Als der Wecker um 7.30 Uhr klingelt, fällt mir das Aufstehen ein
bisschen schwer, war wohl doch ein Bierchen zu viel gestern Abend.
Aber es muss sein, ich bin verabredet. Und zwar habe ich bei meinem
letzten Besuch in Tokyo einen Menschen namens Chandra kennengelernt,
mit dem ich in der Zwischenzeit einige E-Mails ausgetauscht habe, und
wir haben beschlossen, das Wochenende zusammen in Tokyo zu verbringen.
Um 12 will ich ihn treffen, daher muss ich den Shinkansen um 9.14 Uhr
erwischen, was mir mit Ach und Krach gelingt.
Am Tokyoter Hauptbahnhof kenne ich mich ja schon halbwegs aus
– sollte man meinen. Ich habe jedenfalls schon ein Gefühl dafür,
wo ich hin muss: Verabredet bin ich am marunochi kita guchi,
Nordausgang Marunochi, das ist in Fahrtrichtung gesehen links vorne,
im Nordwesten. Und obwohl mein Orientierungssinn mir genau die
richtige Richtung weist, nehme ich Dussel erst einmal den
nächstgelegenen Ausgang. Der spült mich in ein unterirdisches
Labyrinth auf der Südostseite des Bahnhofs. Wie dämlich: Ich weiß ganz
genau, in welche Richtung ich gehen will, aber da sind nur Wände oder
Zugänge zu den Gleisen, die man nur mit einem Ticket betreten darf.
Treppe runter, Treppe wieder rauf, nein, hier gehts auch nicht in die
richtige Richtung. Dieser Gang ist wegen Bauarbeiten gesperrt, es ist
wie verhext, sollte es denn wirklich keine Möglichkeit geben, auf die
andere Seite deses Bahnhofs zu gelangen? Oben nicht, nicht im ersten
Untergeschoss, auch nicht im zweiten?
Ratlos meditiere ich eine Weile vor einem Lageplan des Bahnhofs,
auf dem ich zwar genau erkennen kann, auf welcher Ebene welches
Restaurant ist, aber den vermaledeiten Weg auf die andere Seite, den
scheint es nicht zu geben. Ich spreche ein japanisches Ehepaar an, das
ebenfalls vor dem Plan steht, aber sie haben auch keine Ahnung, wie
man auf die andere Seite kommt. Sie machen sich aber die Mühe, mich
zurück zu genau dem Ausgang zu schleppen, aus dem ich ursprünglich
rausgekommen bin, und dort den Bahnbeamten zu fragen. Das hätte ich
zwar auch selbst gekonnt, aber danke für die Hilfe ... da hinten
links, dann rechts, geradeaus, rauf und runter, an der Baustelle
vorbei ... wenn man es weiß, sieht man auf einmal auch die Schilder,
die den Weg auf die andere Seite weisen. Ich erinnere mich bei der
Gelegenheit an den Satz, über dessen Nutzlosigkeit ich dereinst bei
der Lektüre meines Japan-Reiseführers schon schmunzeln musste:
Achtung: Manche Stationen haben verwirrend viele Zugänge. Ja,
haben sie wirklich, und die Zugänge sind nicht das einzige
Problem.
Mit einer Viertelstunde Verspätung treffe ich am vereinbarten
Treffpunkt ein, aber Chandra ist auch zu spät, wie ich durch einen
kurzen Handy-Anruf erfahre. Daher bleibt Zeit, ein wenig dem Treiben
auf dem Bahnhofsvorplatz zuzuschauen. Es scheint in Tokyo eine Fülle
von Taxi-Firmen zu geben; jedes Taxi sieht anders aus . Und auch die Preise
scheinen sich zu unterscheiden, wenn auch nicht sehr. Jedenfalls
stehen an den Fenstern auch immer irgendwelche Geldbeträge dran. Man
scheint aber keine wirkliche Wahl zu haben, in welches Taxi man denn
einsteigen möchte, denn alle Taxen stehen vor der Taxi-Haltestelle
Schlange, ebenso wie die Fahrgäste .
