Ich schlafe vor Aufregung ganz unruhig – wie es wohl in der
neuen Klasse sein wird? Die vergangenen Wochen haben mir ja immer
wieder gezeigt, dass der Stoff aus Minna no Nihongo durchaus noch
nicht in jeder Lebenslage perfekt sitzt; habe ich mich vielleicht
übernommen?
Eigentlich wollte ich heute den Zug um 7.47 nehmen, damit ich um 8
in der Schule bin und viel Zeit für die Vokabeln habe, aber
dummerweise vertrödle ich mich und verpasse ihn um eine Minute. Als
ich dann in der Schule bin, fehlt mir aber auch irgendwie die innere
Ruhe zum Vokabeln Lernen.
Ehe ich michs versehe, ist es 9 und meine neue Klassenlehrerin
Nakane-sensei heißt die neuen Schüler in der Klasse willkommen. Außer
mir ist wohl noch Jean-Paul aus Kanada neu, ansonsten sind wir
insgesamt sieben, wobei eine Schülerin aus Italien heute fehlt. Schon
bei der Vorstellungsrunde kriege ich ein bisschen einen Schrecken: Vor
allem Ka aus Taiwan spricht unglaublich fließend ... wenn das das
Niveau der neuen Klasse ist, werde ich wohl der Bremsklotz sein
:-(.
Im Laufe der ersten Stunde stelle ich fest, dass durchaus auch die
anderen nicht immer alles wissen, wie beruhigend. Aber mit der Ruhe
ist es jetzt vorbei. Zum Einen kommt man einfach öfter dran in einer
Klasse mit sechs Schülern als in einer mit zehn, zum Anderen setzt die
Lehrerin ein ganz anderes Tempo beim Hören, Schreiben und auch beim
Lesen voraus. Da kann ich nur mit Mühe Schritt halten, puh! Und die 60
neuen Vokabeln von gestern waren auch zu viel, nein, so schnell geht
das bei mir leider doch nicht.
Aber es ist ein ganz anderer Stil von Unterricht als in der
bisherigen Klasse. Bisher wurde immer ein ganz spezifisches Stückchen
Grammatik geübt, und alle Übungen waren darauf ausgelegt, genau diese
Form jetzt zu benutzen und keine andere. In der neuen Klasse geht es
viel freier zu. Wir studieren einen kurzen Dialog zwischen zwei
Frauen, die sich über ihre Arbeit unterhalten. Als die Lehrerin ihn
von uns noch einmal vorlesen lässt, entschuldigt sie sich bei
Jean-Paul: Was er da gerade lesen musste, würde ein Mann so nicht
sagen. Sie bittet ihn daher, es noch einmal als Mann zu lesen, und wir
analysieren im Detail an diesem Dialog die Unterschiede zwischen
Frauen- und Männersprache.
Außerdem fällt jemandem auf, dass die beiden Frauen anscheinend auf
etwas unterschiedlichem Höflichkeitsniveau sprechen. Ja, vermutlich
ist die eine älter, meint die Lehrerin, sodass die jüngere, obwohl die
beiden befreundet sind, manchmal etwas höflichere Formen benutzt.
Verena, die Deutsche zu meiner Linken, erzählt bei der Gelegenheit von
einer Begebenheit in ihrer Gastfamilie, wo ihre Gastmutter einer
Besucherin gegenüber keigo, also die besonders ehrerbietige
Sprache benutzt hat, aber in der einfachen Form. Ist das nicht ein
Widerspruch? Nein, nicht wirklich.
Man muss dazu wissen, dass es in der japanischen Grammatik eine
einfache und eine höflichere Form gibt:
taberu vs. tabemasu – beides heißt essen (ich oder
der andere). Und in der ehrerbietigen Sprache (sonkeigo), also
wenn man von einer Handlung einer Person spricht, der man besonderen
Respekt zollt, muss man ein anderes Verb benutzen. Aber das gibt es
eben auch in zwei Formen: einfach (meshiagaru) oder höflich
(meshiagarimasu). Was hat es nun mit der einfachen Form des
höflichen Verbs auf sich? Die Lehrerin erklärt, dass die beiden Frauen
miteinander bekannt sind und sich in einer ungezwungenen Atmosphäre
unterhalten, in diesem Fall in einem Cafe. Daher kommt die einfache
Verbform zum Einsatz. Aber trotzdem zollt die jüngere der älteren
Respekt. Deshalb das ehrerbietige Verb, aber in der einfachen Form. Ob
ich das wohl je verinnerlichen werde? Jedenfalls ist das das Niveau
der neuen Klasse, ich bin sehr glücklich.
Schon in der nächsten Stunde schlägt das Glücksgefühl wieder in
leichten Frust um, weil ich einfach nicht so schnell mit dem neuen
Vokabular zurechtkomme, nicht schnell genug lesen und schreiben kann,
und überhaupt. Zum Glück gibts Freitags nur drei Stunden Unterricht,
denn ich bin mittags völlig ausgepowert. Aber zufrieden. Wenn ich auch
in der letzten Klasse ehrlich gesagt manchmal das Gefühl genossen
habe, immer alles zu wissen, so ist dies doch die Herausforderung, die
ich gesucht habe. Nakane-sensei ist sehr gut darin, Dinge, die man
nicht verstanden hat, mit anderen Worten noch einmal zu erklären, das
hilft.
