09.05., Prüfung, Kalligraphie und Kaustiv-Passiv

Heute bin ich so schnell mit dem Frühstück fertig, dass ich schon den Zug um 7.47 erwische und um kurz nach 8 in der Schule bin. Eigentlich wollte ich die Zeit nutzen, um mich noch einmal auf die anstehende Prüfung vorzubereiten, aber ich verdaddele die Zeit weitgehend im Internet. Es gelingt mir nicht, wirklich nervös zu werden, schließlich lerne ich für das Leben und nicht für die Prüfung.

Die erste Stunde ist zur Wiederholung vorgesehen und für eventuelle Fragen. Es hat aber niemand wirklich eine Frage, und so beschäftigt uns die Lehrerin, nachdem wir einen Zettel zur Grammatikwiederholung durchgearbeitet haben, einfach noch ein bisschen, indem sie die Leute fragt, was sie über die Feiertage getrieben haben.

Die Prüfung umfasst nur die in den letzten (netto) zwei Wochen gelernte Grammatik, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich schriftlich eine hohe Trefferquote habe. Zwischendurch dürfen alle der Reihe nach rüber gehen in ein anderes Zimmer, wo der mündliche Teil stattfindet. Dabei handelt es sich diesmal nicht um ein Gespräch mit der Lehrerin, sondern wir müssen immer paarweise miteinander reden. Und zwar sollen wir die Situation durchspielen, dass ich mich für das Land des jeweiligen Gesprächspartner interessiere und dort Urlaub machen will. Dazu soll ich dann fragen, wann denn dafür die beste Jahreszeit ist, was man am besten anschaut, ob man irgendwelche besonderen Vorkehrungen treffen muss, was der Wetterbericht denn sagt, all sowas. Anschließend macht man dasselbe Spielchen noch einmal mit einem anderen Partner und vertauschten Rollen.

Das Schwierigste an diesen Rollenspielchen ist für mich immer, dass ich auf die Schnelle gar nicht weiß, was ich einem Ausländer erzählen soll, was an Deutschland interessant ist. Beispielsweise kommt einem ja als erstes in den Sinn, dass man vielleicht Berlin mal gesehen haben sollte, wenn man nach Deutschland kommt. Aber kaum ist mir das rausgerutscht, geht mir auf, dass ich selber Berlin ja so gut wie gar nicht kenne. So wird das Problem, in den fünf Minuten Redezeit, die uns jeweils zur Verfügung steht, möglichst viel von der erlernten Grammatik unterzubringen, ein wenig erschwert.

Schwer zu sagen, wie gut ich abgeschnitten habe. Die Lehrerin hat sich eifrig Notizen gemacht und wohlwollend gelächelt; was das heißt, werde ich wohl auch erst morgen erfahren.

Am Nachmittag steht Kalligraphie auf dem Programm, zu gut Japanisch shodou. Darauf freue ich mich schon sehr, ich wollte schon immer mal lernen, wie man wunderschöne Schriftzeichen mit dem Pinsel schreibt. Das haben sie sich wohl als Entschädigung für den Prüfungsstress einfallen lassen.

Wir decken alle Tische im Klassenzimmer mit Filztüchern ab Foto dazu und bekommen Tinte, Pinsel und ein paar Blatt Papier. Als erstes üben wir, wie man den Pinsel hält Foto dazu, dann die drei verschiedenen Stricharten: tome (der Pinsel hält am Ende an und wird dann hochgehoben) Foto dazu, hane (am Ende ein kleines Häkchen nach oben) Foto dazu und harai (der Pinsel wird am Ende sanft weggezogen) Foto dazu. Und dann gehts los, und wir dürfen nach Herzenslust schreiben, was wir wollen.

