Allmählich kommt Abschiedsstimmung auf. Etliche der anderen Klassen
schreiben Prüfungen, wie so oft am Ende eines Zwei-Wochen-Zyklus, nach
dem bei Yamasa die Klassen neu gemischt werden. So sitzen auch meine
beiden deutschen Bekannten Jonas und Joachim und der Schweizer Leos
über ihren Aufgaben, während ich entspannt Pause mache .
Der Unterricht folgt dem üblichen Schema: Vormittags kommt
irgendeine bestimmte grammatische Konstruktion dran, zunächst an Hand
von Hörübungen, dann die Theorie und dann die praktische Anwendung.
Für den Nachmittag denken sie sich normalerweise etwas Leichtes aus.
Aber heute stimmt irgendetwas mit meinem Hirn nicht. Wir lernen
irgendwelche Ausdrücke und Redewendungen, in denen das Wort
hito (Mensch) vorkommt, so viel ist mir klar. Aber so sehr ich
versuche, den Erklärungen der Lehrerin zu folgen, ich verstehe immer
nur Bahnhof. Es wird im Laufe der Stunde immer schlimmer; es fühlt
sich an, als würde irgendetwas nach und nach sämtliches Japanisch aus
meinem Kopf heraussaugen. Zwischendurch versuche ich es mit "mogeln",
greife zu meinem elektronischen Wörterbuch, und als ich darin nichts
finde, zu meinem Notebook, um das große Japanisch-Deutsche Wörterbuch
im Internet zu benutzen, aber nichts hilft. Ich kapiere überhaupt
nichts. Völliger Blackout. Die anderen versuchen es mir zu erklären
– auf Japanisch, versteht sich, eiserne Regel –, aber es
hilft nichts.
Das Interessanteste an dieser Erfahrung ist, dass sich am Ende der
Stunde die Lehrerin bei mir entschuldigt. So richtig höflich und mit
Verbeugungen sagt sie, dass es ihr leid tut, es für mich zu schwierig
gemacht zu haben. Das finde ich geradezu bizarr: Ich boxe mich in eine
Klasse hoch, deren Niveau ich nur mit Mühe folgen kann, habe dann mal
einen Aussetzer, und die Lehrerin gelobt Besserung. Es wird dann in
der nächsten Stunde auch besser. Aber diese eine Stunde war glaube ich
die schlimmste, die ich in all meiner Zeit bei Yamasa je hatte. Ich
beschließe, den Vorfall so zu behandeln, als wäre ich versehentlich
mal für eine Stunde in den Chinesisch-Unterricht gegangen. Zurück in
der Japanisch-Klasse kann ich dann mit der üblichen Mühe wieder
folgen.
Mein Privatlehrer Kawashima-Sensei ist glaube ich ein bisschen eine
faule Socke. Nein, wahrscheinlich tue ich ihm damit Unrecht, er ist
nur sehr höflich. Als ich ihm erzähle, dass ich von dem gerade
Erlebten etwas erschöpft bin, meint er, dass wir dann vielleicht erst
einmal eine Pause machen sollten und öffnet das Fenster. Das ist sehr
gut gemeint, aber ich hatte ja gerade schon eine Stunde Pause, und
fürs Ausruhen im Beisein eines Japanischlehrers will ich nun wirklich
keine 23 Euro die Stunde ausgeben. Nein, fangen wir lieber an.
Nach der Einzelstunde schaue ich noch kurz in meine Mail, um mich
dann in das nächste Abenteuer zu stürzen: sayounarapaatii, die
Abschiedsparty, die in meiner Gastfamilie heute zu meinen Ehren
stattfindet. Wir hatten 17.30 gesagt, aber als ich gegen 17.15 nach
Hause komme, sind schon alle da: Vier der Leute, die uns neulich nach
Gamagoori geschleppt haben, zwei Männer und zwei Frauen. Der Tisch ist
voll mit leckerem Essen: Einiges haben die Gäste mitgebracht, anderes
hat Mama zubereitet, wie ich erklärt bekomme. Es stehen schon ein paar
leere Bierdosen auf dem Tisch und ich bekomme auch gleich ein Bier
eingeschenkt. Na das kann ja heiter werden.
