Heute bin ich so schnell mit dem Frühstück fertig, dass ich schon
den Zug um 7.47 erwische und um kurz nach 8 in der Schule bin.
Eigentlich wollte ich die Zeit nutzen, um mich noch einmal auf die
anstehende Prüfung vorzubereiten, aber ich verdaddele die Zeit
weitgehend im Internet. Es gelingt mir nicht, wirklich nervös zu
werden, schließlich lerne ich für das Leben und nicht für die
Prüfung.
Die erste Stunde ist zur Wiederholung vorgesehen und für eventuelle
Fragen. Es hat aber niemand wirklich eine Frage, und so beschäftigt
uns die Lehrerin, nachdem wir einen Zettel zur Grammatikwiederholung
durchgearbeitet haben, einfach noch ein bisschen, indem sie die Leute
fragt, was sie über die Feiertage getrieben haben.
Die Prüfung umfasst nur die in den letzten (netto) zwei Wochen
gelernte Grammatik, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich
schriftlich eine hohe Trefferquote habe. Zwischendurch dürfen alle der
Reihe nach rüber gehen in ein anderes Zimmer, wo der mündliche Teil
stattfindet. Dabei handelt es sich diesmal nicht um ein Gespräch mit
der Lehrerin, sondern wir müssen immer paarweise miteinander reden.
Und zwar sollen wir die Situation durchspielen, dass ich mich für das
Land des jeweiligen Gesprächspartner interessiere und dort Urlaub
machen will. Dazu soll ich dann fragen, wann denn dafür die beste
Jahreszeit ist, was man am besten anschaut, ob man irgendwelche
besonderen Vorkehrungen treffen muss, was der Wetterbericht denn sagt,
all sowas. Anschließend macht man dasselbe Spielchen noch einmal mit
einem anderen Partner und vertauschten Rollen.
Das Schwierigste an diesen Rollenspielchen ist für mich immer, dass
ich auf die Schnelle gar nicht weiß, was ich einem Ausländer erzählen
soll, was an Deutschland interessant ist. Beispielsweise kommt einem
ja als erstes in den Sinn, dass man vielleicht Berlin mal gesehen
haben sollte, wenn man nach Deutschland kommt. Aber kaum ist mir das
rausgerutscht, geht mir auf, dass ich selber Berlin ja so gut wie gar
nicht kenne. So wird das Problem, in den fünf Minuten Redezeit, die
uns jeweils zur Verfügung steht, möglichst viel von der erlernten
Grammatik unterzubringen, ein wenig erschwert.
Schwer zu sagen, wie gut ich abgeschnitten habe. Die Lehrerin hat
sich eifrig Notizen gemacht und wohlwollend gelächelt; was das heißt,
werde ich wohl auch erst morgen erfahren.
Am Nachmittag steht Kalligraphie auf dem Programm, zu gut Japanisch
shodou. Darauf freue ich mich schon sehr, ich wollte schon
immer mal lernen, wie man wunderschöne Schriftzeichen mit dem Pinsel
schreibt. Das haben sie sich wohl als Entschädigung für den
Prüfungsstress einfallen lassen.
Wir decken alle Tische im Klassenzimmer mit Filztüchern ab und bekommen Tinte, Pinsel
und ein paar Blatt Papier. Als erstes üben wir, wie man den Pinsel
hält , dann die drei
verschiedenen Stricharten:
tome (der Pinsel hält am Ende an und wird dann hochgehoben) ,
hane (am Ende ein kleines Häkchen nach oben) und
harai (der Pinsel wird am Ende sanft weggezogen) . Und dann gehts los, und
wir dürfen nach Herzenslust schreiben, was wir wollen.
Leider ist die Lehrerin, wie sie selbst am Anfang zugibt, keine
besondere Kalligraphie-Expertin, sodass sie mir leider keine große
Hilfe ist, als ich wissen will, welche Feinheiten denn zum Beispiel
beim Schreiben des Zeichens für Go zu beachten sind. Das habe sie
selber nicht so gut drauf – schade. Zwischendurch kommt unsere
Klassenlehrerin Yoshiguchi-sensei zu Besuch, die kann das wesentlich
besser und hat auch noch einen
Tipp für mein Go auf Lager (also das Schriftzeichen).
