04.10., Kamakura

Es ist erschreckend, wie die Zeit vergeht ... kaum bin ich da, muss ich auch bald schon wieder abreisen. Heute raffe ich mich endlich einmal auf, nach Kamakura zu fahren, damit ich wenigstens einmal aus Tokyo rauskomme (Yamanakako zählt nicht so recht, das kannte ich ja schon und außerdem hatte ich in diesem Jahr nicht so wirklich viel davon). Kamakura liegt südlich von Tokyo am Meer und war glaube ich auch irgendwann mal Hauptstadt von Japan, jedenfalls gibt es dort reichlich Tempel und Schreine zu besichtigen, sagt der Reiseführer. Und den Strand möchte ich auch mal sehen, wenn ich schon Urlaub auf einer Insel mache.

Da ich keinen rechten Plan habe, wie man dort hinkommt, fahre ich einfach mal zum Bahnhof Tokyo und frage mich dort durch. Es stellt sich heraus, dass das ein kleiner Umweg war, Shinagawa wäre der direktere Umsteigebahnhof gewesen, aber was solls. Immerhin antwortet die freundliche Dame am Informationsschalter tatsächlich auf Japanisch, als ich sie auf Japanisch frage, obwohl sie, wie ich bei den Ausländern vor mir beobachtet habe, durchaus gut Englisch kann. Man muss die kleinen Erfolgserlebnisse sorgfältig sammeln in diesem Meer von Unverständnis, das Japanisch immer noch ist. Ich verstehe ihre Antwort zwar nicht hundertprozentig, aber entnehme ihr das richtige Gleis, die Tatsache, dass gleich ein Zug kommt und die Information, dass ich die Fahrkarte erst bei der Ankunft bezahlen muss. Na also.

Kamakura wirkt ein bisschen provinziell, obwohl die Unterschiede zu einem beliebigen Vorort-Bahnhof in Tokyo eher graduell sind Foto dazu. Ich studiere ein wenig den auf dem Bahnhofsvorplatz aufgestellten Sightseeing-Plan Foto dazu ... angeblich gibt es hier eine Touristen-Information, aber wo nur? Ich kann nichts entdecken. Eigentlich hätte ich gerne einen Plan zum Mitnehmen für meine Wanderung.

Apropos Plan: Es ist auffällig, dass in Japan alle öffentlich aufgestellten Pläne immer so orientiert sind, wie man davor steht, also die aktuelle Blickrichtung ist oben. Das finde ich in den nächsten Minuten, während ich die Touristen-Info suche, immens irritierend, denn ich finde noch zwei, drei Pläne von Kamakura, und jedes Mal sind sie anders gedreht. Norden einheitlich oben würde mir wesentlich mehr zusagen. Ich habe mal irgendwann im Fernsehen so eine Sendung mit versteckter Kamera gesehen, wo man in Japan in einem Bürogebäude den Grundrissplan neben dem Aufzug um 90 Grad gedreht hat und dann die Leute gefilmt, wie sie verzweifelt die Toilette gesucht haben und immer wieder zum Plan zurückgekehrt sind. Mit den Kollegen, die Navigationssysteme testen, witzeln wir ab und zu, dass es da den Männer-Modus und den Frauen-Modus gibt: Ersterer hat Norden oben, letzterer die aktuelle Blickrichtung. Wir sollten das ab sofort umbenennen in Europäer-Modus und Japaner-Modus. Ist zwar auch irgendwie diskriminierend, aber immerhin weniger sexistisch :-).

Als ich mich gerade von dem Plan abwende, sprechen mich zwei vielleicht 12-jährige Jungen auf Japanisch an, wo ich denn herkomme. Ich sage ihnen, jetzt gerade aus Tokyo, aber ansonsten aus Deutschland. Welches japanische Essen ich denn mag? Huch, diese Ausfragerei kommt ein wenig abrupt, aber, tja, was sag ich da ... Sushi, Tempura, ach, das Übliche halt. Und schwupps sind sie wieder weg, mehr fällt ihnen anscheinend nicht ein. Schon lustig. Ich hätte genau so etwas auf Englisch erwartet, aber auf Japanisch, das ist eine Überraschung.

Die Touristen-Information ist gut versteckt auf der anderen Seite des Bahnhofs, wo es noch einen größeren, wohl den eigentlichen, aber weniger schönen Bahnhofsvorplatz gibt Foto dazu. Dort bekomme ich einen Plan, den ich ab sofort immer mit Norden nach oben halten kann :-). Es ist schon spät, daher beschließe ich, doch nicht wir ursprünglich geplant zu Fuß zum Meer zu gehen, sondern mit der Bahn bis Hase zu fahren. Das putzige Bähnchen erinnert mich aber jetzt doch dran, dass ich nicht mehr in Tokyo bin ... nur zwei Wagen und eine eingleisige Strecke, wie süß Foto dazu Foto dazu.

