Nachdem ich um 4 kurz aufgewacht bin, kann ich doch noch bis 6.30
Uhr weiterschlafen und fühle mich gut ausgeruht. Ich trete auf meinen
Balkon heraus (welch Luxux, nicht wahr) und mache ein Foto von der
hübschen Shinkansen-Linie, auf der alle Stunde (oder noch öfter) ein
Zug entlangrast und das Haus erbeben lässt . Als ich um kurz vor 7
runterkomme, an die halb offene Wohnzimmertür klopfe und dann meinen
Kopf reinstecke, tappe ich auch gleich in ein Fettnäpfchen: Mama ist
wohl gerade aufgestanden und dabei, sich umzuziehen.
gomennasai! Wer ahnt denn auch ...
Zum Frühstück kredenzt man mir Toast mit Butter und Marmelade,
Kaffee, Apfelsaft und Orangen. Meine beiden Gastgeberinnen essen aber
nicht mit mir; ich verstehe leider nicht ganz genau, warum. Jedenfalls
das mit dem Toast und der Marmelade ... gestern Abend haben wir uns
über alles Mögliche unterhalten; insbesondere haben sie mich über die
Essgewohnheiten der Deutschen ausgefragt. Und da habe ich erzählt,
dass viele Deutsche zum Frühstück gerne etwas Süßes essen, zum
Beispiel Marmelade und Honig. Leider habe ich vergessen zu erwähnen,
dass ich persönlich zwar auch von einem Marmeladentoast satt werden
kann, aber eigentlich lieber etwas Herzhafteres hätte. Aber nach dem
überschwänglich herzlichen Empfang will ich mich mal zurückhalten mit
weiteren Wünschen; man sorgt so schon ausgesprochen nett für mich.
Während des Frühstücks läuft der Fernseher, und ich staune von
Neuem über das japanische Fernsehprogramm. Zum Beispiel eine Art
Nachrichtensendung, nur lesen die Sprecher aus der Zeitung vor. Und
zwar haben die wirklich eine Zeitungsseite auf eine große Pappe
aufgeklebt, darin einen Artikel markiert und darin die wichtigsten
Passagen unterstrichen. Die Kamera zoomt dann auf den mit der Hand
hochgehaltenen Zeitungstext, während er vorgelesen wird. Sehr
merkwürdig.
Ich hatte glaube ich früher schon einmal geschrieben, dass im
japanischen Fernsehen viel mit handgemachten Schildern gearbeitet
wird. Bei unserem Wer wird Millionär werden die vier
Möglichkeiten natürlich unten eingeblendet. In Japan würde Günter
Jauch eine Papptafel hochhalten, auf der die vier Antworten mit Papier
überklebt sind, um dann der Reihe nach das Papier abzureißen.
Oder der nächste Abschnitt der Show: Man sieht eine Filmeinspielung
(Handycam-Qualität) von einem langsam vorbeifahrenden Auto, auf dessen
Motorhaube einer liegt und telefoniert. Gesprochen wird in einem
Affenzahn, sodass ich nicht im geringsten mitkriege, was der Sinn des
Ganzen sein könnte. Aber mehrere Leute reden sich immer mehr in Rage
über das Thema, der Film wird immer wieder gezeigt und schließlich
steigt einer auf die Motorhaube eines im Studio gebauten, entfernt
einem Auto nachempfundenen Plastikmodells, um sie eine Schachtel als
Symbol für ein Telefon ans Ohr zu halten. Die Art der Diskussion über
den Film ist also mindestens ebenso merkwürdig wie der ursprüngliche
Inhalt.
