21.04., Den Schulweg erkunden

Nach fast 11 Stunden Schlaf bin ich um 8 so richtig ausgeruht. Auf dem Wohnzimmertisch finde ich einen Brief: Guten Morgen! Ich denke, ich werde heute so gegen 15.30 nach Hause kommen. Ich gehe jetzt zu Freunden, Mittagessen und Kaffeetrinken. Foto dazu Mama hatte mir gestern schon erklärt, dass ich heute für mich selber sorgen muss. Ist aber kein Problem, den Toaster und die Kaffeemaschine habe ich voll im Griff. Mama hat mehrfach betont, dass ich alles essen darf, was im Kühlschrank ist, aber ich muss sagen, die meisten Dinge darin sind entweder offensichtlich ungeeignet als Frühstück (allerlei Soßen und Gewürze) oder nicht so recht identifizierbar Foto dazu. Aber egal, Marmeladentoast reicht schon.

Ich setze mich ein bisschen an den Computer, wobei mich nach relativ kurzer Zeit ein schlechtes Gewissen überkommt: Sie haben zwar gesagt, dass ich den benutzen darf, aber sie haben keinen Router, sondern man muss sich ins Internet einwählen. Wer weiß, ob das nach Zeit abgerechnet wird; ich gehe lieber wieder offline und nehme mir vor zu fragen.

Eines fällt mir aber auf, als mein Blick so vom Bildschirm zu der Uhr rechts neben dem Schreibtisch schweift: Auch in dieser Familie scheint es verschiedene Zeitzonen zu geben. Ob sie sich wohl einfach nicht so genau um die Uhrzeit scheren und das Zufall ist? Oder hat es womöglich Methode? Ich geh mal kurz rum und checke die Uhren: PC geht richtig Foto dazu. Büro-Uhr geht ne Viertelstunde nach Foto dazu (man kann ja auch ruhig ein bisschen länger arbeiten). Badezimmeruhr geht 20 Minuten vor Foto dazu (Frauen brauchen immer etwas länger). Esszimmeruhr geht 6 Minuten vor Foto dazu (Reservezeit, um sich vor dem Herausgehen zurechtzumachen). Wahrscheinlich alles Blödsinn ;-).

Ich beschäftige mich noch bis Mittag mit meinen Büchern, um dann in meinem besten Japanisch auf den Zettel zu schreiben, dass ich heute mal ausprobiere, mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren, und spätestens um 18 Uhr zurück bin Foto dazu. Der Weg zur Schule ist eigentlich ganz einfach: Immer an der fetten, viel befahrenen Straße entlang. Etwa 12, 13 Kilometer dürften es sein, wenn ich das auf Google Maps richtig abgeschätzt habe. Erstmal gibts nach ein paar hundert Metern was zu essen Foto dazu, dann mache ich mich auf die Reise.

Fahrradfahren in Japan ist echt ätzend. Es beginnt mit dem Fahrrad. Ich will ja nicht undankbar sein, aber auf dem Fahrrad, das man mir geliehen hat, sitz ich wie der Affe auf dem Schleifstein. Nachdem ich den Sattel so hoch wie möglich eingestellt habe, geht es so halbwegs, aber irgendwie sind die Pedale zu kurz und die Sitzhaltung ist merkwürdig. Die Reifen nur halb aufgepumpt, sodass man bei jeder kleinen Stufe Angst um seine Felgen haben muss. Das Schlimmste ist aber, dass man als Radfahrer auf dem Bürgersteig fahren muss. Das heißt erstens den Fußgängern ausweichen, zweitens bei jeder Querstraße zweimal über Rinnsteine holpern und vor allem auf die Autos aufpassen. Die nehmen nämlich keinerlei Rücksicht auf eventuelle Radfahrer und fahren gnadenlos bis an den Straßenrand vor. Dass in Japan Linksverkehr herrscht, hat für die Radfahrer keinerlei Bedeutung: Rechts und links fahrende Radfahrer sind nach meinen Beobachtungen gleichverteilt. Es gibt anscheinend auch keine Konvention, wie entgegenkommende Radfahrer einander ausweichen. Keineswegs fährt jeder immer nach links, wie man das erwarten würde, nein, rechts geht genauso. Und als mir drei Schüler auf dem Fahrrad entgegenkommen, herrscht kurze Aufregung, bevor sich zwei entscheiden, nach rechts auszuweichen und der andere nach links. Ich mache die Augen zu und fahre mittendurch.

Alles in allem also eine beschwerliche Fahrt zur Schule; ich denke, wenn ich die Unterbrechungen abziehe – habe ein paarmal angehalten und Fotos gemacht – müsste es so in 45 Minuten zu schaffen sein, wenn man so zügig fährt, wie man es dem Fahrrad und der eigenen Sicherheit zumuten kann. Da muss ich mir noch überlegen, ob ich künftig mit dem Fahrrad oder doch lieber mit der Bahn fahre.

