11.05., hajimemashite, neue Klasse!

Ich schlafe vor Aufregung ganz unruhig – wie es wohl in der neuen Klasse sein wird? Die vergangenen Wochen haben mir ja immer wieder gezeigt, dass der Stoff aus Minna no Nihongo durchaus noch nicht in jeder Lebenslage perfekt sitzt; habe ich mich vielleicht übernommen?

Eigentlich wollte ich heute den Zug um 7.47 nehmen, damit ich um 8 in der Schule bin und viel Zeit für die Vokabeln habe, aber dummerweise vertrödle ich mich und verpasse ihn um eine Minute. Als ich dann in der Schule bin, fehlt mir aber auch irgendwie die innere Ruhe zum Vokabeln Lernen.

Ehe ich michs versehe, ist es 9 und meine neue Klassenlehrerin Nakane-sensei heißt die neuen Schüler in der Klasse willkommen. Außer mir ist wohl noch Jean-Paul aus Kanada neu, ansonsten sind wir insgesamt sieben, wobei eine Schülerin aus Italien heute fehlt. Schon bei der Vorstellungsrunde kriege ich ein bisschen einen Schrecken: Vor allem Ka aus Taiwan spricht unglaublich fließend ... wenn das das Niveau der neuen Klasse ist, werde ich wohl der Bremsklotz sein :-(.

Im Laufe der ersten Stunde stelle ich fest, dass durchaus auch die anderen nicht immer alles wissen, wie beruhigend. Aber mit der Ruhe ist es jetzt vorbei. Zum Einen kommt man einfach öfter dran in einer Klasse mit sechs Schülern als in einer mit zehn, zum Anderen setzt die Lehrerin ein ganz anderes Tempo beim Hören, Schreiben und auch beim Lesen voraus. Da kann ich nur mit Mühe Schritt halten, puh! Und die 60 neuen Vokabeln von gestern waren auch zu viel, nein, so schnell geht das bei mir leider doch nicht.

Aber es ist ein ganz anderer Stil von Unterricht als in der bisherigen Klasse. Bisher wurde immer ein ganz spezifisches Stückchen Grammatik geübt, und alle Übungen waren darauf ausgelegt, genau diese Form jetzt zu benutzen und keine andere. In der neuen Klasse geht es viel freier zu. Wir studieren einen kurzen Dialog zwischen zwei Frauen, die sich über ihre Arbeit unterhalten. Als die Lehrerin ihn von uns noch einmal vorlesen lässt, entschuldigt sie sich bei Jean-Paul: Was er da gerade lesen musste, würde ein Mann so nicht sagen. Sie bittet ihn daher, es noch einmal als Mann zu lesen, und wir analysieren im Detail an diesem Dialog die Unterschiede zwischen Frauen- und Männersprache.

Außerdem fällt jemandem auf, dass die beiden Frauen anscheinend auf etwas unterschiedlichem Höflichkeitsniveau sprechen. Ja, vermutlich ist die eine älter, meint die Lehrerin, sodass die jüngere, obwohl die beiden befreundet sind, manchmal etwas höflichere Formen benutzt. Verena, die Deutsche zu meiner Linken, erzählt bei der Gelegenheit von einer Begebenheit in ihrer Gastfamilie, wo ihre Gastmutter einer Besucherin gegenüber keigo, also die besonders ehrerbietige Sprache benutzt hat, aber in der einfachen Form. Ist das nicht ein Widerspruch? Nein, nicht wirklich.

Man muss dazu wissen, dass es in der japanischen Grammatik eine einfache und eine höflichere Form gibt: taberu vs. tabemasu – beides heißt essen (ich oder der andere). Und in der ehrerbietigen Sprache (sonkeigo), also wenn man von einer Handlung einer Person spricht, der man besonderen Respekt zollt, muss man ein anderes Verb benutzen. Aber das gibt es eben auch in zwei Formen: einfach (meshiagaru) oder höflich (meshiagarimasu). Was hat es nun mit der einfachen Form des höflichen Verbs auf sich? Die Lehrerin erklärt, dass die beiden Frauen miteinander bekannt sind und sich in einer ungezwungenen Atmosphäre unterhalten, in diesem Fall in einem Cafe. Daher kommt die einfache Verbform zum Einsatz. Aber trotzdem zollt die jüngere der älteren Respekt. Deshalb das ehrerbietige Verb, aber in der einfachen Form. Ob ich das wohl je verinnerlichen werde? Jedenfalls ist das das Niveau der neuen Klasse, ich bin sehr glücklich.

Schon in der nächsten Stunde schlägt das Glücksgefühl wieder in leichten Frust um, weil ich einfach nicht so schnell mit dem neuen Vokabular zurechtkomme, nicht schnell genug lesen und schreiben kann, und überhaupt. Zum Glück gibts Freitags nur drei Stunden Unterricht, denn ich bin mittags völlig ausgepowert. Aber zufrieden. Wenn ich auch in der letzten Klasse ehrlich gesagt manchmal das Gefühl genossen habe, immer alles zu wissen, so ist dies doch die Herausforderung, die ich gesucht habe. Nakane-sensei ist sehr gut darin, Dinge, die man nicht verstanden hat, mit anderen Worten noch einmal zu erklären, das hilft.