Weiter gehts mit der Nachricht, dass es irgendwie gebrannt hat und
dabei sechs Personen ums Leben gekommen sind. Aber dann traue ich
meinen Augen nicht: Jetzt blenden sie einen Stammbaum ein, wer mit wem
verwandt ist, mit Fotos. Und dann kommen anscheinend Nachrufe: Unter
den toten ist die fünfjährige Tochter, die immer so gerne gesungen
hat. Und sie war so lieb in ihrem Kindergarten, in den sie seit einem
Jahr geht (Filmeinspielung von ihrem Kindergarten). Die anderen Kinder
und ihre Eltern trauern um sie und werden sie vermissen (Bilder von
schluchzenden, fassungslos in die Kamera schauenden Eltern). Es ist
unbeschreiblich, man muss es gesehen haben.
Das soll jetzt nicht heißen, dass alle Nachrichtensendungen im
japanischen Fernsehen so aussehen, beileibe nein. Ich habe auch schon
nach unseren Maßstäben ganz normale Nachrichtensprecher gesehen. Aber
diese Morning-Show ist wohl einzigartig Japanisch, mit vorgelesenen
Zeitungen, einem Motorhaubentelefonierer, der immer um den Block fährt
und anschließend dem herzzerreißenden Familiendrama. Ich bin wieder in
Japan.
Nami-san wollte mit mir einen Zug nehmen, der erst um 8.50 in
Okazaki ankommt. Vom Bahnhof aus 5 Minuten zu Fuß ... das hätte schon
gerade so gereicht, aber ich bitte sie, dass wir doch etwas eher
losgehen und einen Zug früher nehmen, damit ich noch Zeit habe, meine
neue Klasse zu finden und mich ein bisschen zu orientieren. Und
natürlich sage ich ihr, dass es vollkommen ausreicht, wenn sie mir den
Weg zum Bahnhof zeigt, sie braucht natürlich nicht mit nach Okazaki zu
fahren. Schließlich fahre ich nicht das erste Mal mit der Bahn.
Der liebevoll präparierte Fahrplan stellt sich übrigens als
veraltet heraus. Wahrscheinlich kriegt den jeder Gast – beim
Frühstück habe ich erfahren, dass ich schon der neunte
Yamasa-Sprachschüler bin, den meine Gastgeber aufnehmen. Kein Wunder
läuft das alles so reibungslos, sie haben schon reichlich Übung.
Meine neue Klasse besteht aus insgesamt zehn Schülern und wird von
Yoshiguchi sensei unterrichtet, die ich schon vom letzten Mal
kenne . Meine Befürchtungen
bewahrheiten sich: Ich lande in einer Klasse, die mit Lektion 29
anfangen wird, also recht weit am Anfang von Minna no Nihongo II.
Die erste Stunde vergeht komplett damit, dass sich alle vorstellen und
ein bisschen was von sich erzählen; die anderen werden von Yoshiguchi
sensei ermuntert, ein paar Fragen zu stellen.
Dann kommt eine Stunde Grammatik, die mir nur wenig Spaß macht. Ich
habe den Unterschied zwischen transitiven und intransitiven Verben
nämlich längst kapiert. Die langatmigen Erklärungen bringen mir also
gar nichts, mein Problem ist die Anwendung in Echtzeit. Und die
Tatsache, dass ich halt immer wieder Vokabeln vergesse. Der Unterricht
ist auf diese Weise zwar nicht so mörderisch anstrengend, aber ich bin
mir nicht wirklich sicher, ob er mich so viel weiterbringt, wie ich
das gerne hätte. Immerhin ist er um 12 vorbei, und ich freue mich auf
den Nachmittag. Denn als ich erzähle, dass ich gerne Go spiele, weist
mich Yoshiguchi sensei auf den Go-Kurs hin, der heute Nachmittag in
der kurashi no gakkou stattfindet (Schule für ... hmmm ...
Lebenswandel, Lebensart oder so ähnlich) . Das ist ein neu
errichtetes Gebäude unweit der Schule, und auf dem Plakat ist ein Foto
von einem Tatami-Zimmer abgebildet. Ich bin gespannt.
