Heute sind meine Gastgeberinnen mal beide zu Hause. Als ich
Langschläfer um 9.30 Uhr aufstehe, brutzelt Mama mir ein Spiegelei und
ich erfahre, dass um 11 Freundinnen von Nami ins Haus kommen. Da werde
ich mich doch mal schnell anziehen. Ich setze mich raus auf den Balkon
in die Sonne und beginne mich mit Keigo zu beschäftigen, der besonders
höflichen Sprache, die ich zwar schon gehört, aber noch nie wirklich
verstanden habe und schon gar nicht sprechen kann. Oh je, wenn man
sich besonders respektvoll über die Handlungen anderer äußert, benutzt
man dieselbe Form wie für den Passiv. Aber wie um Himmels Willen soll
man das auseinanderhalten?
Heute ist allgemein Frust angesagt, was meine Sprachkenntnisse
betrifft. Der ging eigentlich schon beim Frühstück los, als Nami und
Mama mehrere vergebliche Anläufe gemacht haben, sich mit mir zu
unterhalten. Ich nehme ja schon immer mein elektronisches Wörterbuch
mit zum Frühstück, damit ich notfalls mal schnell was nachschlagen
kann. Aber wenn sie völlig unvermittelt ein Thema anschlagen, zu dem
mir komplett das Vokabular fehlt, dann stehe ich trotz Wörterbuch erst
einmal minutenlang im Wald. Ob ich wisse, was ich für eine Blutgruppe
habe, was ist denn das auch für eine Frage zum Frühstück?
Unten im Wohnzimmer sind inzwischen vier junge Frauen eingetroffen
und schnattern unentwegt. Ich gehe kurz runter, um mir was zu trinken
zu holen, und sage kurz guten Tag, aber irgendwie fühle ich mich in
der Runde völlig fehl am Platze, außerdem verstehe ich kein Wort von
dem, was sie sagen. Es ist als hätte ich nie Japanisch gelernt. Nach
einem kurzen konnichiwa ziehe ich mich frustriert wieder in
mein Zimmer zurück und höre mir respektvolle Verbformen an.
Gegen 12.30 fragt mich Mama, ob ich Hunger habe. Wenigstens die
Frage verstehe ich wieder, hmm, eigentlich noch nicht so richtig. Sie
wolle mit mir auswärts essen gehen. Offensichtlich hat sie schon
Hunger und will los, wie lösen wir das diplomatisch? Ich würde gerne
noch eine halbe Stunde lernen, aber dann können wir gerne gehen. Ein
kurzer Blick durch die Wohnzimmertür zeigt mir, dass die Mädels
inzwischen gemeinschaftlich beim Kochen sind, sie zaubern Salate,
gyouza und wer weiß noch was. Aber Mama und ich sind
anscheinend nicht eingeladen.
Ich ärgere mich ziemlich über meine Schüchternheit, als ich wieder
in meinem Zimmer sitze. Jetzt bin ich extra in Japan, aber traue ich
mich nicht, mich einfach zu den fünf Frauen dazuzusetzen und darauf zu
warten, dass vielleicht mal jemand etwas sagt, das ich verstehe.
Mama immerhin spricht langsam und deutlich, als wir schließlich ins
Auto steigen und nen Kilometer weiter in ein kleines Restaurant
fahren . Das ist original und
nicht auf Ausländer eingestellt . Speziell bei den
Lebensmitteln helfen meine bescheidenen Kanji-Kenntnisse gar nicht,
zumal ich verschiedene Fischsorten ja schon auf Deutsch kaum
auseinanderhalten kann. Aber an Hand von Mamas Erklärungen und den
Kanji (ich kann gedünstet, gegrillt und frittiert unterscheiden, juhu)
entscheide ich mich, und was ich bekomme, entspricht tatsächlich
meinen Vorstellungen .
Zurück zu Hause scheucht mich Mama wieder ins Wohnzimmer, und ich
mache schnell ein Foto von den Damen . Sie sind anscheinend auch
mit Essen fertig, aber ich weiß wieder nicht so recht, was ich in
dieser Runde soll, zumal ich wieder so gut wie nichts verstehe. Ich
ziehe mich daher wieder leicht gefrustet in mein Zimmer zurück, um
dann nach einer Weile zu beschließen, dass ich ein bisschen raus
mus.
Mit dem Fahrrad erkunde ich zunächst den Shinkansen-Bahnhof. Morgen
will ich mal nach Tokyo fahren und Hiko besuchen – die Züge
fahren alle halbe Stunde, das wird also kein Problem sein. In
Mikawa-Anjou halten allerdings nur die Bummelzüge , die fast
drei Stunden nach Tokyo brauchen; von Nagoya aus gibts auch schnelle,
die in weniger als zwei Stunden da sind.
Weiter gehts in eine Richtung, in der auf dem Stadtplan ein Park
eingezeichnet ist. Welch Enttäuschung!
tsuinpaaku (Twin Park) besteht aus zwei trostlosen Freiflächen,
eine mit einem kleinen, grasbewachsenen Hügel in der Mitte , eine weitgehend
gepflasterte , dazwischen eine Straße.
Hmm. Auch sonst entdecke ich auf meiner Tour durch Mikawa-Anjou keine
wirklich schönen Fleckchen. Man muss wohl wirklich einen Tempel oder
Schrein aufsuchen dazu.
Mama hat mir erzählt, dass heute Kyoutaro (Namis älterer Bruder)
und seine Frau zu Besuch kommen und hier übernachten. Übernachten!? Wo
denn eigentlich? Als ich nach einem Abstecher zum Hotspot unter Palmen
nach Hause komme, sind sie jedenfalls schon da und unterhalten sich
alle angeregt. Mama hat den Nachmittag über ihr Zimmer aufgeräumt und
baut nach dem Abendessen Betten, anscheinend zieht sie zu ihrer
Tochter und überlässt ihr Zimmer den Gästen. Mamas Zimmer ist übrigens
das einzige washitsu im Haus, ein klassisches japanisches
Zimmer mit Tatami und Shouji, und es dringt immer ein Geruch von
Räucherstäbchen heraus, vermutlich der Familienaltar. Ich habe auch
schon einmal gesehen, wie sie ein winziges Schälchen mit Reis in das
Zimmer gebracht hat (wohl für ihre Vorfahren oder für die Götter, so
genau habe ich mich mit den religiösen Sitten noch nicht beschäftigt).
Vielleicht frage ich sie morgen einmal, ob ich es fotografieren darf;
bisher hat sie die Tür stets sorgfältig verschlossen gehalten, und ich
habe ihre Privatsphäre auch in ihrer Abwesenheit nicht verletzt.
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