Als ich Chandra dann treffe, eiern wir ein bischen durch Tokyo,
gehen in einem Hochhaus in einem schicken Restaurant im 46. Stock
essen mit schöner Aussicht , fahren rüber nach
Harajuku noch ein bisschen Geschäfte gucken , um uns dann schließlich
um 17 Uhr (das war die Verabredung, aber beide Parteien verspäten
sich) mit Rie, einer japanischen Freundin von Chandra, zu treffen.
Rie-san nimmt seit Jahren Kalligraphie-Unterricht, und als ich
letzte Woche in einer meiner E-Mails an Chandra erwähnt habe, dass mir
mein Schnupperkurs Kalligraphie großen Spaß gemacht hat, da hat er an
mich gedacht, Rie-san gefragt und verabredet, dass sie uns beide auf
eine Probestunde zu ihrer Lehrmeisterin mitnimmt. Darauf freue ich
mich schon die ganze Woche, ich möchte darüber wirklich gerne mehr
lernen. Es handelt sich übrigens nicht nur um eine Stunde; wir wollten
um 17 Uhr hingehen, und es soll bis 21 Uhr dauern!
Die Lehrmeisterin wohnt in einem ruhigen Eckchen –
shitamachi, wird mir erklärt –, und von Anfang an nimmt
mich die Atmosphäre gefangen. Rie-san fällt vor ihrer Lehrmeisterin
auf die Knie, verbeugt sich mit der Stirn bis auf den Fußboden und
stellt die neuen Gäste vor. Chandra und ich dürfen jeweils auf dem
Sitzkissen vor der Meisterin Platz nehmen und uns vorstellen, und ich
denke, angesichts der Umstände ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, die
höflichsten Formen herauszukramen, die ich gerade letzte Woche gelernt
habe. Dafür ernte ich ein wohlwollendes Lächeln, trete aber dafür
gleich in ein Fettnäpfchen, als ich den Namen der Meisterin wiederhole
und nur -san anhänge statt -sensei – Rie-san zuckt sichtlich
zusammen und korrigiert mich. Au Backe. Ich ahnte schon, dass das
wirklich korrekte Benehmen in Japan schwierig sein würde; vielleicht
hätte ich doch besser so tun sollen, als könnte ich gar kein
Japanisch.
Die Meisterin erklärt uns beiden Neulingen zuerst, wie das Papier
gemacht wird, was es für verschiedene Sorten von Pinseln gibt und wo
die Tinte herkommt – glaube ich zumindest, denn im Detail kann
ich leider nicht folgen, es fehlt immer noch Vokabular :-(. Dann
lernen wir, wie man Tinte macht. Die gibt es zwar auch fertig (hatten
wir neulich in der Schule), aber eigentlich muss man sie selbst
anfertigen. Und zwar, indem man den Farbstoff, der in fester Form
vorliegt, in Wasser auflöst. Ein paar Tropfen Wasser in den
Tintenstein, und dann mit gleichmäßigen, kreisförmigen Bewegungen
reiben, nicht zu fest.
Die Lehrerin widmet sich ihren anderen Schülern, und ich beginne
mich zu wundern: Wie lange soll ich denn noch rubbeln? Ein anderer
langjähriger Schüler vom Nachbartisch (ein Nichtjapaner) raunt mir auf
Englisch zu: 20 Minuten sind normal. 20 Minuten?! Ja, ich hatte es in
meinem Buch über Kalligraphie schon gelesen. Die Tinte wird umso
besser, je langsamer man sie zubereitet. Und außerdem dient die
Vorbereitungszeit dazu, dass man die Sorgen des Alltags hinter sich
lässt und sich auf das konzentriert, was man vorhat. So ähnlich steht
es in dem Buch. Während ich so meinen Tintenstein rubble, sehe ich,
dass die Fortgeschrittenen durchaus auch Fertigtinte benutzen. Aber
ich weiß es zu schätzen, dass die Lehrmeisterin es gut mir meint und
mir zeigt, wie es wirklich geht.
