20.04., Erster Schultag und Go-Unterricht

Nachdem ich um 4 kurz aufgewacht bin, kann ich doch noch bis 6.30 Uhr weiterschlafen und fühle mich gut ausgeruht. Ich trete auf meinen Balkon heraus (welch Luxux, nicht wahr) und mache ein Foto von der hübschen Shinkansen-Linie, auf der alle Stunde (oder noch öfter) ein Zug entlangrast und das Haus erbeben lässt Foto dazu. Als ich um kurz vor 7 runterkomme, an die halb offene Wohnzimmertür klopfe und dann meinen Kopf reinstecke, tappe ich auch gleich in ein Fettnäpfchen: Mama ist wohl gerade aufgestanden und dabei, sich umzuziehen. gomennasai! Wer ahnt denn auch ...

Zum Frühstück kredenzt man mir Toast mit Butter und Marmelade, Kaffee, Apfelsaft und Orangen. Meine beiden Gastgeberinnen essen aber nicht mit mir; ich verstehe leider nicht ganz genau, warum. Jedenfalls das mit dem Toast und der Marmelade ... gestern Abend haben wir uns über alles Mögliche unterhalten; insbesondere haben sie mich über die Essgewohnheiten der Deutschen ausgefragt. Und da habe ich erzählt, dass viele Deutsche zum Frühstück gerne etwas Süßes essen, zum Beispiel Marmelade und Honig. Leider habe ich vergessen zu erwähnen, dass ich persönlich zwar auch von einem Marmeladentoast satt werden kann, aber eigentlich lieber etwas Herzhafteres hätte. Aber nach dem überschwänglich herzlichen Empfang will ich mich mal zurückhalten mit weiteren Wünschen; man sorgt so schon ausgesprochen nett für mich.

Während des Frühstücks läuft der Fernseher, und ich staune von Neuem über das japanische Fernsehprogramm. Zum Beispiel eine Art Nachrichtensendung, nur lesen die Sprecher aus der Zeitung vor. Und zwar haben die wirklich eine Zeitungsseite auf eine große Pappe aufgeklebt, darin einen Artikel markiert und darin die wichtigsten Passagen unterstrichen. Die Kamera zoomt dann auf den mit der Hand hochgehaltenen Zeitungstext, während er vorgelesen wird. Sehr merkwürdig.

Ich hatte glaube ich früher schon einmal geschrieben, dass im japanischen Fernsehen viel mit handgemachten Schildern gearbeitet wird. Bei unserem Wer wird Millionär werden die vier Möglichkeiten natürlich unten eingeblendet. In Japan würde Günter Jauch eine Papptafel hochhalten, auf der die vier Antworten mit Papier überklebt sind, um dann der Reihe nach das Papier abzureißen.

Oder der nächste Abschnitt der Show: Man sieht eine Filmeinspielung (Handycam-Qualität) von einem langsam vorbeifahrenden Auto, auf dessen Motorhaube einer liegt und telefoniert. Gesprochen wird in einem Affenzahn, sodass ich nicht im geringsten mitkriege, was der Sinn des Ganzen sein könnte. Aber mehrere Leute reden sich immer mehr in Rage über das Thema, der Film wird immer wieder gezeigt und schließlich steigt einer auf die Motorhaube eines im Studio gebauten, entfernt einem Auto nachempfundenen Plastikmodells, um sie eine Schachtel als Symbol für ein Telefon ans Ohr zu halten. Die Art der Diskussion über den Film ist also mindestens ebenso merkwürdig wie der ursprüngliche Inhalt.

Weiter gehts mit der Nachricht, dass es irgendwie gebrannt hat und dabei sechs Personen ums Leben gekommen sind. Aber dann traue ich meinen Augen nicht: Jetzt blenden sie einen Stammbaum ein, wer mit wem verwandt ist, mit Fotos. Und dann kommen anscheinend Nachrufe: Unter den toten ist die fünfjährige Tochter, die immer so gerne gesungen hat. Und sie war so lieb in ihrem Kindergarten, in den sie seit einem Jahr geht (Filmeinspielung von ihrem Kindergarten). Die anderen Kinder und ihre Eltern trauern um sie und werden sie vermissen (Bilder von schluchzenden, fassungslos in die Kamera schauenden Eltern). Es ist unbeschreiblich, man muss es gesehen haben.

Das soll jetzt nicht heißen, dass alle Nachrichtensendungen im japanischen Fernsehen so aussehen, beileibe nein. Ich habe auch schon nach unseren Maßstäben ganz normale Nachrichtensprecher gesehen. Aber diese Morning-Show ist wohl einzigartig Japanisch, mit vorgelesenen Zeitungen, einem Motorhaubentelefonierer, der immer um den Block fährt und anschließend dem herzzerreißenden Familiendrama. Ich bin wieder in Japan.

Nami-san wollte mit mir einen Zug nehmen, der erst um 8.50 in Okazaki ankommt. Vom Bahnhof aus 5 Minuten zu Fuß ... das hätte schon gerade so gereicht, aber ich bitte sie, dass wir doch etwas eher losgehen und einen Zug früher nehmen, damit ich noch Zeit habe, meine neue Klasse zu finden und mich ein bisschen zu orientieren. Und natürlich sage ich ihr, dass es vollkommen ausreicht, wenn sie mir den Weg zum Bahnhof zeigt, sie braucht natürlich nicht mit nach Okazaki zu fahren. Schließlich fahre ich nicht das erste Mal mit der Bahn.

Der liebevoll präparierte Fahrplan stellt sich übrigens als veraltet heraus. Wahrscheinlich kriegt den jeder Gast – beim Frühstück habe ich erfahren, dass ich schon der neunte Yamasa-Sprachschüler bin, den meine Gastgeber aufnehmen. Kein Wunder läuft das alles so reibungslos, sie haben schon reichlich Übung.

