Heute ist ein wunderschöner Sonnentag. Nach dem Frühstück setze ich
mich mit meinem Kanji-Buch raus auf den Balkon in die Morgensonne.
Wenn es nur nicht so unerträglich laut wäre – eine Schnellstraße
direkt vor der Tür und ein Shinkansen nach dem anderen donnert vorbei.
Schrieb ich neulich, dass das einmal die Stunde passiert? Da muss ich
mich mächtig verschätzt haben, es ist eher mindestens alle 10 Minuten.
Bestimmt haben all die Mini-Erdbeben durch den Shinkansen meine
Festplatte auf dem Gewissen. Ich werde mich bei der japanischen Bahn
beschweren, jawoll!
Gegen 9.45 ist mir nach Kaffee zumute, und ich gehe runter. Mama
fragt mich, was ich heute vorhabe. Nichts besonderes, lernen halt. Ob
ich Lust habe, ein bisschen mit dem Auto herumzufahren und die Tempel
und Schreine in der Nähe zu besichtigen? Natürlich, klar, immer! Dann
also nichts wie ab unter die Dusche; Mama kocht inzwischen Kaffee.
Wir fahren zuerst zu einem Museum, dessen Hinweisschild ich auf
meiner Fahrradtour zur Schule schon einmal gesehen habe. Es geht aber
nicht so sehr um das Museum, vielmehr um den Tempel und den Schrein
daneben. Ich staune wieder einmal über die neue japanische Ästhetik.
Ein Monument, dessen Sinn mir Mama auch nicht erklären kann . Neben dem Museum ein
sagen wir mal Neo-Japanischer Garten , durch einen Plastikzaun
mit Bambusanmutung abgetrennt vom Friedhof . Aber der eigentliche
Tempel sieht wieder recht echt aus . Hier ist jedenfalls das
Nebeneinander von alt und neu besonders interessant (siehe Fotos),
sowohl im Großen also auch im Kleinen (altes Holzdach mit neuen
Metall-Rollläden ).
Der nächste Tempel enthält etwas weniger neue Elemente, und man
kann sogar hineingehen . Wieder draußen, kommt aus
dem Haus ein Mönch (?) in einer schwarzen Kutte heraus und steigt in
sein Auto. Mama verneigt sich ehrfurchtsvoll und meint, ich solle ihn
fotografieren, aber schon ist er weg und so eindrucksvoll sah er nun
auch nicht aus. Sie hat anscheinend großen Respekt vor ihm.
Als nächstes fahren wir etwas weiter, irgendwo südlich von Okazaki,
kezouji heißt der Tempel. Mama meint, er wäre sehr berühmt, und
in der Tat ist der Parkplatz ziemlich voll. Noch bevor ich Zeit finde,
die Atmosphäre so richtig auf mich wirken zu lassen, fragt mich Mama,
ob ich gerne hineingehen würde. Anscheinend fängt gerade eine Führung
an, und ja, natürlich interessiert mich das. Wir bezahlen 200 Yen
Eintritt pro Person und gesellen uns rasch zu einer Gruppe von
Japanern. Der Reiseführer, ein älterer Herr, nuschelt in einer
Sprache, die vermutlich Japanisch ist, irgendetwas, und ich verstehe
absolut kein Wort. Als er mit dem ersten Raum fertig ist und die
Gruppe weiterzieht, flüstere ich zu Mama, ob man wohl Fotos machen
darf? Ja klar, darf man . Auch die Erklärung des
irgendwie berühmten Gartens verstehe ich leider überhaupt
nicht .
Die Gruppe lässt sich in einem anscheinend neu gebauten, aber
traditionell eingerichteten Raum nieder und Mama fragt mich, ob
ich
macha trinken möchte. Na klar, ich lasse mir doch nichts
entgehen. Sie wuselt davon, wahrscheinlich, um dafür zu bezahlen. Alle
nehmen nebeneinander auf einem roten Filztuch Platz und der
Reiseführer serviert zunächst ein kleine Schälchen mit etwas
Süßem . Jemand fragt Mama, ob ich
Japanisch verstehe, und ich antworte, dass ich ein bisschen verstehe.
Unter großem Oh und Ah werde ich beäugt, ich fühle mich ein bisschen
wie ein sprechender Affe, der dem staunenden Publikum vorgeführt wird.
