19.05., Kalligraphie, aber diesmal richtig

Als der Wecker um 7.30 Uhr klingelt, fällt mir das Aufstehen ein bisschen schwer, war wohl doch ein Bierchen zu viel gestern Abend. Aber es muss sein, ich bin verabredet. Und zwar habe ich bei meinem letzten Besuch in Tokyo einen Menschen namens Chandra kennengelernt, mit dem ich in der Zwischenzeit einige E-Mails ausgetauscht habe, und wir haben beschlossen, das Wochenende zusammen in Tokyo zu verbringen. Um 12 will ich ihn treffen, daher muss ich den Shinkansen um 9.14 Uhr erwischen, was mir mit Ach und Krach gelingt.

Am Tokyoter Hauptbahnhof kenne ich mich ja schon halbwegs aus – sollte man meinen. Ich habe jedenfalls schon ein Gefühl dafür, wo ich hin muss: Verabredet bin ich am marunochi kita guchi, Nordausgang Marunochi, das ist in Fahrtrichtung gesehen links vorne, im Nordwesten. Und obwohl mein Orientierungssinn mir genau die richtige Richtung weist, nehme ich Dussel erst einmal den nächstgelegenen Ausgang. Der spült mich in ein unterirdisches Labyrinth auf der Südostseite des Bahnhofs. Wie dämlich: Ich weiß ganz genau, in welche Richtung ich gehen will, aber da sind nur Wände oder Zugänge zu den Gleisen, die man nur mit einem Ticket betreten darf. Treppe runter, Treppe wieder rauf, nein, hier gehts auch nicht in die richtige Richtung. Dieser Gang ist wegen Bauarbeiten gesperrt, es ist wie verhext, sollte es denn wirklich keine Möglichkeit geben, auf die andere Seite deses Bahnhofs zu gelangen? Oben nicht, nicht im ersten Untergeschoss, auch nicht im zweiten?

Ratlos meditiere ich eine Weile vor einem Lageplan des Bahnhofs, auf dem ich zwar genau erkennen kann, auf welcher Ebene welches Restaurant ist, aber den vermaledeiten Weg auf die andere Seite, den scheint es nicht zu geben. Ich spreche ein japanisches Ehepaar an, das ebenfalls vor dem Plan steht, aber sie haben auch keine Ahnung, wie man auf die andere Seite kommt. Sie machen sich aber die Mühe, mich zurück zu genau dem Ausgang zu schleppen, aus dem ich ursprünglich rausgekommen bin, und dort den Bahnbeamten zu fragen. Das hätte ich zwar auch selbst gekonnt, aber danke für die Hilfe ... da hinten links, dann rechts, geradeaus, rauf und runter, an der Baustelle vorbei ... wenn man es weiß, sieht man auf einmal auch die Schilder, die den Weg auf die andere Seite weisen. Ich erinnere mich bei der Gelegenheit an den Satz, über dessen Nutzlosigkeit ich dereinst bei der Lektüre meines Japan-Reiseführers schon schmunzeln musste: Achtung: Manche Stationen haben verwirrend viele Zugänge. Ja, haben sie wirklich, und die Zugänge sind nicht das einzige Problem.

Mit einer Viertelstunde Verspätung treffe ich am vereinbarten Treffpunkt ein, aber Chandra ist auch zu spät, wie ich durch einen kurzen Handy-Anruf erfahre. Daher bleibt Zeit, ein wenig dem Treiben auf dem Bahnhofsvorplatz zuzuschauen. Es scheint in Tokyo eine Fülle von Taxi-Firmen zu geben; jedes Taxi sieht anders aus Foto dazu Foto dazu. Und auch die Preise scheinen sich zu unterscheiden, wenn auch nicht sehr. Jedenfalls stehen an den Fenstern auch immer irgendwelche Geldbeträge dran. Man scheint aber keine wirkliche Wahl zu haben, in welches Taxi man denn einsteigen möchte, denn alle Taxen stehen vor der Taxi-Haltestelle Schlange, ebenso wie die Fahrgäste Foto dazu.