Leider ist die Lehrerin, wie sie selbst am Anfang zugibt, keine besondere Kalligraphie-Expertin, sodass sie mir leider keine große Hilfe ist, als ich wissen will, welche Feinheiten denn zum Beispiel beim Schreiben des Zeichens für Go zu beachten sind. Das habe sie selber nicht so gut drauf – schade. Zwischendurch kommt unsere Klassenlehrerin Yoshiguchi-sensei zu Besuch, die kann das wesentlich besser Foto dazu und hat auch noch einen Tipp für mein Go auf Lager (also das Schriftzeichen).

Die Frage, wie man denn das jou von Anjou richtig schreibt, stelle ich übrigens unabhängig voneinander beiden Lehrerinnen, und beide zeigen mir die Strichfolge, die ich auch auf dem Briefumschlag am Wochenende zu erkennen geglaubt habe. Und und auf meinen Einwand, dass es in meinem Buch und den mir zugänglichen Quellen im Internet aber anders steht, entgegnen sie beide, dass das Buch vermutlich recht hat. Hmm.

Es ist übrigens überraschend schwierig, auch nur einen einzigen schön aussehenden Pinselstrich hinzukriegen. Geschweige denn ein ganzes Zeichen, und dann auch noch so, dass es die richtige Balance hat und auch an einer schönen Stelle auf dem Blatt steht. Wirklich schade, dass es nicht mehr Anleitung dazu gibt, ich würde das sehr gerne lernen. Und es hat absolut etwas Meditatives. Ich merke, dass es mir wesentlich besser gelingt, wenn ich lange auf das weiße Blatt schaue, mir genau vorstelle, wo das Zeichen stehen soll, mir den Rhythmus meiner Pinselstriche vorstelle, und erst, wenn das Zeichen und der Bewegungsablauf des Schreibens komplett vor meinem geistigen Auge fertig sind, zu schreiben beginne.

Eigentlich dachte ich ja, dass ich es mir schuldig bin, das Zeichen für Go zu meinem Meisterstück zu machen. Aber es will mir einfach nicht gut gelingen. Am Ende sollen wir auf das Blatt, das wir für am gelungensten halten, unseren Namen schreiben und es abgeben. Ich versuche mich ein paarmal an Anjou, meinem Wohnort, schreibe komplizierte Wörter wie Gesundheit und Freund (das zweite Zeichen davon hat es in sich), aber schließlich ist es doch das aus einem Kanji und einem Hiragana bestehende Wort matsuri (Festival, siehe vorletztes Wochenende), das mir am besten gelingt Foto dazu. Ich trenne mich eigentlich nur ungern von meinem matsuri, finde, für das erste Mal sieht es schon ganz authentisch aus. (Und wahrscheinlich fehlt ihm in den Augen des Experten jegliche Kunstfertigkeit. Zum Beispiel kann man (ich) es einwandfrei lesen, also kann es keine Kunst sein ;-).) Vielleicht kriegen wir es ja wieder.

Die zwei Stunden vergehen wie im Fluge; schade, dass sie um 14.30 Uhr schon vorbei sind. Heute beginnt mein Privatunterricht erst um 16.40 Uhr, sodass ich gemütlich ein bisschen im Aufenthaltsraum herumhängen, meine Fotos entwickeln und mich ansonsten meinem Mittagstief hingeben kann.

Der Privatlehrer hat heute das Buch dabei, auf das wir uns anfangs verständigt hatten, und für mich einige Seiten daraus kopiert. Ein kleiner Dialog ist als Manga dargestellt (Comic), und zunächst hören wir ihn uns von CD an. Huch, oh je, ich ahne schon, was auf mich zukommt. Wirklich verstehe ich es beim Zuhören nicht, ich merke nur, dass es eine jener Formen ist, die zu den höheren Weihen gehören, die in den bisher studierten Büchern noch nicht vorkommen. Und richtig: Es handelt sich um Passiv-Kausativ, juhuuu, endlich darf ich mal wieder was Schwieriges üben!

