Nach fast 11 Stunden Schlaf bin ich um 8 so richtig ausgeruht. Auf
dem Wohnzimmertisch finde ich einen Brief: Guten Morgen! Ich denke,
ich werde heute so gegen 15.30 nach Hause kommen. Ich gehe jetzt zu
Freunden, Mittagessen und Kaffeetrinken. Mama hatte mir gestern
schon erklärt, dass ich heute für mich selber sorgen muss. Ist aber
kein Problem, den Toaster und die Kaffeemaschine habe ich voll im
Griff. Mama hat mehrfach betont, dass ich alles essen darf, was im
Kühlschrank ist, aber ich muss sagen, die meisten Dinge darin sind
entweder offensichtlich ungeeignet als Frühstück (allerlei Soßen und
Gewürze) oder nicht so recht identifizierbar . Aber egal,
Marmeladentoast reicht schon.
Ich setze mich ein bisschen an den Computer, wobei mich nach
relativ kurzer Zeit ein schlechtes Gewissen überkommt: Sie haben zwar
gesagt, dass ich den benutzen darf, aber sie haben keinen Router,
sondern man muss sich ins Internet einwählen. Wer weiß, ob das nach
Zeit abgerechnet wird; ich gehe lieber wieder offline und nehme mir
vor zu fragen.
Eines fällt mir aber auf, als mein Blick so vom Bildschirm zu der
Uhr rechts neben dem Schreibtisch schweift: Auch in dieser Familie
scheint es verschiedene Zeitzonen zu geben. Ob sie sich wohl einfach
nicht so genau um die Uhrzeit scheren und das Zufall ist? Oder hat es
womöglich Methode? Ich geh mal kurz rum und checke die Uhren: PC geht
richtig . Büro-Uhr geht ne
Viertelstunde nach (man kann ja auch ruhig
ein bisschen länger arbeiten). Badezimmeruhr geht 20 Minuten
vor (Frauen brauchen immer
etwas länger). Esszimmeruhr geht 6 Minuten vor (Reservezeit, um sich vor
dem Herausgehen zurechtzumachen). Wahrscheinlich alles Blödsinn
;-).
Ich beschäftige mich noch bis Mittag mit meinen Büchern, um dann in
meinem besten Japanisch auf den Zettel zu schreiben, dass ich heute
mal ausprobiere, mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren, und spätestens
um 18 Uhr zurück bin . Der Weg zur Schule ist
eigentlich ganz einfach: Immer an der fetten, viel befahrenen Straße
entlang. Etwa 12, 13 Kilometer dürften es sein, wenn ich das auf
Google Maps richtig abgeschätzt habe. Erstmal gibts nach ein paar
hundert Metern was zu essen , dann mache ich mich auf
die Reise.
Fahrradfahren in Japan ist echt ätzend. Es beginnt mit dem Fahrrad.
Ich will ja nicht undankbar sein, aber auf dem Fahrrad, das man mir
geliehen hat, sitz ich wie der Affe auf dem Schleifstein. Nachdem ich
den Sattel so hoch wie möglich eingestellt habe, geht es so halbwegs,
aber irgendwie sind die Pedale zu kurz und die Sitzhaltung ist
merkwürdig. Die Reifen nur halb aufgepumpt, sodass man bei jeder
kleinen Stufe Angst um seine Felgen haben muss. Das Schlimmste ist
aber, dass man als Radfahrer auf dem Bürgersteig fahren muss. Das
heißt erstens den Fußgängern ausweichen, zweitens bei jeder Querstraße
zweimal über Rinnsteine holpern und vor allem auf die Autos aufpassen.
Die nehmen nämlich keinerlei Rücksicht auf eventuelle Radfahrer und
fahren gnadenlos bis an den Straßenrand vor. Dass in Japan
Linksverkehr herrscht, hat für die Radfahrer keinerlei Bedeutung:
Rechts und links fahrende Radfahrer sind nach meinen Beobachtungen
gleichverteilt. Es gibt anscheinend auch keine Konvention, wie
entgegenkommende Radfahrer einander ausweichen. Keineswegs fährt jeder
immer nach links, wie man das erwarten würde, nein, rechts geht
genauso. Und als mir drei Schüler auf dem Fahrrad entgegenkommen,
herrscht kurze Aufregung, bevor sich zwei entscheiden, nach rechts
auszuweichen und der andere nach links. Ich mache die Augen zu und
fahre mittendurch.
Alles in allem also eine beschwerliche Fahrt zur Schule; ich denke,
wenn ich die Unterbrechungen abziehe – habe ein paarmal
angehalten und Fotos gemacht – müsste es so in 45 Minuten zu
schaffen sein, wenn man so zügig fährt, wie man es dem Fahrrad und der
eigenen Sicherheit zumuten kann. Da muss ich mir noch überlegen, ob
ich künftig mit dem Fahrrad oder doch lieber mit der Bahn fahre.