Die Frage, wie man denn das jou von Anjou richtig schreibt,
stelle ich übrigens unabhängig voneinander beiden Lehrerinnen, und
beide zeigen mir die Strichfolge, die ich auch auf dem Briefumschlag
am Wochenende zu erkennen geglaubt habe. Und und auf meinen Einwand,
dass es in meinem Buch und den mir zugänglichen Quellen im Internet
aber anders steht, entgegnen sie beide, dass das Buch vermutlich recht
hat. Hmm.
Es ist übrigens überraschend schwierig, auch nur einen einzigen
schön aussehenden Pinselstrich hinzukriegen. Geschweige denn ein
ganzes Zeichen, und dann auch noch so, dass es die richtige Balance
hat und auch an einer schönen Stelle auf dem Blatt steht. Wirklich
schade, dass es nicht mehr Anleitung dazu gibt, ich würde das sehr
gerne lernen. Und es hat absolut etwas Meditatives. Ich merke, dass es
mir wesentlich besser gelingt, wenn ich lange auf das weiße Blatt
schaue, mir genau vorstelle, wo das Zeichen stehen soll, mir den
Rhythmus meiner Pinselstriche vorstelle, und erst, wenn das Zeichen und
der Bewegungsablauf des Schreibens komplett vor meinem geistigen Auge
fertig sind, zu schreiben beginne.
Eigentlich dachte ich ja, dass ich es mir schuldig bin, das Zeichen
für Go zu meinem Meisterstück zu machen. Aber es will mir einfach
nicht gut gelingen. Am Ende sollen wir auf das Blatt, das wir für am
gelungensten halten, unseren Namen schreiben und es abgeben. Ich
versuche mich ein paarmal an Anjou, meinem Wohnort, schreibe
komplizierte Wörter wie Gesundheit und Freund (das zweite Zeichen
davon hat es in sich), aber schließlich ist es doch das aus einem
Kanji und einem Hiragana bestehende Wort matsuri (Festival,
siehe vorletztes Wochenende), das mir am besten gelingt . Ich trenne mich
eigentlich nur ungern von meinem matsuri, finde, für das erste
Mal sieht es schon ganz authentisch aus. (Und wahrscheinlich fehlt ihm
in den Augen des Experten jegliche Kunstfertigkeit. Zum Beispiel kann
man (ich) es einwandfrei lesen, also kann es keine Kunst sein ;-).)
Vielleicht kriegen wir es ja wieder.
Die zwei Stunden vergehen wie im Fluge; schade, dass sie um 14.30
Uhr schon vorbei sind. Heute beginnt mein Privatunterricht erst um
16.40 Uhr, sodass ich gemütlich ein bisschen im Aufenthaltsraum
herumhängen, meine Fotos entwickeln und mich ansonsten meinem
Mittagstief hingeben kann.
Der Privatlehrer hat heute das Buch dabei, auf das wir uns anfangs
verständigt hatten, und für mich einige Seiten daraus kopiert. Ein
kleiner Dialog ist als Manga dargestellt (Comic), und zunächst hören
wir ihn uns von CD an. Huch, oh je, ich ahne schon, was auf mich
zukommt. Wirklich verstehe ich es beim Zuhören nicht, ich merke nur,
dass es eine jener Formen ist, die zu den höheren Weihen gehören, die
in den bisher studierten Büchern noch nicht vorkommen. Und richtig: Es
handelt sich um Passiv-Kausativ, juhuuu, endlich darf ich mal wieder
was Schwieriges üben!