Nicht dass ich einem Bierchen abgeneigt wäre (wer mich kennt, wird
sich kaputtlachen). Aber Japanisch zu verstehen, wenn es von fünf
Rentnern quasi-gleichzeitig in umgangssprachlichem Tempo gesprochen
wird, das erfordert so viel Konzentration, dass eigentlich eher
Espresso als Bier angemessen wäre. Zumal ich schon sechs Stunden
Unterricht hinter mir habe. Aber es hilft nichts, heute gibt es die
volle Dröhnung.
Kaum habe ich mich gesetzt, einen Schluck Bier getrunken und einen
Happen gegessen, steht Katou-san (auf dem Bild rechts ) auf und überreicht mir
feierlich meine Geschenke. Es sind nur kleine, billige Sachen,
versichert er (ja, so sagt man das höflicherweise immer in Japan, das
stand auch in einem meiner Lehrbücher :-) ). Zunächst gibt es drei von
diesen Tüchern, wie sie immer am Eingang von Restaurants hängen. Dann
zwei Zeitschriften mit schönen Fotos von japanischen Landschaften (ob
ich den Titel lesen kann? Äh, ja, den Sinn der Kanji kapiere ich
sofort, nur die Aussprache weiß ich mal wieder nicht ... berühmte
Gewässer, berühmte Flüsse oder so). Die große Schachtel soll ich doch
bitte sofort aufmachen. Ich habe in Reiseführern gelesen, dass es in
Japan üblich ist, Geschenke nicht im Beisein des Schenkenden
auszupacken, aber mit meinen Erfahrungen deckt sich das nicht.
Beziehungsweise stimmt es vielleicht doch, denn sonst hätte mich der
Japaner nicht explizit darum bitten müssen, doch ausnahmsweise mein
Geschenk sofort auszupacken.
Es ist eine Puppe einer Geisha mit einem schicken Kimono. Wird sich
als Dekoration in meinem japanischen Zimmer ganz nett machen, vielen
Dank. Überhaupt bin ich ganz überwältigt von den vielen Geschenken.
Der andere ältere Herr überreicht mir noch ein Fotoalbum mit
selbstgeknipsten Fotos von schönen Blumen, nicht ohne mir von jeder
einzelnen zu erklären, wie sie heißt und wo sie wächst und mich zu
fragen, ob es sie in Deutschland auch gibt. Wie peinlich, dass ich in
der Grundschule in Sachkunde immer so schlecht aufgepasst habe
;-).
Anschließend bedanken sich alle noch einmal bei mir: Ohne mich
hätten sich meine Gastfamilie und diese Gruppe ja schließlich nicht
kennengelernt. Na wenn ich schon weiter nichts für sie tun kann ...
bitte, gern geschehen.
Der Abend verläuft wie erwartet anstrengend. Katou-san wird nach
einigen Bierchen immer redseliger, schenkt mir eifrig nach und betont
immer wieder, ich solle doch ein bisschen lockerer werden und nicht
immer so ernst sein. Wahrscheinlich ist ihm überhaupt nicht bewusst,
wie viel Konzentration es mich kostet, dem Gespräch auch nur annähernd
zu folgen. Immerhin habe ich Übung im Biertrinken; so schnell wird
mich kein Japaner unter den Tisch trinken, zumal wenn das Bier aus
zierlichen 0,33-Liter-Döschen in noch viel kleinere Gläschen gefüllt
wird. Mama und Katou-san scheinen sich recht gut zu verstehen,
entdecken im Laufe des Abends sogar, dass sie ziemlich genau gleich
alt sind ... freut mich, dass Mama auf diese Art neue Freunde gefunden
hat.
Um kurz nach 21 Uhr signalisieren die Frauen dem redseligen
Katou-san, dass es jetzt wohl an der Zeit wäre zu gehen, und die Runde
löst sich auf. Ich bin völlig erledigt von diesem Intensivprogramm
Japanisch; immerhin hat man mich jetzt vier Stunden lang
vollgequatscht. Ich falle daher unverzüglich in mein Bett und schlafe
mich erst einmal aus.
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