29.04., Überraschungstrip nach Gamagori

Heute ist ein wunderschöner Sonnentag. Nach dem Frühstück setze ich mich mit meinem Kanji-Buch raus auf den Balkon in die Morgensonne. Wenn es nur nicht so unerträglich laut wäre – eine Schnellstraße direkt vor der Tür und ein Shinkansen nach dem anderen donnert vorbei. Schrieb ich neulich, dass das einmal die Stunde passiert? Da muss ich mich mächtig verschätzt haben, es ist eher mindestens alle 10 Minuten. Bestimmt haben all die Mini-Erdbeben durch den Shinkansen meine Festplatte auf dem Gewissen. Ich werde mich bei der japanischen Bahn beschweren, jawoll!

Gegen 9.45 ist mir nach Kaffee zumute, und ich gehe runter. Mama fragt mich, was ich heute vorhabe. Nichts besonderes, lernen halt. Ob ich Lust habe, ein bisschen mit dem Auto herumzufahren und die Tempel und Schreine in der Nähe zu besichtigen? Natürlich, klar, immer! Dann also nichts wie ab unter die Dusche; Mama kocht inzwischen Kaffee.

Wir fahren zuerst zu einem Museum, dessen Hinweisschild ich auf meiner Fahrradtour zur Schule schon einmal gesehen habe. Es geht aber nicht so sehr um das Museum, vielmehr um den Tempel und den Schrein daneben. Ich staune wieder einmal über die neue japanische Ästhetik. Ein Monument, dessen Sinn mir Mama auch nicht erklären kann Foto dazu. Neben dem Museum ein sagen wir mal Neo-Japanischer Garten Foto dazu Foto dazu, durch einen Plastikzaun mit Bambusanmutung abgetrennt vom Friedhof Foto dazu. Aber der eigentliche Tempel sieht wieder recht echt aus Foto dazu. Hier ist jedenfalls das Nebeneinander von alt und neu besonders interessant (siehe Fotos), sowohl im Großen also auch im Kleinen (altes Holzdach mit neuen Metall-Rollläden Foto dazu).

Der nächste Tempel enthält etwas weniger neue Elemente, und man kann sogar hineingehen Foto dazu Foto dazu. Wieder draußen, kommt aus dem Haus ein Mönch (?) in einer schwarzen Kutte heraus und steigt in sein Auto. Mama verneigt sich ehrfurchtsvoll und meint, ich solle ihn fotografieren, aber schon ist er weg und so eindrucksvoll sah er nun auch nicht aus. Sie hat anscheinend großen Respekt vor ihm.

Als nächstes fahren wir etwas weiter, irgendwo südlich von Okazaki, kezouji heißt der Tempel. Mama meint, er wäre sehr berühmt, und in der Tat ist der Parkplatz ziemlich voll. Noch bevor ich Zeit finde, die Atmosphäre so richtig auf mich wirken zu lassen, fragt mich Mama, ob ich gerne hineingehen würde. Anscheinend fängt gerade eine Führung an, und ja, natürlich interessiert mich das. Wir bezahlen 200 Yen Eintritt pro Person und gesellen uns rasch zu einer Gruppe von Japanern. Der Reiseführer, ein älterer Herr, nuschelt in einer Sprache, die vermutlich Japanisch ist, irgendetwas, und ich verstehe absolut kein Wort. Als er mit dem ersten Raum fertig ist und die Gruppe weiterzieht, flüstere ich zu Mama, ob man wohl Fotos machen darf? Ja klar, darf man Foto dazu. Auch die Erklärung des irgendwie berühmten Gartens verstehe ich leider überhaupt nicht Foto dazu.