Als um 17 Uhr der Barkeeper kommt und die Campus-Bar öffnet, hadere
ich mit meinem Gewissen. Jetzt brav nach Hause fahren und mich von
Mama bekochen lassen oder lieber zu Hause anrufen, dass ich nicht zum
Abendessen komme, ein paar Bierchen nehmen, das Fahrrad stehen lassen
und mit dem Zug nach Hause fahren? Ich bin fast selbst überrascht,
dass ich doch brav nach Hause fahre.
Mama spricht mich gleich auf den Zettel an und lobt mich, wie toll
ich schreiben kann. Sie sei sehr überrascht gewesen. Als Nami-san nach
Hause kommt, zeigt sie ihr auch gleich den Zettel. Erst nach dem
Abendessen, das wieder einmal sehr lecker ist und das ich diesmal
nicht fotografiere, um der Familie nicht allzu sehr auf die Nerven zu
gehen, nimmt Mama mich beiseite und weist mich darauf hin, dass ein
Kanji falsch ist . Stimmt, ja natürlich, da
sind mir beim mittleren Kanji Fahrrad und Auto durcheinandergepurzelt,
ich habe die linke Hälfte von Auto mit der rechten Hälfte von Fahrrad
kombiniert. Und das nach über einem Jahr Kanji-Studium – seufz!
Na ja, aber sie hat es lesen können und ist beeindruckt, dass der
Ausländer überhaupt schreiben kann. Und ich bitte sie, mich auch in
Zukunft zu verbessern, schließlich will ich hier ja was lernen.
Ich schaue noch ein bisschen fern mit der Familie, eine völlig
bescheuerte Fernsehshow. Wenn ich es recht verstehe, erzählt ein
lediger junger Mann über sich und seine Familie, während ein Orakel in
Gestalt eines als Frau mit gelben Haaren verkleideten Mannes –
Lilo Wanders lässt grüßen – das kommentiert und Chancen für sein
Liebesleben abwägt. Da ich aber nur winzige Bruchteile des
Gesprochenen verstehe, könnte ich mich auch irren und es geht um was
ganz anderes. Nami-san sitzt derweil auf dem Sofa und wickelt
Klopapier. Sie arbeitet bei Starbucks und hat anscheinend von der
Arbeit 5, 6 noch nicht ganz aufgebrauchte Klopapierrollen mitgebracht,
die sie jetzt liebevoll zu zwei fast wie neuen umwickelt.
Sparsames Völkchen, die Japaner.
Als der Delinquent von seiner Jugend erzählt, fragt mich Mama, was
ich als Kind mal werden wollte. Professor , antworte ich, und
sie meint, ja, anscheinend lerne ich ja gern. Aber sie meine ich hätte
bestimmt als Kind schon Japaner werden wollen. Darf ich mich jetzt
geschmeichelt fühlen? Ich tue es einfach. (Zwischendurch vergisst sie
übrigens immer mal, dass ich durchaus ein paar Brocken Japanisch
verstehe. Zum Beispiel hat sie vorhin beim Abendessen zu ihrer Tocher
gesagt:
Kuck mal, wie geschickt der mit den Stäbchen umgeht :-).)
Mittlerweile handelt die Sendung von einer Japanerin, die eine
Distanzbeziehung zu einem Amerikaner hat. Nami-san erzählt, dass auch
eine Freundin von ihr sich in einen Koreaner verliebt hat und diesen
demnächst heiraten wird. Ich muss eifrig das Wörterbuch bemühen, um
Dinge wie enkyorirenai (große-Entfernung-Liebe) nachzuschlagen
– warum nur lernt man auf Sprachschulen immer die falschen
Vokabeln? Kurz überlege ich mir, ob ich das Thema Fernbeziehung
Hannover-Tokyo anreiße, lasse es aber doch lieber bleiben. Fühle mich
dem sprachlich noch nicht gewachsen, und so gut kenne ich meine
Familie ja auch noch nicht. Wer weiß ... es muss ja auch in den
kommenden fünf Wochen noch was zu erzählen geben. Erst einmal ziehe
ich mich in mein Zimmer zurück, entwickle die Fotos und schreibe diese
Zeilen.
Ach ja, und was den Computer betrifft: Ich habe Mama nochmal
gefragt, aber sie sagte, sie kenne sich überhaupt nicht aus mit dem
Computer. Es sei wahrscheinlich in Ordnung. Später, als Nami-san da
ist, sprechen die beiden darüber und es klingt so, als wäre ihr
exzessiver Internetgebrauch doch nicht so recht. Nami-san sagt mir,
ich könne schon mal meine Mail checken, aber rumsurfen soll ich nicht.
Ok, ich habe ja fünf Tage in der Woche Internet, da werde ich am
Wochenende schon mal drauf verzichten können. Das Blöde daran ist
hauptsächlich, dass ich ja meine Kanji- und Vokabeltrainersoftware
komplett im Web habe, sodass ich sie offline überhaupt nicht mehr
benutzen kann. Da werde ich also am Wochenende wieder mit
konventionellen Methoden lernen müssen. Und es wird keine
Tagebuch-Updates geben.
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