Kausativ ist eine Verbform, die Zwang oder Erlaubnis ausdrückt: Ich lasse meine Tochter den Abwasch machen oder ich lasse sie abends ausgehen. Und Passiv ... na ja, das ist halt Passiv. Passiv im Japanischen hat oft die Konnotation, dass etwas mit mir gegen meinen Willen geschieht. Mit Kausativ-Passiv kann ich daher zum Beispiel ausdrücken, dass ich von einem (älteren) Kollegen genötigt worden bin, zu viel zu trinken: Aus nomu (trinken) wird nomaseru (trinken lassen), dann nomaserareru (zum Trinken genötigt werden), und das wiederum vereinfacht zu nomasareru (getrinknötigt werden). Kawashima-sensei drillt mich, die verschiedensten Verben in den Kausativ-Passiv zu konjugieren, und es klappt recht schnell recht gut.

In der nächsten Lektion geht es wieder um keigo, die höflichen (ehrerbietigen oder unterwürfigen) Formen. Und wieder ist dieser Unterricht Balsam für mein Selbstbewusstsein. Nicht nur gelingt es mir, den vorgelegten Text halbwegs fließend zu lesen, ich schaffe es sogar, ihn wie von mir verlangt ad hoc in höfliches Japanisch zu übersetzen. Das Niveau dieser Stunde war meilenweit über dem meines normalen Unterrichts, wie schön! Jegliche Müdigkeit ist verflogen, und ich wiederhole energiegeladen noch ein paar Kanji, bevor ich nach Hause fahre.

Das Haus steht heute leer. Auf dem Tisch liegt ein Zettel, dass Mama was dazwischengekommen ist und wir daher nicht gemeinsam essen können Foto dazu. Ich solle aber Suppe, Curry-Reis und Salat essen. Wie immer steht alles auf dem Herd bereit, und es ist noch warm; anscheinend haben wir und knapp verfehlt. Sie hat mir aber erst vor ein paar Tagen gesagt, dass wir ab sofort erst ab sieben essen, weil Sommer ist. Also habe ich kein schlechtes Gewissen.

Auch dieser Zettel ist wieder ein kleiner Schubser für mein Selbstvertrauen. Ich habe Mama nach dem letzten Brief gesagt, sie braucht für mich keine Furigana mehr zu schreiben, sondern soll bitte einfach ganz normal ihre Kanji benutzen. (Furigana sind Lesehilfen; sie hat bisher meist in klein unter die Kanji oder in Klammern dahinter noch die Aussprache in Hiragana geschrieben.) Und nur bei einem Kanji bin ich leicht unsicher, aber als ich es nachschlage, heißt es, was ich dachte. Mama hat nun wirklich eine sehr lesbare Handschrift.

Zum Abendessen mache ich den Gepflogenheiten der Famile folgend den Fernseher an. (Nicht wirklich; wenn die Familie da ist, wäre es mir eigentlich fast lieber, sie ließen ihn aus.) Es läuft wieder mal ein absolut typisches Programm. Es geht immer nur ums Essen. Man sieht, wie irgendetwas zubereitet wird, dann isst es jemand unter großem Ah und Oh vom Publikum, und dann sagt er/sie: oishii (lecker!). Es ist immer lecker. Ich habe es noch nie erlebt, dass es nicht geschmeckt hat.

Eine weitere Eigenart des japanischen Fernsehens: Sehr oft (nicht in allen Sendungen, aber doch sehr oft) wird immer alles untertitelt. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie das wirklich nur für die Hörbehinderten machen oder ob es eine unauffälige Art ist, dem Analphabetismus entgegenzuwirken (der in Japan zwar wohl eigentlich recht gering ist, aber es gibt da viel differenziertere Abstufungen.). Und ganz typisch für diese Art Sendung: Es ist immer irgendwo ein kleines Bild eingeblendet von jemandem, der staunend und bewundernd zuschaut. Wenn man also auf das kleine Bild schaut, weiß man gleich, wie man empfinden soll: Wie das wohl schmeckt Foto dazu? Oooh, das sieht toll aus Foto dazu! Lecker Foto dazu? Lecker, leckerleckerlecker Foto dazu!

 

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©2007 by Harald Bögeholz