21.06., Erste Gehversuche in gyousho

Nach abermals viel Schlaf scheint die Japangrippe heute weitegehend ausgestanden zu sein, zum Glück. Heute steht nämlich wieder ein Highlight meiner Reise an, Kalligraphieunterricht. Das ist mir vor allem deshalb so wichtig, weil ich in Deutschland immer noch keinen Lehrer gefunden habe. Ich muss also schauen, dass ich so viel wie möglich aus Japan mitnehme, denn zu Hause bleibt mir bis auf Weiteres nur das Selbststudium. Und ich möchte das wirklich lernen, finde es total faszinierend!

Chandra und ich lassen den Tag langsam angehen und machen uns erst gegen 14 Uhr auf die Reise, sodass wir erst um 16 Uhr bei der Meisterin eintreffen. Ich sage ihr heute, dass mir irgendwie noch nicht klar ist, wie ich einem Kanji ansehe, welcher Strich in welchem Stil zu sein hat. Die waagerechten beispielsweise enden manchmal mit so einem resoluten Knubbel, oft aber auch nicht. Und bei einem Zeichen wie aka (rot) sind die letzten vier Striche alle verschieden, woher weiß man, welcher welcher ist?

Ok, üben wir das nochmal am Zeichen sho (schreiben, erstes Zeichen von shodou, Kalligraphie) Foto dazu. Eigentlich ist so gut wie immer nur der längste, wichtigste Strich mit so einem Knubbel betont. Andernfalls würde das Zeichen zu gewichtig. Gut, das ist in diesem Fall der zweite, so weit klar.

Nebenbei ist es natürlich auch wieder interessant, dem Treiben in dieser Schule zuzusehen. Die Schüler(innen) praktizieren verschiedenste Schreibstile und werden abwechselnd von der Meisterin instruiert. Ein Mädel schreibt auf einem langen Papier anscheinend etwas Koreanisches. Das Blatt ist so lang, dass sie zum Schreiben drauf rumlaufen muss Foto dazu.

Etliche Schüler bekommen heute Arbeiten ausgehändigt, die auf so eine schmucke Schriftrolle aufgezogen wurden, wie ich auch eine in meinem Zimmer hängen habe. Der Japaner neben mir appliziert mit äußerster Konzentration und nachdem er sich mit der Meisterin über die optimale Positionierung verständigt hat zwei dieser roten Namensstempel auf seiner Rolle Foto dazu Foto dazu Foto dazu. Eine Schriftrolle, auf der anscheinend nur ein einziges, sehr ausgedehntes (koreanisches) Hangul-Zeichen geschrieben steht, findet das aufmerksame Auge der Meisterin und sie schlägt den besten Platz für den Stempel vor Foto dazu.

Zwischendurch gab es sogar einen kleinen Imbiss in Form einer Scheibe Toastbrot mit einer Art Windbeutel, dazu ein glas kalten Tee Foto dazu. So lässt es sich aushalten, zumal heute auch die Klimaanlage an ist, sodass man nicht schwitzen muss.

Als die Meisterin wieder Zeit für mich hat, habe ich etliche Blätter mit sho vollgemalt und sie ist sehr zufrieden. Ich bitte sie, ob ich mich vielleicht als Nächstes mal an dem Schriftzeichen für Go versuchen darf. Kann mir als Go-Spieler bestimmt nicht schaden, wenn ich dieses Zeichen schön schreiben kann.

Sie zeigt es mir aber überraschenderweise nicht nur in dem Blockschrift-artigen Schreibstil kaisho, den ich bisher praktiziere und mit dem sich Anfänger dem Vernehmen nach lange Zeit auseinandersetzen, bevor sie die höheren Weihen erlangen, sondern auch in gyousho, der Semikursivschrift, in der die Linien fließender, die Zeichen aber trotzdem noch halbwegs lesbar sind.

Nach meinem ersten, ziemlich lausigen Versuch, die beiden Stile auf einem Blatt zu schreiben (kaisho geht halbtwegs, aber für gyousho habe ich noch überhaupt kein Gefühl) Foto dazu meint sie, nein nein, erstmal nur das eine. Erst als sie damit zufrieden ist, versuche ich mein Glück weiter mit gyousho. Da ich wenig Erklärungen dazu bekommen habe, nur eine einmalige Vorführung, fällt es schwer, sich da heranzutasten. Aber nach ein paar Versuchen macht ein Mädel am Nachbartisch eine anerkennende Bemerkung und meint, ich solle das sensei zeigen. Wirklich, das ist jetzt schon auch nur ansatzweise gut Foto dazu?

