, das fällt leichter.
Nach der ersten halben Stunde habe ich mich beruhigt und finde
großen Gefallen an Karaoke. Hiko singt sehr schön, und es
ist einfach eine sehr individuelle Art, gemeinsam Musik zu hören.
Ich singe nicht ganz so gut, aber Hiko lobt mich hinterher, dass ich
die Töne treffe (wenn ich die Melodie gerade kenne). Immerhin,
das krieg ich hin, ganz unmusikalisch bin ich ja nicht. Als nach einer
knappen Stunde das Telefon klingelt und die Rezeption das Ende unserer
Zeit ankündigt, verlängert Hiko noch um eine Stunde. Auch
die vergeht im Fluge, Karaoke ist toll! Wer hätte das gedacht?
Wenn ich so überlege ... Sushi zu essen konnte ich mir ja auch
nicht vorstellen, bevor ich es das erste Mal gemacht habe.
Als wir fertig sind, erklärt mir Hiko, dass Karaoke eine
Abkürzung ist: kara ookesutora – leeres Orchester.
(Kara heißt leer, wie in Karate, leere Hand.) Aha, schon wieder
was gelernt. Ich setze gedanklich kara auf die Liste der zu
lernenden Kanji, te kenn ich schon.
Und wieder diese Unentschlossenheit ... was machen wir jetzt mal?
Es ist zwar meiner Meinung nach noch zu früh zum Abendessen, aber
ich deute schonmal zaghaft an, dass wir über diese Frage
nachdenken könnten. Während wir so nachdenken, schlendern
wir durch die Gegend östlich vom Bahnhof Shibuya. Als ich Hiko
erzähle, dass ich letztes Jahr mit Declan und der kleinen
Reisegruppe in Harajuku shabushabu essen war und das so toll
fand, ist er Feuer und Flamme, ja, shabushabu, da kennt er ein
gutes Restaurant. Das ist allerdings in West-Shinjuku. Kein Problem,
fahren wir halt wieder nach Shinjuku. (Für Nicht-Tokyo-Kenner:
Das ist drei U-Bahn-Stationen oder 150 Yen (1,11 Euro) weit weg.
Shabushabu ist so eine Art Fondue: Man bekommt verschiedene
Fleisch- und Gemüsesorten und kocht sie am Tisch in Wasser, nicht
in Öl. Dazu gibt es Soßen, Schnittlauch und Rettich. In
diesem Restaurant wird tabehoudai angeboten: essen, so viel man
kann. Das klingt gut, ich habe schon wieder Hunger. Hiko erkundigt
sich, ob es auch nomihoudai gibt: trinken bis zum Abwinken. Ja,
für 1000 Yen pro Person (7,50 Euro) können wir trinken, so
viel wir wollen. Nur kein Bier vom Fass (das würde 1500 Yen
kosten), aber Flaschenbier ist OK. Das klingt ja gut.
Wir schlagen uns so richtig den Bauch voll; endlich lächelt
Hiko auch mal vor der Kamera :-). Um 21 Uhr kommt dann
die Ernüchterung, wie, letzte Bestellung? Ja, um 21 Uhr ist
letzte Bestellung und um 22 Uhr schließt das Gebäude, bis
dahin müssen wir hier raus sein. So viel zum Thema essen und
trinken, so viel man will. Ok, gegessen haben wir allmählich
wirklich genug, wir haben drei Runden von allem geschafft, also drei
Teller Rindfleisch, Schweinefleisch, Geflügel und
Gemüse.
Mir fällt auf, das Hiko viel höflicher spricht, wenn die
weibliche Bedienung an den Tisch kommt. Ja, irgendwie gehört sich
das, wenn eine ältere Dame im Kimono (!) an den Tisch kommt. Ob
ich es je lernen werde, die angemessene Höflichkeitsstufe zu
finden? Wahrscheinlich nicht.
Spannend übrigens auch das Gespräch am Nachbartisch. Hiko
erzählt mir zwischendurch immer wieder auf Deutsch, was sich da
gerade für eine dramatische Szene abspielt: Sie liebt einen
anderen und er versucht verzweifelt, sie zu halten. Sie hat auch schon
mit dem anderen geschlafen, ach, ach, das kann ich jetzt gar nicht
alles im Detail niederschreiben, aber die netteste Wendung zum Schluss
möchte ich meinen Lesern nicht vorenthalten: Als sie gerade auf
der Toilette ist, sitzt er völlig niedergeschlagen an seinem
Tisch, den Kopf auf die Arme gestützt und sagt zur Bedienung:
Ach, das Leben ist schwierig (oder so). Und sie meint, vielleicht
hilft da ein kaltes Getränk, und bringt ihm ein Glas Eiswasser.
Sehr aufmerksam, die Japaner ...
Hiko und ich legen uns in einem nahegelegenen Park auf die Wiese
und schauen mit unserem vollgefressenen Bauch eine halbe Stunde lang
in den Himmel , bevor wir uns trennen und
nach Hause fahren. totemo tanoshii ichinichi deshita (Das war
ein sehr schöner Tag).
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