Die Gruppe lässt sich in einem anscheinend neu gebauten, aber traditionell eingerichteten Raum nieder Foto dazu und Mama fragt mich, ob ich macha trinken möchte. Na klar, ich lasse mir doch nichts entgehen. Sie wuselt davon, wahrscheinlich, um dafür zu bezahlen. Alle nehmen nebeneinander auf einem roten Filztuch Platz und der Reiseführer serviert zunächst ein kleine Schälchen mit etwas Süßem Foto dazu Foto dazu. Jemand fragt Mama, ob ich Japanisch verstehe, und ich antworte, dass ich ein bisschen verstehe. Unter großem Oh und Ah werde ich beäugt, ich fühle mich ein bisschen wie ein sprechender Affe, der dem staunenden Publikum vorgeführt wird. Ich darf selber gar nicht so viel sagen, Mama erklärt den Anwesenden, dass ich aus Deutschland komme und im Moment bei ihr wohne. Sie ist völlig verändert und versucht immer wieder, mir auf Englisch zu erklären, worum es geht. Ich habe sie noch nie Englisch sprechen hören, und es ist leider überhaupt keine Hilfe. Denn sie kann eigentlich nicht wirklich Englisch und mischt nur immer mal einzelne englische Wörter unter ihr Japanisch. Und ich rätsle dann, ob ich das soeben gehörte Wort mental mit meinem Japanisch-Lexikon abgleichen oder durch den Ent-Katakanifizierer schicken und als Englisch interpretieren soll. (Ein ähnliches Gefühl hat man, wenn Franzosen Englisch sprechen, klingt auch alles wie Französisch und man braucht mehrere Sätze, um auf Englisch umzuschalten.)

Wir bekommen macha serviert Foto dazu, und Mama erklärt mir, wie man die Schale erst in der Handfläche drehen muss, bevor man trinkt (wusste ich schon ;-) ). Sie unterhält sich immer intensiver mit den anderen, ein Herr meint, ob sie mir denn schon Gamagori gezeigt habe? Das müsse ich doch unbedingt sehen. Das Gefühl, bei dieser Konversation anwesend zu sein, ist schwierig zu beschreiben. Einerseits ist mein Japanisch leider so miserabel, dass ich nicht wirklich folgen kann. Andererseits reicht es, um ganz genau zu merken, dass sie über den gaijin sprechen und sich ganz aufgeregt Gedanken machen, was man dem denn zeigen müsste.

Zwischendurch werde ich auch ab und zu was gefragt, aber im Großen und Ganzen unterhalten sie sich über mich statt mit mir. Macht aber nichts, ist auch ganz interessant. Zu meiner Überraschung beschließt die Gruppe, mit uns irgendwo hin zu fahren, so genau kapiere ich das noch nicht. Ich habe vorhin erzählt, dass ich gerne Go spiele, geht es womöglich zu dem Herrn nach Hause auf eine Partie? Keine Ahnung. Wir steigen ins Auto und fahren hinter den anderen her. Mama meint, dass es schon interessant ist, mit einem gaijin unterwegs zu sein. Man lernt sofort neue Leute kennen. Na wenn das so ist, begleite ich sie doch gerne!

Mitten auf dem Lande halten wir auf einem Parkplatz Foto dazu. Sehr seltsam. Dort gibt es ein anscheinend neu gebautes Toilettenhäuschen, das aber noch nicht in Betrieb ist Foto dazu. Daher zusätzlich so ein Behelfs-Klo. Ich habe absolut keine Ahnung, um was für eine Sehenswürdigkeit es sich hier handelt, dass man extra sanitäre Anlagen dafür baut. Für meine Augen handelt es sich ... tja, um einen Sandplatz Foto dazu.

Aber um den Platz geht es auch gar nicht. Vielmehr darum, gemeinsam in ein größeres Auto zu steigen und nach Gamagori zu fahren. Die ganze Fahrt über, vielleicht eine halbe Stunde lang, unterhalten sich alle ganz auf- und angeregt, und mir platzt allmählich der Kopf vor lauter Japanisch, dem ich kaum folgen kann. Insbesonderer der Fahrer ist sehr gesprächig; gelegentlich spricht er mich auch mal an. Dann kommen die typischen Fragen, die sie alle stellen: Warum ich denn Japanisch lerne? Welches japanische Essen ich mag? Was es in Deutschland alles nicht gibt?

In Gamagori findet anscheinend gerade ein matsuri statt, welch Zufall Foto dazu! Daher können wir nicht direkt zum purinsu hoteru fahren, das sie mir eigentlich zeigen wollten, sondern müssen ein Stückchen davon entfernt parken.

Die Strandpromenade von Gamagori ist einigermaßen trostlos, alles Beton Foto dazu. Wie bei allen matsuris, denen ich bisher beigewohnt habe, herrscht allgemeine Volksfeststimmung, zum Beispiel grillen die Leute am Strand Foto dazu. An einem kleinen Schrein führen Kinder ihre Künste vor, erst eine Trommlergruppe aus ein paar Jungen Foto dazu, dann ein Tanz Foto dazu.