Zwischendurch gibt es wieder Abendessen, das scheint hier fest zum Programm zu gehören. Eine Schüssel mit Tofu, Muscheln und werweißwas, sehr lecker Foto dazu. Anschließend gleich weiter mit dem Go-Zeichen in gyousho. Ich habe nicht den Eindruck, dass ich es wirklich verstanden habe, aber die Meisterin lobt es (indem sie einen Kringel mit Blümchen draufmalt und sogar noch yoroshii draufschreibt) und gibt mir eine neue Aufgabe Foto dazu.

Als sie das Blatt vollschreibt, kann ich mir allerdings nicht recht vorstellen, dass das wirklich als Aufgabe für mich gedacht ist. Vor allem als sie anfängt, mit ihrem fetten Schreibpinsel (das ganze Blatt ist mit demselben Pinsel geschrieben!) die vier kleinen Zeichen links unten zu schreiben, die mein Name in Kanji sind (hararudo), da kann ich kaum fassen, wie das geht und mir schon gar nicht vorstellen, das selbst hinzukriegen. Ich sage ihr, dass ich nicht glaube, das schaffen zu können, doch sie antwortet nur ganbattene. Ganbatte bedeutet so viel wie durchhalten, sich anstrengen, nicht aufgeben, ein Ausdruck, den man oft hört in der japanischen Gesellschaft und wahrscheinlich einer ihrer Grundwerte. Aber ich, mit dem fetten Pinsel, diese winzigen Zeichen, wie soll das gehen? Außerdem hat sie diesmal keine Anstalten gemacht, die Striche für mich zu nummerieren (ok, das brauch ich normalerweise wirklich nicht mehr, obwohl ich bei dem altertümlichen Schriftzeichen rechts oben (gaku, lernen, studieren) doch froh bin, zugeschaut zu haben.

Ich meditiere einige Minuten lang über der Vorlage, versuche mir vorzustellen, wie sie den Pinsel geführt haben könnte, um das hinzukriegen, und versuche es dann mit äußerster Konzentration. Fast etwas erschöpft lege ich nach einigen Minuten den Pinsel zur Seite und mache ein Foto von meinem allerersten Versuch Foto dazu. Ich bin doch selbst überrascht, dass er durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit der Vorlage aufweist, wenn ich auch bei weitem noch nicht so zufrieden bin, dass ich der Meisterin das vorlegen würde. Erst einmal entspanne ich mich ein bisschen, schaue zu, wie am Nachbartisch ein rundes Bild mit einem Gesicht entsteht, das, so vermute ich jedenfalls, aus koreanischen Hangul-Zeichen besteht Foto dazu. Hat jedenfalls die Anmutung.

Weiter gehts mit meinem eigenen Werk. Ich schreibe es etliche Male, bevor ich es ihr zur Korrektur vorlege Foto dazu. Für das linke obere Zeichen (kokorozashi, Absicht, Gesinnung) ernte ich einen erstaunten Ausruf und ein Blümchen, das scheint mir besonders gut gelungen zu sein. Am Rest hat sie noch Einiges zu verbessern.

So fliegt die Zeit dahin, bis ich um kurz vor halb neun beschließe, dass dies mein letzter Versuch ist Foto dazu. Vor allem die vier kleinen Kanji links unten kosten eine immense Willenskraft, damit die Linien nicht zu dick werden (wie dick der Pinsel eigentlich ist, kann man ja oben beim kokorozashi sehen). Auch hier findet die Meisterin mein kokorozashi besonders gelungen, ich kriege aber auch Blümchen auf meinen Namen unten links und das son unten rechts gemalt, nur mit gaku oben rechts ist sie immer noch nicht zufrieden.

Ach ja, was heißt das eigentlich, was ich da geschrieben habe? Die drei großen Zeichen bedeuten für sich genommen lernen, Bescheidenheit, Gesinnung, und Chandra erklärt mir, dass man sich den Rest dazwischen denken muss: Um lernen zu können, muss man eine bescheidene Geisteshaltung einnehmen. Wie wahr. Die vier kleinen Zeichen sind wie gesagt mein Name

Eigentlich hatte ich Hiko geschrieben, dass ich ab 19 Uhr Zeit hätte und mich auf ein gemeinsames Abendessen freue. Aber gegen 18 Uhr kam eine SMS von ihm mit einer Absage, und ich muss im Nachhinein sagen, dass ich doch sehr froh bin, diese letzten anderthalb Stunden lang noch intensiv geübt zu haben. Denn in Deutschland habe ich wie gesagt noch keinen Meister gefunden.

Nach der förmlichen Verabschiedung mit Verbeugung bis auf den Boden sagt die Meisterin noch etwas, das mir Chandra erst übersetzen muss: Ich habe anscheinend Talent und solle weitermachen. Das freut mich sehr zu hören, und ich hoffe, dass ich mich zu Hause zum Üben aufraffen kann.

 

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©2008 by Harald Bögeholz