Als ich Chandra dann treffe, eiern wir ein bischen durch Tokyo, gehen in einem Hochhaus in einem schicken Restaurant im 46. Stock essen mit schöner Aussicht Foto dazu, fahren rüber nach Harajuku noch ein bisschen Geschäfte gucken Foto dazu, um uns dann schließlich um 17 Uhr (das war die Verabredung, aber beide Parteien verspäten sich) mit Rie, einer japanischen Freundin von Chandra, zu treffen.

Rie-san nimmt seit Jahren Kalligraphie-Unterricht, und als ich letzte Woche in einer meiner E-Mails an Chandra erwähnt habe, dass mir mein Schnupperkurs Kalligraphie großen Spaß gemacht hat, da hat er an mich gedacht, Rie-san gefragt und verabredet, dass sie uns beide auf eine Probestunde zu ihrer Lehrmeisterin mitnimmt. Darauf freue ich mich schon die ganze Woche, ich möchte darüber wirklich gerne mehr lernen. Es handelt sich übrigens nicht nur um eine Stunde; wir wollten um 17 Uhr hingehen, und es soll bis 21 Uhr dauern!

Die Lehrmeisterin wohnt in einem ruhigen Eckchen – shitamachi, wird mir erklärt –, und von Anfang an nimmt mich die Atmosphäre gefangen. Rie-san fällt vor ihrer Lehrmeisterin auf die Knie, verbeugt sich mit der Stirn bis auf den Fußboden und stellt die neuen Gäste vor. Chandra und ich dürfen jeweils auf dem Sitzkissen vor der Meisterin Platz nehmen und uns vorstellen, und ich denke, angesichts der Umstände ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, die höflichsten Formen herauszukramen, die ich gerade letzte Woche gelernt habe. Dafür ernte ich ein wohlwollendes Lächeln, trete aber dafür gleich in ein Fettnäpfchen, als ich den Namen der Meisterin wiederhole und nur -san anhänge statt -sensei – Rie-san zuckt sichtlich zusammen und korrigiert mich. Au Backe. Ich ahnte schon, dass das wirklich korrekte Benehmen in Japan schwierig sein würde; vielleicht hätte ich doch besser so tun sollen, als könnte ich gar kein Japanisch.

Die Meisterin erklärt uns beiden Neulingen zuerst, wie das Papier gemacht wird, was es für verschiedene Sorten von Pinseln gibt und wo die Tinte herkommt – glaube ich zumindest, denn im Detail kann ich leider nicht folgen, es fehlt immer noch Vokabular :-(. Dann lernen wir, wie man Tinte macht. Die gibt es zwar auch fertig (hatten wir neulich in der Schule), aber eigentlich muss man sie selbst anfertigen. Und zwar, indem man den Farbstoff, der in fester Form vorliegt, in Wasser auflöst. Ein paar Tropfen Wasser in den Tintenstein, und dann mit gleichmäßigen, kreisförmigen Bewegungen reiben, nicht zu fest.

Die Lehrerin widmet sich ihren anderen Schülern, und ich beginne mich zu wundern: Wie lange soll ich denn noch rubbeln? Ein anderer langjähriger Schüler vom Nachbartisch (ein Nichtjapaner) raunt mir auf Englisch zu: 20 Minuten sind normal. 20 Minuten?! Ja, ich hatte es in meinem Buch über Kalligraphie schon gelesen. Die Tinte wird umso besser, je langsamer man sie zubereitet. Und außerdem dient die Vorbereitungszeit dazu, dass man die Sorgen des Alltags hinter sich lässt und sich auf das konzentriert, was man vorhat. So ähnlich steht es in dem Buch. Während ich so meinen Tintenstein rubble, sehe ich, dass die Fortgeschrittenen durchaus auch Fertigtinte benutzen. Aber ich weiß es zu schätzen, dass die Lehrmeisterin es gut mir meint und mir zeigt, wie es wirklich geht.