Gleich nach der Mittagspause habe ich eine Stunde Einzelunterricht
bei meinem zweiten Privatlehrer, Taniyama-sensei. Nachdem wir einander
vorgestellt haben, überrumpelt er mich gleich mit einer Frage, die
mich aus der Bahn wirft – was hat er gefragt? Allmählich fällt
der Groschen, er hat sonkeigo benutzt, ehrerbietige Sprache.
Ich entschuldige mich, dass ich nicht sofort verstanden habe, und er
meint mit einem Augenzwinkern, dass er mal höflich zu mir sein wollte,
schließlich sei er ja jünger als ich. Das werde ich also als nächstes
lernen müssen: Nicht mehr zu erschrecken, wenn jemand höflich zu mir
ist. Das Irre an sonkeigo ist, dass die Passivformen der Verben
als ehrerbietige Verben benutzt werden. Das klingt dann also so wie
Sind Sie gestern irgendwo hin gegangen worden? – und da
soll man nicht erschrecken!
Ansonsten üben wir in dieser Stunde etwas, das hinsichtlich
grammatischer Feinheiten überhaupt keine Herausforderung ist, aber mir
dafür umso schwerer fällt: Auf höfliche Art seine eigene Meinung zu
sagen. Das ist eher Kultur-Unterricht als Sprachunterricht.
Wollen wir heute Abend Sushi essen gehen? Oh, Sushi sind
eine tolle Idee. Aber vielleicht doch lieber Tempura? Das Ganze in
der vertrauten Form, die man unter Freunden spricht, und in der man
kamoshiremasen beziehungsweise kamoshirenai salopp zu
kamo abkürzt. Der Schlenker über die Zustimmung zur Meinung des
Gegenübers hin zur vorsichtigen Äußerung einer anderen Meinung fällt
mir schwerer, als ich es für möglich gehalten hätte. Was für ein
Trampel ich doch bisher war, einfach immer direkt zu sagen, was ich
denke!
Bei der Gelegenheit diskutiere ich mit meinem Lehrer auch gleich
noch eine Begebenheit von heute Morgen. Da habe ich Mama gesagt (zu
sagen versucht), dass ich heute Abend mal wieder in der Bar ein paar
Bierchen nehmen und daher nicht zu Hause essen möchte. Aber schon sie
hat mich darauf hingewiesen, dass ich mich da sehr unhöflich
ausgedrückt habe. Ich dachte tabetai – ich möchte essen
– muss man einfach nur verneinen: tabetakunai – ich
möchte nicht essen. Das stimmt auch im Prinzip, aber diese Art des
Nicht-essen-Wollens impliziert, dass das Essen scheiße schmeckt, und
das wollte ich nun wirklich nicht sagen. Ach, ach!
Zur Entspannung gehe ich zu der eigenlich jeden Freitag
stattfindenden Go-Klasse und spiele (mit Schwarz) eine Partie mit
einem älteren Herrn, bin aber unkonzentriert und habe das Gefühl, dass
er mir auf der Nase herumtanzt. Es geht auf dem Brett Jigo aus
(unentschieden), und als ich hinterher erfahre, dass er sich hier 4
Dan nennt, beginne ich zu vermuten, dass er sich absichtlich etwas
zurückgehalten hat. Anschließend erklärt mir ein anderer Herr noch
einiges zu meiner Eröffnung, und da ist es wieder, dieses seltsame
Gefühl: Das Japanisch verstehe ich so gut wie gar nicht, aber immerhin
das Go.
Eigentlich wollte heute Nachmittag noch einiges lernen. Aber mir
schwirrt der Kopf jetzt so sehr, dass er fast physisch weh tut, und
ich kann mich überhaupt nicht mehr konzentrieren. Ich lasse den Abend
in der Bar bei ein paar Bieren ausklingen und fahre mit dem letzten
Zug nach Hause.
Dort sitzt gerade Nami-san am Computer und bittet mich, ihr zu
helfen. Das ist nicht das erste Mal heute, aber ich habe mächtig einen
in der Krone, was die Sache nicht gerade leichter macht. Und zwar hat
sie eine E-Mail-Korrespondenz mit einem Brasilianer, der kein
Japanisch kann und dessen Englisch auch ziemlich grauslig ist. Sie
schreiben einander auf Englisch – na ja, sowas ähnliches. Ich
kann gut verstehen, dass sie mit der Interpretation dieses grausligen
Englisch-Verschnittes ihre Schwierigkeiten hat. Jedenfalls ist das
Gefühl, im volltrunkenen Zustand flammende Liebesbriefe von
Portugenglisch ins Japanische zu übersetzen, unbeschreiblich. Bei der
Gelegenheit erzähle ich Nami auch ein bisschen was von mir, und so
teilen wir jetzt unsere kleinen Geheimnisse, die Mama nicht wissen
darf :-). Morgen will sie ihn treffen–...
| |
|