Heute wache ich erst um 5.30 Uhr auf, schon besser. Bilder ins Web
stellen, ein bisschen chatten und dann wieder zu Denny's zum
Frühstück. Ich weiß gar nicht, warum ich so nervös bin vor dem
Einstufungstest, aber ich verbringe nach dem Frühstück noch eine
Dreiviertelstunde damit, das Buch durchzugehen.
Es ist schon lustig, die leicht bestürzten Gesichter der anderen
Neuankömmlinge zu sehen, als der Schuldirektor seine
Begrüßungsansprache in Japanisch hält und einige Lehrer sich
vorstellen und den Tagesablauf erklären, alles nur auf Japanisch. Vor
drei Jahren habe ich hier fast nur Bahnhof verstanden, jetzt komme ich
gut mit.
Der schriftliche Test läuft ganz gut, glaube ich. Aber mündlich ist
es eine Katastrophe. Obwohl ich genau weiß, wie das läuft und welche
Satzstrukturen von mir erwartet werden, habe ich einen Blackout nach
dem anderen und kriege so gut wie keinen Satz fehlerfrei auf die
Reihe. Ich glaube, ich setze mich selber zu sehr unter Druck und bin
wahnsinnig nervös. Am Ende meint die Lehrerin, es wäre wohl gut, wenn
ich Band 2 wiederholen würde. Sie merke zwar, dass ich vieles
verstanden habe, aber ich könnte wohl noch etwas Übung gebrauchen. Ich
glaube jedenfalls, dass sie das gesagt hat. Eigentlich will ich ihr
widersprechen, aber ich fürchte, nach der Vorstellung eben sind ihre
Argumente nicht von der Hand zu weisen. Na mal sehen, in welche Klasse
sie mich stecken werden.
Der Supermarkt, in dem ich mir in den letzten Jahren immer was zum
Mittagessen gekauft habe, ist ja nun leider nicht mehr. Aber ich
kriege schnell raus, wie das mit der Verpflegung läuft: Das kleine
Kaffeehaus vor der Schule verkauft Bento-Boxen, preiswert und ok,
einmal satt für 400 Yen. Ich lebe deutlich billiger hier als zu Hause
:-).
Die Einführungsveranstaltung am Nachmittag gibt wie immer Declan,
aber diesmal hat er eine fette Erkältung und gehört eigentlich ins
Bett, weswegen sein Unterhaltungswert diesmal nicht ganz so groß war.
Ich hörs mir trotzdem nochmal an, und auf der Führung sehe ich, dass
sich doch ein bisschen was verändert hat. Sie haben den Computerraum
verlegt und noch ein paar neue Klassenzimmer gebaut, da wo früher der
große freie Raum mit der Tischtennisplatte war.
Verabredungsgemäß kreuze ich pünktlich um 15.30 Uhr beim
Studentenbüro auf und werde gleich freudig empfangen, die Familie ist
gerade gekommen. Ich begrüße Nami-san und ihren Bruder Kyoutaro-san,
wir fahren schnell ins Studentenwohnheim und holen mein Gepäck, und
schon gehts in Richtung neues Zuhause. Die Unterhaltung klappt ganz
gut; ich bin erleichtert, dass mein Japanisch wenigstens im Alltag
leidlich funktioniert, wenn es schon in der Prüfung versagt hat. Das
baut mich wieder etwas auf, schließlich ist der Alltag wichtiger. Wir
fahren eine ganze Weile, sodass ich doch das Gefühl habe, mit dem
Fahrrad wird es ganz schön lange dauern. Nami-san meint, es sei viel
zu weit, so weit könne man nicht mit dem Fahrrad fahren. Na ja, auch
das werden wir sehen.
Zu Hause werde ich herzlich empfangen von Okano Noriko-san, wobei
sie mir ihren Namen gar nicht sagt, sondern sich als mama
vorstellt. Später frage ich noch einmal nach, wie ich sie nennen soll,
und sie bekräftigt, dass mama ok sei, einfach nur mama.
(Wenn ich es recht weiß, sagen Kleinkinder in Japan mama zu
ihrer Mama, bevor sie dann irgendwann auf okaasan umschulen, um
dann noch später okaasan zu anderer Leute Mütter zu sagen und
über ihre eigene Mutter anderen gegenüber als haha zu
sprechen.) Zu ihrer Tochter solle ich aber nicht Nami-chan sagen
(darauf wär ich im Traum nicht gekommen, das ist eine
Verniedlichungsform für kleine Mädchen beziehungsweise eine Anrede,
die unter bestimmten, von mir noch nicht vollständig durchschauten
Bedingungen auch unter engen Freunden und sogar unter Männern
verwendet wird – wobei ich Letzteres nicht beschwören will,
vielleicht wollte Hiko mich auch nur verarschen), sondern Nami-san
oder nur Nami. Wäre das schon mal geklärt.
