Nachdem wir jetzt zwei wunderschöne Sonnentage mit optimalem
T-Shirt-Wetter hatten – ich würde schätzen, 22 bis 25 Grad
–, regnet es heute morgen. Beim Frühstück hadere ich mit mir und
im Gespräch mit meiner Gastmutter, ob ich einen Schirm mitnehmen soll.
Die Frage hat zwei Facetten: eine praktische – nehme ich nun
einen Schirm mit? – und eine grammatikalische. Weil ich erst am
letzten und vorletzten Unterrichtstag verschiedene Versionen von bei
sich haben oder mitnehmen über mitbringen bis hin zu
nicht-mitnehmenderweise-gehen-und-wiederkommen gepaukt habe, bin ich
bezüglich der Schirmfrage wirklich verunsichert, zumal es noch eine
Verbform gibt, die ausdrückt, dass ich einen Schirm aufspanne, während
ich Fahrrad fahre. Jedenfalls ist mir das alles zu gefährlich –
die Grammatik und das Fahrradfahren mit Schirm –, und ich gehe
ohne und werde tüchtig nass. taihenn desu ne.
Obwohl ich das Kapitel schon hatte, lerne ich im Unterricht heute
doch noch ein bisschen was Neues. Entweder habe ich letztes Mal nicht
richtig aufgepasst, oder – was ich eher glaube – die
Lehrerin reichert den Unterricht etwas an, weil mehrere Leute in der
Klasse sind, die den Stoff eigentlich schon gehört haben.
Die heute behandelte Verbform drückt aus, dass es den Anschein hat
als würde gleich (oder später) etwas passieren. Also ich komme
aufgrund meiner eigenen sinnlichen Wahrnehmung zu dem Schluss, dass
das Gepäckstück gleich runterfallen wird oder es demnächst regnen
wird. Aber die Verneinung davon gibt es in zwei Varianten, von denen
eine mir neu ist. Der Unterschied ist etwas so subtil wie im
Deutschen: Es sieht so aus, als würde das Gepäckstück nicht fallen,
oder es sieht nicht so aus, als würde das Gepäckstück fallen. Aber
doch anders, denn während im Deutschen nur die Satzstellung etwas
anders ist, flektieren die Verben im Japanischen etwas lustiger:
ochinasasoudesu vs.
ochisoumonaidesu.
Nach dem regulären Unterricht habe ich ein Stündchen Pause, dann
kommt meine erste Einzellektion. Kawashima-sensei glaubte ich
eigentlich schon zu kennen, doch statt der Frau, die ich erwartet
habe, ist es ein Mann. Ich glaube, Kawashima ist ein ungefähr so
seltener Name wie Maier in Japan (die beiden Kanji heißen
Fluss-Insel).
Die Stunde vergeht im Wesentlichen damit, dass ich mich vorstelle,
von mir erzähle und wir darüber verhandeln, wass ich eigentlich von
ihm lernen möchte. Ich versuche ihm zu erklären, dass ich die bisher
gelernte Grammatik in der Theorie größtenteils verstanden zu haben
glaube, aber dass ich praktische Übung brauche. Ich möchte mich also
unterhalten, möglichst viel von der Grammatik anwenden und vor allem
verbessert werden, wenn ich mal was Falsches sage. Zum Beispiel lerne
ich heute unter anderem, dass ich mich sehr unhöflich ausgedrückt
habe, als ich versucht habe zu sagen, dass es sehr praktisch ist, dass
meine Gastmutter mir jeden Morgen Frühstück macht. Praktisch
(benri) kann man nicht sagen, wenn es sich um etwas handelt,
das jemand anderes freundlicherweise für einen tut, das ist ein Wort
für nahe gelegene Supermärkte oder schnelle Bahnverbindungen.
Ehe ich michs versehe, ist die Stunde vorbei. Es war zwar nur das
Vorbereitungsgeplänkel und ich habe nicht das Gefühl, dass mich das
jetzt schlagartig viel schlauer gemacht hat, aber es hat Spaß gemacht
und war vor allem nicht so anstrengend, dass ich Kopfweh davon
bekommen hätte. Kawashima-sensei betätigt sich mehr als Moderator und
lässt möglichst viel mich reden, das ist gut so. Genau das brauche
ich: Ich muss probieren, mich irgendwie auszudrücken, brauche aber ein
Korrektiv. Die Gastfamilie versteht mich fast immer, auch wenn ich die
Grammatik noch so vergewaltige. Ich freue mich auf die nächsten
Stunden.
Obwohl ich eigentlich jede einzelne Stunde für sich genommen nicht
als anstrengend empfunden habe, bin ich nach insgesamt sechs
Unterrichtsstunden doch ziemlich platt. Die reinste Erholung ist
dieser Urlaub nicht, aber ich wollte es ja so. Ich verfolge zwar immer
noch aus dem Augenwinkel die firmeninterne Mail (und lösche sie
größtenteils), aber die volle Dröhnung Japanisch hat mich komplett aus
dem Berufsalltag herauskatapultiert; es kommt mir vor, als hätte ich
monatelang nicht gearbeitet.
Auf der Heimfahrt mache ich im Zug endlich mal ein Foto von den
Sitzen. Was daran Besonderes ist? Man kann die Lehne umklappen, sodass
ein und dieselbe Sitzfläche wahlweise in Fahrtrichtung oder andersrum
benutzbar ist. Oder anders ausgedrückt: Wenn man einander
gegenübersitzen will, kann man sich so einen Vierer konfigurieren, und
wenn nicht, donnert man dem Menschen, den man nicht anschauen möchte,
den Sitz entgegen und setzt sich mit dem Rücken zu ihm .
Und noch etwas hätte ich schon gestern dokumentieren können: Am
Fahrradparkplatz hängen an fast allen Fahrrädern kleine
Schildchen . Ich dachte gestern, es
wären vielleicht Strafzettel für Falschparken. Na ja, so was Ähnliches
ist es auch: Gestern war eigentlich offiziell Feiertag in Japan (die
Schule hat die Feiertage ein bisschen verschoben), und da haben sie an
alle noch dort stehenden Fahrräder solch einen Zettel gehängt, auf dem
im Wesentlichen steht, wozu er da ist und dass man ihn doch entfernen
solle, wenn man das Fahrrad noch benutzt . Ich nehme an, dass
Fahrräder, die in ein, zwei Wochen immer noch diesen Zettel tragen,
entsorgt werden.
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