Ich darf selber gar nicht so viel sagen, Mama erklärt den Anwesenden,
dass ich aus Deutschland komme und im Moment bei ihr wohne. Sie ist
völlig verändert und versucht immer wieder, mir auf Englisch zu
erklären, worum es geht. Ich habe sie noch nie Englisch sprechen
hören, und es ist leider überhaupt keine Hilfe. Denn sie kann
eigentlich nicht wirklich Englisch und mischt nur immer mal einzelne
englische Wörter unter ihr Japanisch. Und ich rätsle dann, ob ich das
soeben gehörte Wort mental mit meinem Japanisch-Lexikon abgleichen
oder durch den Ent-Katakanifizierer schicken und als Englisch
interpretieren soll. (Ein ähnliches Gefühl hat man, wenn Franzosen
Englisch sprechen, klingt auch alles wie Französisch und man braucht
mehrere Sätze, um auf Englisch umzuschalten.)
Wir bekommen macha serviert , und Mama erklärt mir, wie
man die Schale erst in der Handfläche drehen muss, bevor man trinkt
(wusste ich schon ;-) ). Sie unterhält sich immer intensiver mit den
anderen, ein Herr meint, ob sie mir denn schon Gamagori gezeigt habe?
Das müsse ich doch unbedingt sehen. Das Gefühl, bei dieser
Konversation anwesend zu sein, ist schwierig zu beschreiben.
Einerseits ist mein Japanisch leider so miserabel, dass ich nicht
wirklich folgen kann. Andererseits reicht es, um ganz genau zu merken,
dass sie über den gaijin sprechen und sich ganz aufgeregt
Gedanken machen, was man dem denn zeigen müsste.
Zwischendurch werde ich auch ab und zu was gefragt, aber im Großen
und Ganzen unterhalten sie sich über mich statt mit mir. Macht aber
nichts, ist auch ganz interessant. Zu meiner Überraschung beschließt
die Gruppe, mit uns irgendwo hin zu fahren, so genau kapiere ich das
noch nicht. Ich habe vorhin erzählt, dass ich gerne Go spiele, geht es
womöglich zu dem Herrn nach Hause auf eine Partie? Keine Ahnung. Wir
steigen ins Auto und fahren hinter den anderen her. Mama meint, dass
es schon interessant ist, mit einem gaijin unterwegs zu sein.
Man lernt sofort neue Leute kennen. Na wenn das so ist, begleite ich
sie doch gerne!
Mitten auf dem Lande halten wir auf einem Parkplatz . Sehr seltsam. Dort gibt
es ein anscheinend neu gebautes Toilettenhäuschen, das aber noch nicht
in Betrieb ist . Daher zusätzlich so ein
Behelfs-Klo. Ich habe absolut keine Ahnung, um was für eine
Sehenswürdigkeit es sich hier handelt, dass man extra sanitäre Anlagen
dafür baut. Für meine Augen handelt es sich ... tja, um einen
Sandplatz .
Aber um den Platz geht es auch gar nicht. Vielmehr darum, gemeinsam
in ein größeres Auto zu steigen und nach Gamagori zu fahren. Die ganze
Fahrt über, vielleicht eine halbe Stunde lang, unterhalten sich alle
ganz auf- und angeregt, und mir platzt allmählich der Kopf vor lauter
Japanisch, dem ich kaum folgen kann. Insbesonderer der Fahrer ist sehr
gesprächig; gelegentlich spricht er mich auch mal an. Dann kommen
die typischen Fragen, die sie alle stellen: Warum ich denn Japanisch
lerne? Welches japanische Essen ich mag? Was es in Deutschland alles
nicht gibt?
In Gamagori findet anscheinend gerade ein matsuri statt,
welch Zufall ! Daher können wir nicht
direkt zum purinsu hoteru fahren, das sie mir eigentlich zeigen
wollten, sondern müssen ein Stückchen davon entfernt parken.
Die Strandpromenade von Gamagori ist einigermaßen trostlos, alles
Beton . Wie bei allen
matsuris, denen ich bisher beigewohnt habe, herrscht allgemeine
Volksfeststimmung, zum Beispiel grillen die Leute am
Strand . An einem kleinen Schrein
führen Kinder ihre Künste vor, erst eine Trommlergruppe aus ein paar
Jungen , dann ein Tanz .