Der Empfang ist wirklich ausgesprochen herzlich. Mama stellt mir
ein paar Fragen über Deutschland und erklärt mir sogleich, wie das mit
dem Essen läuft: Montags bis Freitags macht sie mir Frühstück und
Abendessen, und am Wochenende soll ich für mich selber sorgen (das
sind die offiziellen Regeln der Schule). Wobei sie sogleich ausführt,
dass sie damit meint, dass ich mich an ihrem Kühlschrank nach Belieben
bedienen soll und alles essen und trinken darf, was ich darin finde.
Zuerst bin ich nicht ganz sicher, ob ich das richtig verstanden habe,
aber sie wiederholt später mehrmals, dass ich dies und das gerne
jederzeit essen oder trinken darf. Ich solle mich wie zu Hause fühlen,
Ihr Haus sein mein Haus, Nami-san meine Schwester. Als sie es so oft
und so deutlich gesagt hat, lasse ich das Misstrauen gegenüber meinen
Japanischkenntnissen fallen und glaube, dass ich es (von Anfang an)
richtig verstanden habe. Was für ein Unterschied zu der zwar überhaupt
nicht unfreundlichen, aber doch eher reservierten Familie vom
vorletzten Jahr!
Ich könne jederzeit duschen und das Bad benutzen, die Wäsche solle
ich einfach in die Waschmaschine werfen und sie würde sie für mich mit
waschen. Duschhandtücher liegen dort, nach Gebrauch auch einfach in
die Waschmaschine. Als nächstes kriege ich sogleich einen
Haussschlüssel und wichtige Informationen: Die Handynummern der beiden
und die Festnetznummer. Außerdem einen vorbereiteten Zettel in einer
Plastikhülle für den Fall, dass ich mal von der Polizei angehalten
werde . Klein Harald hat sich
verlaufen, bitte liefern Sie ihn da und dort ab ? Nicht ganz, aber
so ähnlich: Dieses Fahrrad gehört Okano Nami, aber ich habe es im
Moment an Harald verliehen, der bei uns einen Homestay macht. Adresse,
gezeichnet Okano Nami . Ich lese laut vor und ernte dafür
bewunderndes Lob, wie toll ich doch Japanisch kann. Und daraus folgt
wohl, dass sie mir ihr Fahrrad zu leihen gedenkt, und ich habe sogar
einen Fahrzeugschein dazu :-).
Als nächstes kriege ich ein Heftchen mit dem Bahnfahrplan, in das
liebevoll Lesezeichen für Hin- und Rückfahrt werktags und am
Wochenende eingeklebt sind, beschriftet in Japanisch und Englisch. Und
die Abfahrts- und Ankunftszeiten in Mikawa-Anjo und Okazaki sind mit
einem Textmarker markiert. Da muss klein Harald also nur noch lernen,
welches das richtige Gleis ist, dann sollte nichts mehr schiefgehen
können.
Ich frage, ob ich Fotos von ihnen und ihrem Haus machen darf und
erkläre diesmal sogar ausführlich, dass ich täglich Tagebuch schreibe
und die Fotos auch auf meine Webseite stellen möchte. Sie haben
überhaupt kein Problem damit. Um sicherzugehen, frage ich, ob sie
einen Internetanschluss haben (haben sie), und wir gehen hoch an den
PC, wo ich ihnen mein Tagebuch und Fotos von der letzten Gastfamilie
und den anderen Reisen zeige. Gut, Fotografieren ist also
uneingeschränkt erlaubt, dann fang ich mal in meinem Zimmer an . Ich habe sogar einen
Fernseher im Zimmer, das wird gut für die Bildung sein. Im
Nachbarzimmer steht der PC, den ich jederzeit gerne benutzen
darf – super, denn ich
habe ja mein Vokabellernen inzwischen komplett auf meine Website
umgestellt und kann offline gar nicht mehr so wirklich gut arbeiten.
Das Thema, ob ich mein Notebook hier ans Internet anschließen kann,
hebe ich mir mal noch auf; nach all den ohnehin schon freimütig
angebotenen Nettigkeiten will ich nicht noch mehr fordern. Und der PC
der Gastgeber hat den Vorteil, dass ich damit nicht an meine E-Mail
rankomme und auch nicht an das VPN in die Firma, das bedeutet weniger
Ablenkung.
So geht der Tag zuende mit einem leckeren Abendessen, bei dem meine
Gastgeber eifrig Konversation mit mir machen. Ein bisschen schwierig
ist es zwar dann und wann, aber für den ersten Tag kann ich doch sehr
zufrieden sein. Wir müssen so gut wie nie auf Englisch ausweichen, die
Tochter kann auch wohl nur ein paar Brocken, die Mutter gar nichts. Es
gibt Reis mit Lachsstückchen, Gurken, einen Salat aus Karotten und
Werweißwas, Tofu mit fischig schmeckenden Flocken und Sojasoße und
eine Suppe mit fu, was laut meinem Wörterbuch irgendwie aus
Weizen gemacht wird und von Aussehen, Form und Konsistenz her am
treffendsten als kleine grüne Marshmallows zu beschreiben ist .
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