Auf dem Weg nach unten treffe ich Jonas, den anderen Deutschen, der
gleichzeitig mit mir angefangen hat, und wir essen nebenan in dem
kleinen Kaffeehaus gyuudon, eine Schüssel Reis mit Rindfleisch,
Ei und Gemüse. Ich schwärme ihm davon vor, wie interessant Go ist, und
er kommt mit.
Ich hatte mir die Go-Veranstaltung etwas informeller vorgestellt
und wir sind nicht ganz pünktlich, etwa 7 Minuten zu spät. Es ist aber
eine richtiggehende Anfängervorlesung; ein älterer Herr erklärt die
Spielregeln und ein ganzer Haufen interessierter Yamasa-Sprachschüler
hört andächtig zu . Ich bin mir nicht sicher,
ob mein Japanisch gereicht hätte, die Spielregeln zu verstehen, wenn
ich sie nicht schon gekannt hätte. Aber mir fällt auf, dass der
Vortragende mindestens so viel Zeit darauf verwendet, das Umfeld des
Spiels zu erklären, wie die eigentlichen Regeln. Etwa, was es mit den
Spielstärken auf sich hat. Besonders ausgiebig erklärt er Nigiri, also
wie zwei gleich starke Spieler auslosen, wer anfangen darf . Weil den meisten
Anwesenden nur noch große Fragezeichen ins Gesicht geschrieben stehen,
erklärt er es immer wieder, und beispielsweise die Amerikanerin, mit
der ich mich nachher auf Englisch unterhalte, hat überhaupt nicht
begriffen, dass das mit dem eigentlichen Spiel überhaupt nichts zu tun
hat.
Als die japanische Erklärung vorbei ist, biete ich den besonders
fragend dreinschauenden Anwesenden an, es noch einmal ein bisschen auf
Englisch zu erklären. Ehe man sichs versieht, sind zwei Stunden um und
wir werden herauskomplementiert. Blöd eigentlich, dass ich den ganzen
Nachmittag mit Erklären verbracht habe, ich hätte eigentlich auch mal
wieder Lust auf ein Spielchen gehabt. Na ja, wird sich schon noch
ergeben.
Die Heimreise verläuft problemlos. Auch bei meinem letzten Besuch
ist es mir noch nicht gelungen, die Fahrpläne vollständig zu
durchschauen und die schnellen Züge von denen zu unterscheiden, die an
jedem Misthaufen halten. Damals war es nur ärgerlich, unnötigerweise
in einen zu langsamen Zug zu steigen, aber diesmal brauche ich einen
futsuu densha, weil die schnelleren Züge an meinem
Heimatbahnhof nicht halten. Statt mich mit dem Entschlüsseln der
Fahrpläne aufzuhalten, nutze ich aber einfach das doch etwas
gewachsene Vertrauen in mein Japanisch, frage die erstbesten
Schulmädchen, in welchen Zug ich steigen soll, und werde prompt
geholfen.
Das Abendessen ist mal wieder super lecker, man will mich wohl
mästen. Mama erzählt, dass sie den letzten Sprachschüler in einem
Monat um 3 Kilo angefüttert hat. Na das kann ja heiter werden. Aber
eigentlich sieht das Essen nicht so aus als würde man davon dick. Es
ist zwar viel, aber sehr gesund. Reis, Misosuppe (mit Kartoffeln
drin!), Salat mit Thunfisch, hourensougomae (Spinat mit Sesam),
zwei kleine Spießchen mit Hühnerfleisch und noch mehr Sachen, deren
Namen ich jezt, eine halbe Stunde nach dem Abendessen, schon wieder
vergessen habe . oishii yo!
Nach dem Essen setze ich mich an mein Tagebuch, werde aber müde
dabei und lege mich kurz hin. Kurz? Um 21 Uhr wache ich davon auf,
dass jemand das Licht in meinem Zimmer ausknipst und behutsam die Tür
zu macht. Bin wohl doch immer noch müder als gedacht, also gehe ich
schnell zähneputzen und vollends ins Bett.
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