Der Unterricht läuft im Prinzip so: Jeder hat seinen eigenen Tisch und seine eigenen Utensilien, und die Lehrmeisterin ruft immer wieder jemanden an ihren Tisch, um ihn/sie zu unterweisen Foto dazu. Sie selbst benutzt orangefarbene Tinte; alle anderen schreiben mit Schwarz. Wenn sie korrigiert, schreibt sie immer mit ihrer Tinte direkt auf das Werk des Schülers; selbst wenn es also gut ist, wird es sofort von ihr – tja, entwertet oder aufgewertet? – jedenfalls bewertet.

Die Anwesen praktizieren völlig unterschiedliche Schreibstile und haben anscheinend verschieden viel Erfahrung. Eine ältere Dame legt der Meisterin ein mit dünnem Pinsel gemaltes filigranes Geschreibsel vor, das an scheinend zu den höchsten Weihen zählt – jedenfalls kann ich nicht das Geringste lesen. Andere schreiben Zeichen, die mir schon eher bekannt vorkommen; einer versucht sich anscheinend an koreanischen Zeichen.

Chandra und ich fangen beide bei null an und lernen erst einmal, wie man einen horizontalen Strich malt. Schon dabei gibt es einiges zu beachten: aus welcher Richtung der Pinsel aufs Papier trifft und vor allem, wie man den Strich mit so einem kunstvollen Knubbel beendet. Die Pinselhaltung ist auch sehr ungewohnt; ich neige am Anfang immer dazu, ihn wie einen Kugelschreiber zu halten. Man hält ihn aber ganz senkrecht. Wenn die Meisterin schreibt, sieht es völlig mühelos und natürlich aus, und jeder Strich wird perfekt. Ich habe zunächst kaum unter Kontrolle, in welche Richtung sich die Borsten bewegen, und selbst so etwas Einfaches wie ein horizontaler Strich sieht um Welten weniger schön aus als die Vorlage.

Ich ernte dennnoch einiges Lob von ihr; wahrscheinlich ist sie freundlich zu mir, weil ich nur das eine Mal da bin. Obwohl ... sie differenziert schon und rümpft ein bisschen die Nase über die misslungenen Versuche, die ich ihr auch eigentlich gar nicht hätte zeigen wollen. Aber sie besteht darauf, jedes einzelne von mir vollgeschriebene Blatt zu begutachten. Wenn etwas gelungen ist, bekommt man einen Kringel ... je öfter es sich kringelt, desto besser wohl. Kringel mit Blümchen rum ist wohl schon ein großes Lob, das größte Lob besteht aber darin, dass die Meisterin einem etwas draufschreibt, zum Beispiel totemo shikkari kaketeimasu – das ist sehr tüchtig schreiben gekonnt oder so :-) Foto dazu.

Die Zeit vergeht wie im Fluge, und gegen 20 Uhr gibt es plötzlich was zu essen. Die Lehrerin bekocht ihre Schüler also sogar, welch Überraschung. Um Punkt 21 Uhr endet der Unterricht, und alle räumen auf. Die Tische werden zusammengeklappt und weggestellt, und am Ende knien alle der Lehrmeisterin gegenüber und verabschieden sich mit einer tiefen Verbeugung bis auf den Boden ... wie man das von Judo oder Karate kennt.

Das war eine tolle Erfahrung; wenn ich in der Gegend wohnen würde, würde ich am liebsten jeden Samstag kommen. Normalerweise kostet der Unterricht natürlich Geld, aber wir durften freundlicherweise kostenlos daran teilnehmen. Wir gehen mit Rie-san und dem anderen Nicht-Japaner, dessen Namen ich schon wieder vergessen habe, noch in der Nähe ein Bierchen trinken, bevor Chandra und ich rüber nach Shinjuku fahren ...

 

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©2007 by Harald Bögeholz