Der Unterricht läuft im Prinzip so: Jeder hat seinen eigenen Tisch
und seine eigenen Utensilien, und die Lehrmeisterin ruft immer wieder
jemanden an ihren Tisch, um ihn/sie zu unterweisen . Sie selbst benutzt
orangefarbene Tinte; alle anderen schreiben mit Schwarz. Wenn sie
korrigiert, schreibt sie immer mit ihrer Tinte direkt auf das Werk des
Schülers; selbst wenn es also gut ist, wird es sofort von ihr –
tja, entwertet oder aufgewertet? – jedenfalls bewertet.
Die Anwesen praktizieren völlig unterschiedliche Schreibstile und
haben anscheinend verschieden viel Erfahrung. Eine ältere Dame legt
der Meisterin ein mit dünnem Pinsel gemaltes filigranes Geschreibsel
vor, das an scheinend zu den höchsten Weihen zählt – jedenfalls
kann ich nicht das Geringste lesen. Andere schreiben Zeichen, die mir
schon eher bekannt vorkommen; einer versucht sich anscheinend an
koreanischen Zeichen.
Chandra und ich fangen beide bei null an und lernen erst einmal,
wie man einen horizontalen Strich malt. Schon dabei gibt es einiges zu
beachten: aus welcher Richtung der Pinsel aufs Papier trifft und vor
allem, wie man den Strich mit so einem kunstvollen Knubbel beendet.
Die Pinselhaltung ist auch sehr ungewohnt; ich neige am Anfang immer
dazu, ihn wie einen Kugelschreiber zu halten. Man hält ihn aber ganz
senkrecht. Wenn die Meisterin schreibt, sieht es völlig mühelos und
natürlich aus, und jeder Strich wird perfekt. Ich habe zunächst kaum
unter Kontrolle, in welche Richtung sich die Borsten bewegen, und
selbst so etwas Einfaches wie ein horizontaler Strich sieht um Welten
weniger schön aus als die Vorlage.
Ich ernte dennnoch einiges Lob von ihr; wahrscheinlich ist sie
freundlich zu mir, weil ich nur das eine Mal da bin. Obwohl ... sie
differenziert schon und rümpft ein bisschen die Nase über die
misslungenen Versuche, die ich ihr auch eigentlich gar nicht hätte
zeigen wollen. Aber sie besteht darauf, jedes einzelne von mir
vollgeschriebene Blatt zu begutachten. Wenn etwas gelungen ist,
bekommt man einen Kringel ... je öfter es sich kringelt, desto besser
wohl. Kringel mit Blümchen rum ist wohl schon ein großes Lob, das
größte Lob besteht aber darin, dass die Meisterin einem etwas
draufschreibt, zum Beispiel totemo shikkari kaketeimasu –
das ist sehr tüchtig schreiben gekonnt oder so :-) .
Die Zeit vergeht wie im Fluge, und gegen 20 Uhr gibt es plötzlich
was zu essen. Die Lehrerin bekocht ihre Schüler also sogar, welch
Überraschung. Um Punkt 21 Uhr endet der Unterricht, und alle räumen
auf. Die Tische werden zusammengeklappt und weggestellt, und am Ende
knien alle der Lehrmeisterin gegenüber und verabschieden sich mit
einer tiefen Verbeugung bis auf den Boden ... wie man das von Judo
oder Karate kennt.
Das war eine tolle Erfahrung; wenn ich in der Gegend wohnen würde,
würde ich am liebsten jeden Samstag kommen. Normalerweise kostet der
Unterricht natürlich Geld, aber wir durften freundlicherweise
kostenlos daran teilnehmen. Wir gehen mit Rie-san und dem anderen
Nicht-Japaner, dessen Namen ich schon wieder vergessen habe, noch in
der Nähe ein Bierchen trinken, bevor Chandra und ich rüber nach
Shinjuku fahren ...
| |
|