Meine neue Klasse besteht aus insgesamt zehn Schülern und wird von Yoshiguchi sensei unterrichtet, die ich schon vom letzten Mal kenne Foto dazu. Meine Befürchtungen bewahrheiten sich: Ich lande in einer Klasse, die mit Lektion 29 anfangen wird, also recht weit am Anfang von Minna no Nihongo II. Die erste Stunde vergeht komplett damit, dass sich alle vorstellen und ein bisschen was von sich erzählen; die anderen werden von Yoshiguchi sensei ermuntert, ein paar Fragen zu stellen.

Dann kommt eine Stunde Grammatik, die mir nur wenig Spaß macht. Ich habe den Unterschied zwischen transitiven und intransitiven Verben nämlich längst kapiert. Die langatmigen Erklärungen bringen mir also gar nichts, mein Problem ist die Anwendung in Echtzeit. Und die Tatsache, dass ich halt immer wieder Vokabeln vergesse. Der Unterricht ist auf diese Weise zwar nicht so mörderisch anstrengend, aber ich bin mir nicht wirklich sicher, ob er mich so viel weiterbringt, wie ich das gerne hätte. Immerhin ist er um 12 vorbei, und ich freue mich auf den Nachmittag. Denn als ich erzähle, dass ich gerne Go spiele, weist mich Yoshiguchi sensei auf den Go-Kurs hin, der heute Nachmittag in der kurashi no gakkou stattfindet (Schule für ... hmmm ... Lebenswandel, Lebensart oder so ähnlich) Foto dazu. Das ist ein neu errichtetes Gebäude unweit der Schule, und auf dem Plakat ist ein Foto von einem Tatami-Zimmer abgebildet. Ich bin gespannt.

Auf dem Weg nach unten treffe ich Jonas, den anderen Deutschen, der gleichzeitig mit mir angefangen hat, und wir essen nebenan in dem kleinen Kaffeehaus gyuudon, eine Schüssel Reis mit Rindfleisch, Ei und Gemüse. Ich schwärme ihm davon vor, wie interessant Go ist, und er kommt mit.

Ich hatte mir die Go-Veranstaltung etwas informeller vorgestellt und wir sind nicht ganz pünktlich, etwa 7 Minuten zu spät. Es ist aber eine richtiggehende Anfängervorlesung; ein älterer Herr erklärt die Spielregeln und ein ganzer Haufen interessierter Yamasa-Sprachschüler hört andächtig zu Foto dazu. Ich bin mir nicht sicher, ob mein Japanisch gereicht hätte, die Spielregeln zu verstehen, wenn ich sie nicht schon gekannt hätte. Aber mir fällt auf, dass der Vortragende mindestens so viel Zeit darauf verwendet, das Umfeld des Spiels zu erklären, wie die eigentlichen Regeln. Etwa, was es mit den Spielstärken auf sich hat. Besonders ausgiebig erklärt er Nigiri, also wie zwei gleich starke Spieler auslosen, wer anfangen darf Foto dazu. Weil den meisten Anwesenden nur noch große Fragezeichen ins Gesicht geschrieben stehen, erklärt er es immer wieder, und beispielsweise die Amerikanerin, mit der ich mich nachher auf Englisch unterhalte, hat überhaupt nicht begriffen, dass das mit dem eigentlichen Spiel überhaupt nichts zu tun hat.

Als die japanische Erklärung vorbei ist, biete ich den besonders fragend dreinschauenden Anwesenden an, es noch einmal ein bisschen auf Englisch zu erklären. Ehe man sichs versieht, sind zwei Stunden um und wir werden herauskomplementiert. Blöd eigentlich, dass ich den ganzen Nachmittag mit Erklären verbracht habe, ich hätte eigentlich auch mal wieder Lust auf ein Spielchen gehabt. Na ja, wird sich schon noch ergeben.

Die Heimreise verläuft problemlos. Auch bei meinem letzten Besuch ist es mir noch nicht gelungen, die Fahrpläne vollständig zu durchschauen und die schnellen Züge von denen zu unterscheiden, die an jedem Misthaufen halten. Damals war es nur ärgerlich, unnötigerweise in einen zu langsamen Zug zu steigen, aber diesmal brauche ich einen futsuu densha, weil die schnelleren Züge an meinem Heimatbahnhof nicht halten. Statt mich mit dem Entschlüsseln der Fahrpläne aufzuhalten, nutze ich aber einfach das doch etwas gewachsene Vertrauen in mein Japanisch, frage die erstbesten Schulmädchen, in welchen Zug ich steigen soll, und werde prompt geholfen.

Das Abendessen ist mal wieder super lecker, man will mich wohl mästen. Mama erzählt, dass sie den letzten Sprachschüler in einem Monat um 3 Kilo angefüttert hat. Na das kann ja heiter werden. Aber eigentlich sieht das Essen nicht so aus als würde man davon dick. Es ist zwar viel, aber sehr gesund. Reis, Misosuppe (mit Kartoffeln drin!), Salat mit Thunfisch, hourensougomae (Spinat mit Sesam), zwei kleine Spießchen mit Hühnerfleisch und noch mehr Sachen, deren Namen ich jezt, eine halbe Stunde nach dem Abendessen, schon wieder vergessen habe Foto dazu. oishii yo!

Nach dem Essen setze ich mich an mein Tagebuch, werde aber müde dabei und lege mich kurz hin. Kurz? Um 21 Uhr wache ich davon auf, dass jemand das Licht in meinem Zimmer ausknipst und behutsam die Tür zu macht. Bin wohl doch immer noch müder als gedacht, also gehe ich schnell zähneputzen und vollends ins Bett.

 

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©2007 by Harald Bögeholz