Als um 17 Uhr der Barkeeper kommt und die Campus-Bar öffnet, hadere ich mit meinem Gewissen. Jetzt brav nach Hause fahren und mich von Mama bekochen lassen oder lieber zu Hause anrufen, dass ich nicht zum Abendessen komme, ein paar Bierchen nehmen, das Fahrrad stehen lassen und mit dem Zug nach Hause fahren? Ich bin fast selbst überrascht, dass ich doch brav nach Hause fahre.

Mama spricht mich gleich auf den Zettel an und lobt mich, wie toll ich schreiben kann. Sie sei sehr überrascht gewesen. Als Nami-san nach Hause kommt, zeigt sie ihr auch gleich den Zettel. Erst nach dem Abendessen, das wieder einmal sehr lecker ist und das ich diesmal nicht fotografiere, um der Familie nicht allzu sehr auf die Nerven zu gehen, nimmt Mama mich beiseite und weist mich darauf hin, dass ein Kanji falsch ist Foto dazu. Stimmt, ja natürlich, da sind mir beim mittleren Kanji Fahrrad und Auto durcheinandergepurzelt, ich habe die linke Hälfte von Auto mit der rechten Hälfte von Fahrrad kombiniert. Und das nach über einem Jahr Kanji-Studium – seufz! Na ja, aber sie hat es lesen können und ist beeindruckt, dass der Ausländer überhaupt schreiben kann. Und ich bitte sie, mich auch in Zukunft zu verbessern, schließlich will ich hier ja was lernen.

Ich schaue noch ein bisschen fern mit der Familie, eine völlig bescheuerte Fernsehshow. Wenn ich es recht verstehe, erzählt ein lediger junger Mann über sich und seine Familie, während ein Orakel in Gestalt eines als Frau mit gelben Haaren verkleideten Mannes – Lilo Wanders lässt grüßen – das kommentiert und Chancen für sein Liebesleben abwägt. Da ich aber nur winzige Bruchteile des Gesprochenen verstehe, könnte ich mich auch irren und es geht um was ganz anderes. Nami-san sitzt derweil auf dem Sofa und wickelt Klopapier. Sie arbeitet bei Starbucks und hat anscheinend von der Arbeit 5, 6 noch nicht ganz aufgebrauchte Klopapierrollen mitgebracht, die sie jetzt liebevoll zu zwei fast wie neuen umwickelt. Sparsames Völkchen, die Japaner.

Als der Delinquent von seiner Jugend erzählt, fragt mich Mama, was ich als Kind mal werden wollte. Professor, antworte ich, und sie meint, ja, anscheinend lerne ich ja gern. Aber sie meine ich hätte bestimmt als Kind schon Japaner werden wollen. Darf ich mich jetzt geschmeichelt fühlen? Ich tue es einfach. (Zwischendurch vergisst sie übrigens immer mal, dass ich durchaus ein paar Brocken Japanisch verstehe. Zum Beispiel hat sie vorhin beim Abendessen zu ihrer Tocher gesagt: Kuck mal, wie geschickt der mit den Stäbchen umgeht :-).)

Mittlerweile handelt die Sendung von einer Japanerin, die eine Distanzbeziehung zu einem Amerikaner hat. Nami-san erzählt, dass auch eine Freundin von ihr sich in einen Koreaner verliebt hat und diesen demnächst heiraten wird. Ich muss eifrig das Wörterbuch bemühen, um Dinge wie enkyorirenai (große-Entfernung-Liebe) nachzuschlagen – warum nur lernt man auf Sprachschulen immer die falschen Vokabeln? Kurz überlege ich mir, ob ich das Thema Fernbeziehung Hannover-Tokyo anreiße, lasse es aber doch lieber bleiben. Fühle mich dem sprachlich noch nicht gewachsen, und so gut kenne ich meine Familie ja auch noch nicht. Wer weiß ... es muss ja auch in den kommenden fünf Wochen noch was zu erzählen geben. Erst einmal ziehe ich mich in mein Zimmer zurück, entwickle die Fotos und schreibe diese Zeilen.

Ach ja, und was den Computer betrifft: Ich habe Mama nochmal gefragt, aber sie sagte, sie kenne sich überhaupt nicht aus mit dem Computer. Es sei wahrscheinlich in Ordnung. Später, als Nami-san da ist, sprechen die beiden darüber und es klingt so, als wäre ihr exzessiver Internetgebrauch doch nicht so recht. Nami-san sagt mir, ich könne schon mal meine Mail checken, aber rumsurfen soll ich nicht. Ok, ich habe ja fünf Tage in der Woche Internet, da werde ich am Wochenende schon mal drauf verzichten können. Das Blöde daran ist hauptsächlich, dass ich ja meine Kanji- und Vokabeltrainersoftware komplett im Web habe, sodass ich sie offline überhaupt nicht mehr benutzen kann. Da werde ich also am Wochenende wieder mit konventionellen Methoden lernen müssen. Und es wird keine Tagebuch-Updates geben.

 

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©2007 by Harald Bögeholz