Nach ein paar Minuten scheucht uns unser selbst ernannter Reiseführer weiter, schließlich wollen wir ja das berühmte purinsu hoteru besichtigen und die hübschen Blumen. Kaum ist das Ding in Sichtweite, geht die typische Routine los, die Japaner anscheinend nicht nur im Ausland an den Tag legen. An allen möglichen Stellen muss die Reisegruppe posieren, und es werden Fotos gemacht. Ich kriege auch dauernd erklärt, wo ich Fotos machen soll (die meisten davon habe ich allerdings ehrlich gesagt weggeworfen). Ich mag in solchen Situationen eher Fotos ohne Menschen, gar nicht so leicht hinzukriegen Foto dazu.

Nach einer (Eis-)Kaffeepause fragen mich meine Gastgeber, ob ich jetzt das Muschelmuseum sehen will. Also ehrlich gesagt interessiert mich eher die Insel (takeshima, Bambus-Insel), zu der die Brücke führt Foto dazu. Zu meiner Überraschung verabschieden sich plötzlich alle von mir, als wir mit der Besichtigung des Hotel-Hügels fertig sind. Ich soll die Insel alleine besichtigen, und wir treffen uns dann in einer Stunde am Anfang der Brücke. Nach all der Betüddelung bisher bin ich total überrascht, wieso das denn? Aber eigentlich bin ich froh drum. So kann ich endlich mal ein Stündchen lang in Ruhe die Atmosphäre in mich aufsaugen, mich treiben lassen und Fotos machen (wens interessiert, bitte selbst duch die Fotogalerie klicken, ich füge sie hier nicht alle ein).

Man erregt als Ausländer – zumal mit blonden Haaren und blauen Augen – sofort Aufsehen, und als ich nur mal ne Minute an einem Platz stehe, werde ich sofort angesprochen. Wo ich denn herkomme, das übliche. Kaum habe ich mein doitsu kara kimashita (ich komme aus Deutschland) ausgesprochen, folgt das obligatorische ee, nihongo ga jouzu da ne (Du kannst aber toll Japanisch). madamada, nein, noch lange nicht. So ein matsuri ist nicht wirklich interessant, wenn man nicht selbst mitmacht, meint mein Gegenüber, und ein anderer junger Mann drückt mir eine Dose mit einem Getränk in die Hand, das nach Grapefruitsaft schmeckt, aber laut Aufschrift 6 % Alkohol hat. Das wirkt jetzt gut, haben wir doch durch die zufällige Begegnung irgendwie überhaupt keine Gelegenheit gehabt, etwas zu Mittag zu essen. Wir unterhalten uns noch ein paar Minuten, mir wird jemand vorgestellt, der einen Bekannten in Deutschland hat (den Ortsnamen verstehe ich leider beim besten Willen nicht), jemand drückt mir zwei Fleischspieße (yakitori, Hähnchenfleisch) in die Hand. Es macht großen Spaß, so freundlich empfangen zu werden, aber die Hälfte meiner Stunde ist schon rum, und ich möchte wirklich noch die Insel besichtigen.

Dazu gibt es allerdings gar nicht so viel zu erzählen, kleiner Fels im Wasser mit ein paar Schreinen drauf. Ich treffe mich pünktlich um 16 Uhr wieder mit den anderen, und wir werden Zeuge, wie die Gruppe, die vorhin noch den mikoshi durch die Straßen getragen und sich dabei mit Wasser vollspritzen gelassen hat, jetzt am Ufer angekommen ist und geradewegs ins Meer spaziert Foto dazu Foto dazu.

Auf der Rückfahrt bereitet es mir schon fast physische Kopfschmerzen, ununterbrochen mit Japanisch bombardiert zu werden. Ich brauche dringend eine Auszeit. Die bekomme ich erst zu Hause, wo wir unterwegs gekauftes Sushi verzehren und ich mich dann in mein Zimmer zurückziehe, um meine Eindrücke aufzuschreiben. Mit Lernen wirds heute so gut wie nichts mehr, ich mache zwischendurch nur noch notdürftig meine Hausaufhaben. Ein toller Tag, Danke, liebe Mama, Danke, lieber Unbekannter, dessen Namen ich schon wieder vergessen habe! (Ich muss wirklich daran arbeiten, mir japanische Namen zu merken, es ist peinlich!)

 

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©2007 by Harald Bögeholz