01.05., Erster Einzelunterricht

Nachdem wir jetzt zwei wunderschöne Sonnentage mit optimalem T-Shirt-Wetter hatten – ich würde schätzen, 22 bis 25 Grad –, regnet es heute morgen. Beim Frühstück hadere ich mit mir und im Gespräch mit meiner Gastmutter, ob ich einen Schirm mitnehmen soll. Die Frage hat zwei Facetten: eine praktische – nehme ich nun einen Schirm mit? – und eine grammatikalische. Weil ich erst am letzten und vorletzten Unterrichtstag verschiedene Versionen von bei sich haben oder mitnehmen über mitbringen bis hin zu nicht-mitnehmenderweise-gehen-und-wiederkommen gepaukt habe, bin ich bezüglich der Schirmfrage wirklich verunsichert, zumal es noch eine Verbform gibt, die ausdrückt, dass ich einen Schirm aufspanne, während ich Fahrrad fahre. Jedenfalls ist mir das alles zu gefährlich – die Grammatik und das Fahrradfahren mit Schirm –, und ich gehe ohne und werde tüchtig nass. taihenn desu ne.

Obwohl ich das Kapitel schon hatte, lerne ich im Unterricht heute doch noch ein bisschen was Neues. Entweder habe ich letztes Mal nicht richtig aufgepasst, oder – was ich eher glaube – die Lehrerin reichert den Unterricht etwas an, weil mehrere Leute in der Klasse sind, die den Stoff eigentlich schon gehört haben.

Die heute behandelte Verbform drückt aus, dass es den Anschein hat als würde gleich (oder später) etwas passieren. Also ich komme aufgrund meiner eigenen sinnlichen Wahrnehmung zu dem Schluss, dass das Gepäckstück gleich runterfallen wird oder es demnächst regnen wird. Aber die Verneinung davon gibt es in zwei Varianten, von denen eine mir neu ist. Der Unterschied ist etwas so subtil wie im Deutschen: Es sieht so aus, als würde das Gepäckstück nicht fallen, oder es sieht nicht so aus, als würde das Gepäckstück fallen. Aber doch anders, denn während im Deutschen nur die Satzstellung etwas anders ist, flektieren die Verben im Japanischen etwas lustiger: ochinasasoudesu vs. ochisoumonaidesu.

Nach dem regulären Unterricht habe ich ein Stündchen Pause, dann kommt meine erste Einzellektion. Kawashima-sensei glaubte ich eigentlich schon zu kennen, doch statt der Frau, die ich erwartet habe, ist es ein Mann. Ich glaube, Kawashima ist ein ungefähr so seltener Name wie Maier in Japan (die beiden Kanji heißen Fluss-Insel).

Die Stunde vergeht im Wesentlichen damit, dass ich mich vorstelle, von mir erzähle und wir darüber verhandeln, wass ich eigentlich von ihm lernen möchte. Ich versuche ihm zu erklären, dass ich die bisher gelernte Grammatik in der Theorie größtenteils verstanden zu haben glaube, aber dass ich praktische Übung brauche. Ich möchte mich also unterhalten, möglichst viel von der Grammatik anwenden und vor allem verbessert werden, wenn ich mal was Falsches sage. Zum Beispiel lerne ich heute unter anderem, dass ich mich sehr unhöflich ausgedrückt habe, als ich versucht habe zu sagen, dass es sehr praktisch ist, dass meine Gastmutter mir jeden Morgen Frühstück macht. Praktisch (benri) kann man nicht sagen, wenn es sich um etwas handelt, das jemand anderes freundlicherweise für einen tut, das ist ein Wort für nahe gelegene Supermärkte oder schnelle Bahnverbindungen.

Ehe ich michs versehe, ist die Stunde vorbei. Es war zwar nur das Vorbereitungsgeplänkel und ich habe nicht das Gefühl, dass mich das jetzt schlagartig viel schlauer gemacht hat, aber es hat Spaß gemacht und war vor allem nicht so anstrengend, dass ich Kopfweh davon bekommen hätte. Kawashima-sensei betätigt sich mehr als Moderator und lässt möglichst viel mich reden, das ist gut so. Genau das brauche ich: Ich muss probieren, mich irgendwie auszudrücken, brauche aber ein Korrektiv. Die Gastfamilie versteht mich fast immer, auch wenn ich die Grammatik noch so vergewaltige. Ich freue mich auf die nächsten Stunden.

Obwohl ich eigentlich jede einzelne Stunde für sich genommen nicht als anstrengend empfunden habe, bin ich nach insgesamt sechs Unterrichtsstunden doch ziemlich platt. Die reinste Erholung ist dieser Urlaub nicht, aber ich wollte es ja so. Ich verfolge zwar immer noch aus dem Augenwinkel die firmeninterne Mail (und lösche sie größtenteils), aber die volle Dröhnung Japanisch hat mich komplett aus dem Berufsalltag herauskatapultiert; es kommt mir vor, als hätte ich monatelang nicht gearbeitet.

Auf der Heimfahrt mache ich im Zug endlich mal ein Foto von den Sitzen. Was daran Besonderes ist? Man kann die Lehne umklappen, sodass ein und dieselbe Sitzfläche wahlweise in Fahrtrichtung oder andersrum benutzbar ist. Oder anders ausgedrückt: Wenn man einander gegenübersitzen will, kann man sich so einen Vierer konfigurieren, und wenn nicht, donnert man dem Menschen, den man nicht anschauen möchte, den Sitz entgegen und setzt sich mit dem Rücken zu ihm Foto dazu Foto dazu.

Und noch etwas hätte ich schon gestern dokumentieren können: Am Fahrradparkplatz hängen an fast allen Fahrrädern kleine Schildchen Foto dazu. Ich dachte gestern, es wären vielleicht Strafzettel für Falschparken. Na ja, so was Ähnliches ist es auch: Gestern war eigentlich offiziell Feiertag in Japan (die Schule hat die Feiertage ein bisschen verschoben), und da haben sie an alle noch dort stehenden Fahrräder solch einen Zettel gehängt, auf dem im Wesentlichen steht, wozu er da ist und dass man ihn doch entfernen solle, wenn man das Fahrrad noch benutzt Foto dazu. Ich nehme an, dass Fahrräder, die in ein, zwei Wochen immer noch diesen Zettel tragen, entsorgt werden.

 

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©2007 by Harald Bögeholz