Den Strand finde ich einigermaßen trostlos, aber na ja, die Saison ist halt vorbei Foto dazu. Ich beobachte eine Gruppe spielender Kinder Foto dazu, und auf einmal entdecken sie mich und kommen auf mich zu. Sie kramen alle eilig einen Hefter aus ihrer Tasche; ich ahne schon, was jetzt kommt. Dasselbe wie vorhin, nur auf Englisch: "Hello, what is your name?" "My name is Harold." Woraufhin sie sich der Reihe nach vorstllen, "My name is ...". Ich frage "How long have you been studying English?" und bekomme als Antwort "What is your favorite fruit?". Äh, ah, ja. Gegenfragen standen natürlich nicht im Lehrbuch, wie konnte ich das vergessen. "Banana." "Nice to meet you.", tönt es reihum, und damit ist die Sache anscheinend erledigt. "Would you please sign?" Und jeder hält mir sein Heft unter die Nase, damit ich meinen Namen reinschreibe, Englisch-Übung abgehakt. Schon lustig. Ich will aber auch üben: nan nen kan eigo wo benkyou shita? Seit vier Jahren lernen sie Englisch, kriege ich also doch noch eine Antwort auf meine Frage. Foto zum Abschied, fertig ist die Völkerverständigung Foto dazu. Ich muss aber sagen, dass der Englischunterricht anscheinend besser wird in Japan. Die Knirpse hatten eine ziemlich gute Aussprache, und ihre Probleme mit dem Hörverständnis kann ich nach vier Jahren Japanisch-Selbststudium sehr gut nachvollziehen.

Nach einem kleinen Imbiss im erstbesten Restaurant Foto dazu (ich esse eine Portion gyouza Foto dazu) geht es nun an die Tempel. Es wird wohl nur einer werden, wenn ich so auf die Uhr schaue, aber egal, es hetzt mich ja niemand. Hasedera heißt er (長谷寺), und ich halte mich über eine Stunde dort auf, während der es leider zu regnen beginnt Foto dazu.

Neben dem Hauptgebäude sitzt anscheinend eine Schulklasse, und ich bemerke wieder die einheitlichen gelben Mützen Foto dazu, die mir unterbewusst auch schon eben am Strand bei den Kindern aufgefallen waren. Das ist also die Sparversion einer Schul-Uniform; bisher hatte ich Schüler immer nur in Uniform als solche wahrgenommen. Was den Tempel betrifft, mögen die Fotos für sich sprechen; leider ist das Wetter zum Fotografieren wirklich schlecht.

Nach der Tempelbesichtigung fallen mir noch schnell im Schaufenster eines Antiquitäten-Ladens die Schriftrollen auf Foto dazu. Sowas brauche ich auch unbedingt für mein japanisches Zimmer, aber warum sind die nur so teuer? 27.000 Yen kostet die rechte, das sind fast 200 Euro. Im Katalog des Nihon-kiin gibts übrigens auch eine Schriftrolle mit den gleichen Zeichen, wie sie in dem Profi-Spielraum hängen, in dem die Titelkämpfe ausgetragen werden. Tief-Tiefe-undeutlich-mysteriös oder so, also irgendwas im Sinne von unergründlicher Tiefe. Kostet 50.000 Yen. Ich werde mich wohl mit dem Gedanken anfreunden müssen, dass die Originale halt einfach so viel kosten.

Die Zeit vor Sonnenuntergang reicht gerade noch, den großen Buddha mitzunehmen, für den Kamakura unter anderem berühmt ist Foto dazu. Schon geht die Sonne unter, und ich mache mich auf den Rückweg nach Tokyo.

Zurück in Shinagawa rufe ich Hiko an ... er kann erst um 9. Also noch zwei Stunden Zeit totschlagen. Da Shibuya auf dem Weg liegt, fahre ich erst einmal dort hin. Hachikou trägt heute eine Schärpe, ich mache mir nicht die Mühe, sie zu entziffern Foto dazu. Ich lasse Shibuya einen Augenblick auf mich wirken und laufe dann mal rüber zu Tower Records, einem großen Plattenladen. Dort scheint eine besondere Aktion im Gange zu sein mit Napster, jedenfalls deutet der Stand vor der Tür darauf hin Foto dazu. (Erst einen Tag später erfahre ich, dass das sogar heise online eine Meldung wert war und spende nachträglich mein Foto.) Ich höre mir bei Tower Records allerlei Musik an, finde aber nichts, was mir wirklich zusagt. Die Zeit geht jedenfalls schnell rum.

Schon ist es Zeit, nach Kichijouji zu fahren, wo ich mit Hiko in ein nettes Restaurant in japanischem Stil gehe, in dem jede Gruppe von Gästen ein eigenes kleines Zimmerchen hat. Wie immer bestellt Hiko eine Unmenge von Essen, vornehmlich gebratene Fleischspieße, und wir verbringen einen lustigen Abend Foto dazu. Mit der traurigen Gewissheit, dass dies das Abschiedsessen ist, übermorgen muss ich wieder nach Hause.

 

(Gästebuch außer Betrieb)     Inhaltsverzeichnis     weiter >


©2006 by Harald Bögeholz