Kausativ ist eine Verbform, die Zwang oder Erlaubnis ausdrückt: Ich
lasse meine Tochter den Abwasch machen oder ich lasse sie abends
ausgehen. Und Passiv ... na ja, das ist halt Passiv. Passiv im
Japanischen hat oft die Konnotation, dass etwas mit mir gegen meinen
Willen geschieht. Mit Kausativ-Passiv kann ich daher zum Beispiel
ausdrücken, dass ich von einem (älteren) Kollegen genötigt worden bin,
zu viel zu trinken: Aus
nomu (trinken) wird nomaseru (trinken lassen), dann
nomaserareru (zum Trinken genötigt werden), und das wiederum
vereinfacht zu nomasareru (getrinknötigt werden).
Kawashima-sensei drillt mich, die verschiedensten Verben in den
Kausativ-Passiv zu konjugieren, und es klappt recht schnell recht
gut.
In der nächsten Lektion geht es wieder um keigo, die
höflichen (ehrerbietigen oder unterwürfigen) Formen. Und wieder ist
dieser Unterricht Balsam für mein Selbstbewusstsein. Nicht nur gelingt
es mir, den vorgelegten Text halbwegs fließend zu lesen, ich schaffe
es sogar, ihn wie von mir verlangt ad hoc in höfliches Japanisch zu
übersetzen. Das Niveau dieser Stunde war meilenweit über dem meines
normalen Unterrichts, wie schön! Jegliche Müdigkeit ist verflogen, und
ich wiederhole energiegeladen noch ein paar Kanji, bevor ich nach
Hause fahre.
Das Haus steht heute leer. Auf dem Tisch liegt ein Zettel, dass
Mama was dazwischengekommen ist und wir daher nicht gemeinsam essen
können . Ich solle aber Suppe,
Curry-Reis und Salat essen. Wie immer steht alles auf dem Herd bereit,
und es ist noch warm; anscheinend haben wir und knapp verfehlt. Sie
hat mir aber erst vor ein paar Tagen gesagt, dass wir ab sofort erst
ab sieben essen, weil Sommer ist. Also habe ich kein schlechtes
Gewissen.
Auch dieser Zettel ist wieder ein kleiner Schubser für mein
Selbstvertrauen. Ich habe Mama nach dem letzten Brief gesagt, sie
braucht für mich keine Furigana mehr zu schreiben, sondern soll bitte
einfach ganz normal ihre Kanji benutzen. (Furigana sind Lesehilfen;
sie hat bisher meist in klein unter die Kanji oder in Klammern
dahinter noch die Aussprache in Hiragana geschrieben.) Und nur bei
einem Kanji bin ich leicht unsicher, aber als ich es nachschlage,
heißt es, was ich dachte. Mama hat nun wirklich eine sehr lesbare
Handschrift.
Zum Abendessen mache ich den Gepflogenheiten der Famile folgend den
Fernseher an. (Nicht wirklich; wenn die Familie da ist, wäre es mir
eigentlich fast lieber, sie ließen ihn aus.) Es läuft wieder mal ein
absolut typisches Programm. Es geht immer nur ums Essen. Man sieht,
wie irgendetwas zubereitet wird, dann isst es jemand unter großem Ah
und Oh vom Publikum, und dann sagt er/sie: oishii (lecker!). Es
ist immer lecker. Ich habe es noch nie erlebt, dass es nicht
geschmeckt hat.
Eine weitere Eigenart des japanischen Fernsehens: Sehr oft (nicht
in allen Sendungen, aber doch sehr oft) wird immer alles untertitelt.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie das wirklich nur für die
Hörbehinderten machen oder ob es eine unauffälige Art ist, dem
Analphabetismus entgegenzuwirken (der in Japan zwar wohl eigentlich
recht gering ist, aber es gibt da viel differenziertere Abstufungen.).
Und ganz typisch für diese Art Sendung: Es ist immer irgendwo ein
kleines Bild eingeblendet von jemandem, der staunend und bewundernd
zuschaut. Wenn man also auf das kleine Bild schaut, weiß man gleich,
wie man empfinden soll: Wie das wohl schmeckt ? Oooh, das sieht toll
aus ! Lecker ? Lecker,
leckerleckerlecker !
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