Gleich nach der Mittagspause habe ich eine Stunde Einzelunterricht bei meinem zweiten Privatlehrer, Taniyama-sensei. Nachdem wir einander vorgestellt haben, überrumpelt er mich gleich mit einer Frage, die mich aus der Bahn wirft – was hat er gefragt? Allmählich fällt der Groschen, er hat sonkeigo benutzt, ehrerbietige Sprache. Ich entschuldige mich, dass ich nicht sofort verstanden habe, und er meint mit einem Augenzwinkern, dass er mal höflich zu mir sein wollte, schließlich sei er ja jünger als ich. Das werde ich also als nächstes lernen müssen: Nicht mehr zu erschrecken, wenn jemand höflich zu mir ist. Das Irre an sonkeigo ist, dass die Passivformen der Verben als ehrerbietige Verben benutzt werden. Das klingt dann also so wie Sind Sie gestern irgendwo hin gegangen worden? – und da soll man nicht erschrecken!

Ansonsten üben wir in dieser Stunde etwas, das hinsichtlich grammatischer Feinheiten überhaupt keine Herausforderung ist, aber mir dafür umso schwerer fällt: Auf höfliche Art seine eigene Meinung zu sagen. Das ist eher Kultur-Unterricht als Sprachunterricht. Wollen wir heute Abend Sushi essen gehen? Oh, Sushi sind eine tolle Idee. Aber vielleicht doch lieber Tempura? Das Ganze in der vertrauten Form, die man unter Freunden spricht, und in der man kamoshiremasen beziehungsweise kamoshirenai salopp zu kamo abkürzt. Der Schlenker über die Zustimmung zur Meinung des Gegenübers hin zur vorsichtigen Äußerung einer anderen Meinung fällt mir schwerer, als ich es für möglich gehalten hätte. Was für ein Trampel ich doch bisher war, einfach immer direkt zu sagen, was ich denke!

Bei der Gelegenheit diskutiere ich mit meinem Lehrer auch gleich noch eine Begebenheit von heute Morgen. Da habe ich Mama gesagt (zu sagen versucht), dass ich heute Abend mal wieder in der Bar ein paar Bierchen nehmen und daher nicht zu Hause essen möchte. Aber schon sie hat mich darauf hingewiesen, dass ich mich da sehr unhöflich ausgedrückt habe. Ich dachte tabetai – ich möchte essen – muss man einfach nur verneinen: tabetakunai – ich möchte nicht essen. Das stimmt auch im Prinzip, aber diese Art des Nicht-essen-Wollens impliziert, dass das Essen scheiße schmeckt, und das wollte ich nun wirklich nicht sagen. Ach, ach!

Zur Entspannung gehe ich zu der eigenlich jeden Freitag stattfindenden Go-Klasse und spiele (mit Schwarz) eine Partie mit einem älteren Herrn, bin aber unkonzentriert und habe das Gefühl, dass er mir auf der Nase herumtanzt. Es geht auf dem Brett Jigo aus (unentschieden), und als ich hinterher erfahre, dass er sich hier 4 Dan nennt, beginne ich zu vermuten, dass er sich absichtlich etwas zurückgehalten hat. Anschließend erklärt mir ein anderer Herr noch einiges zu meiner Eröffnung, und da ist es wieder, dieses seltsame Gefühl: Das Japanisch verstehe ich so gut wie gar nicht, aber immerhin das Go.

Eigentlich wollte heute Nachmittag noch einiges lernen. Aber mir schwirrt der Kopf jetzt so sehr, dass er fast physisch weh tut, und ich kann mich überhaupt nicht mehr konzentrieren. Ich lasse den Abend in der Bar bei ein paar Bieren ausklingen und fahre mit dem letzten Zug nach Hause.

Dort sitzt gerade Nami-san am Computer und bittet mich, ihr zu helfen. Das ist nicht das erste Mal heute, aber ich habe mächtig einen in der Krone, was die Sache nicht gerade leichter macht. Und zwar hat sie eine E-Mail-Korrespondenz mit einem Brasilianer, der kein Japanisch kann und dessen Englisch auch ziemlich grauslig ist. Sie schreiben einander auf Englisch – na ja, sowas ähnliches. Ich kann gut verstehen, dass sie mit der Interpretation dieses grausligen Englisch-Verschnittes ihre Schwierigkeiten hat. Jedenfalls ist das Gefühl, im volltrunkenen Zustand flammende Liebesbriefe von Portugenglisch ins Japanische zu übersetzen, unbeschreiblich. Bei der Gelegenheit erzähle ich Nami auch ein bisschen was von mir, und so teilen wir jetzt unsere kleinen Geheimnisse, die Mama nicht wissen darf :-). Morgen will sie ihn treffen–...

 

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