Nach ein paar Minuten scheucht uns unser selbst ernannter
Reiseführer weiter, schließlich wollen wir ja das berühmte purinsu
hoteru besichtigen und die hübschen Blumen. Kaum ist das Ding in
Sichtweite, geht die typische Routine los, die Japaner anscheinend
nicht nur im Ausland an den Tag legen. An allen möglichen Stellen muss
die Reisegruppe posieren, und es werden Fotos gemacht. Ich kriege auch
dauernd erklärt, wo ich Fotos machen soll (die meisten davon habe ich
allerdings ehrlich gesagt weggeworfen). Ich mag in solchen Situationen
eher Fotos ohne Menschen, gar nicht so leicht hinzukriegen .
Nach einer (Eis-)Kaffeepause fragen mich meine Gastgeber, ob ich
jetzt das Muschelmuseum sehen will. Also ehrlich gesagt interessiert
mich eher die Insel (takeshima, Bambus-Insel), zu der die
Brücke führt . Zu meiner Überraschung
verabschieden sich plötzlich alle von mir, als wir mit der
Besichtigung des Hotel-Hügels fertig sind. Ich soll die Insel alleine
besichtigen, und wir treffen uns dann in einer Stunde am Anfang der
Brücke. Nach all der Betüddelung bisher bin ich total überrascht,
wieso das denn? Aber eigentlich bin ich froh drum. So kann ich endlich
mal ein Stündchen lang in Ruhe die Atmosphäre in mich aufsaugen, mich
treiben lassen und Fotos machen (wens interessiert, bitte selbst duch
die Fotogalerie klicken, ich füge sie hier nicht alle ein).
Man erregt als Ausländer – zumal mit blonden Haaren und
blauen Augen – sofort Aufsehen, und als ich nur mal ne Minute an
einem Platz stehe, werde ich sofort angesprochen. Wo ich denn
herkomme, das übliche. Kaum habe ich mein doitsu kara kimashita
(ich komme aus Deutschland) ausgesprochen, folgt das obligatorische
ee, nihongo ga jouzu da ne (Du kannst aber toll Japanisch).
madamada, nein, noch lange nicht. So ein matsuri ist
nicht wirklich interessant, wenn man nicht selbst mitmacht, meint mein
Gegenüber, und ein anderer junger Mann drückt mir eine Dose mit einem
Getränk in die Hand, das nach Grapefruitsaft schmeckt, aber laut
Aufschrift 6 % Alkohol hat. Das wirkt jetzt gut, haben wir doch
durch die zufällige Begegnung irgendwie überhaupt keine Gelegenheit
gehabt, etwas zu Mittag zu essen. Wir unterhalten uns noch ein paar
Minuten, mir wird jemand vorgestellt, der einen Bekannten in
Deutschland hat (den Ortsnamen verstehe ich leider beim besten Willen
nicht), jemand drückt mir zwei Fleischspieße (yakitori,
Hähnchenfleisch) in die Hand. Es macht großen Spaß, so freundlich
empfangen zu werden, aber die Hälfte meiner Stunde ist schon rum, und
ich möchte wirklich noch die Insel besichtigen.
Dazu gibt es allerdings gar nicht so viel zu erzählen, kleiner Fels
im Wasser mit ein paar Schreinen drauf. Ich treffe mich pünktlich um
16 Uhr wieder mit den anderen, und wir werden Zeuge, wie die Gruppe,
die vorhin noch den mikoshi durch die Straßen getragen und sich
dabei mit Wasser vollspritzen gelassen hat, jetzt am Ufer angekommen
ist und geradewegs ins Meer spaziert .
Auf der Rückfahrt bereitet es mir schon fast physische
Kopfschmerzen, ununterbrochen mit Japanisch bombardiert zu werden. Ich
brauche dringend eine Auszeit. Die bekomme ich erst zu Hause, wo wir
unterwegs gekauftes Sushi verzehren und ich mich dann in mein Zimmer
zurückziehe, um meine Eindrücke aufzuschreiben. Mit Lernen wirds heute
so gut wie nichts mehr, ich mache zwischendurch nur noch notdürftig
meine Hausaufhaben. Ein toller Tag, Danke, liebe Mama, Danke, lieber
Unbekannter, dessen Namen ich schon wieder vergessen habe! (Ich muss
wirklich daran arbeiten, mir japanische Namen zu merken, es ist
peinlich!)
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