Es ist erschreckend, wie die Zeit vergeht ... kaum bin ich da, muss
ich auch bald schon wieder abreisen. Heute raffe ich mich endlich
einmal auf, nach Kamakura zu fahren, damit ich wenigstens einmal aus
Tokyo rauskomme (Yamanakako zählt nicht so recht, das kannte ich
ja schon und außerdem hatte ich in diesem Jahr nicht so wirklich
viel davon). Kamakura liegt südlich von Tokyo am Meer und war
glaube ich auch irgendwann mal Hauptstadt von Japan, jedenfalls gibt
es dort reichlich Tempel und Schreine zu besichtigen, sagt der
Reiseführer. Und den Strand möchte ich auch mal sehen, wenn
ich schon Urlaub auf einer Insel mache.
Da ich keinen rechten Plan habe, wie man dort hinkommt, fahre ich
einfach mal zum Bahnhof Tokyo und frage mich dort durch. Es stellt
sich heraus, dass das ein kleiner Umweg war, Shinagawa wäre der
direktere Umsteigebahnhof gewesen, aber was solls. Immerhin antwortet
die freundliche Dame am Informationsschalter tatsächlich auf
Japanisch, als ich sie auf Japanisch frage, obwohl sie, wie ich bei
den Ausländern vor mir beobachtet habe, durchaus gut Englisch
kann. Man muss die kleinen Erfolgserlebnisse sorgfältig sammeln
in diesem Meer von Unverständnis, das Japanisch immer noch
ist. Ich verstehe ihre Antwort zwar nicht hundertprozentig, aber
entnehme ihr das richtige Gleis, die Tatsache, dass gleich ein Zug
kommt und die Information, dass ich die Fahrkarte erst bei der Ankunft
bezahlen muss. Na also.
Kamakura wirkt ein bisschen provinziell, obwohl die Unterschiede zu
einem beliebigen Vorort-Bahnhof in Tokyo eher graduell sind . Ich studiere ein wenig
den auf dem Bahnhofsvorplatz aufgestellten Sightseeing-Plan ... angeblich gibt es hier
eine Touristen-Information, aber wo nur? Ich kann nichts entdecken.
Eigentlich hätte ich gerne einen Plan zum Mitnehmen für
meine Wanderung.
Apropos Plan: Es ist auffällig, dass in Japan alle
öffentlich aufgestellten Pläne immer so orientiert sind, wie
man davor steht, also die aktuelle Blickrichtung ist oben. Das finde
ich in den nächsten Minuten, während ich die Touristen-Info
suche, immens irritierend, denn ich finde noch zwei, drei Pläne
von Kamakura, und jedes Mal sind sie anders gedreht. Norden
einheitlich oben würde mir wesentlich mehr zusagen. Ich habe mal
irgendwann im Fernsehen so eine Sendung mit versteckter Kamera
gesehen, wo man in Japan in einem Bürogebäude den
Grundrissplan neben dem Aufzug um 90 Grad gedreht hat und dann die
Leute gefilmt, wie sie verzweifelt die Toilette gesucht haben und
immer wieder zum Plan zurückgekehrt sind. Mit den Kollegen, die
Navigationssysteme testen, witzeln wir ab und zu, dass es da den
Männer-Modus und den Frauen-Modus gibt: Ersterer hat Norden oben,
letzterer die aktuelle Blickrichtung. Wir sollten das ab sofort
umbenennen in Europäer-Modus und Japaner-Modus. Ist zwar auch
irgendwie diskriminierend, aber immerhin weniger sexistisch :-).
Als ich mich gerade von dem Plan abwende, sprechen mich zwei
vielleicht 12-jährige Jungen auf Japanisch an, wo ich denn
herkomme. Ich sage ihnen, jetzt gerade aus Tokyo, aber ansonsten aus
Deutschland. Welches japanische Essen ich denn mag? Huch, diese
Ausfragerei kommt ein wenig abrupt, aber, tja, was sag ich da ...
Sushi, Tempura, ach, das Übliche halt. Und schwupps sind sie
wieder weg, mehr fällt ihnen anscheinend nicht ein. Schon lustig.
Ich hätte genau so etwas auf Englisch erwartet, aber auf
Japanisch, das ist eine Überraschung.
Die Touristen-Information ist gut versteckt auf der anderen Seite
des Bahnhofs, wo es noch einen größeren, wohl den
eigentlichen, aber weniger schönen Bahnhofsvorplatz gibt . Dort bekomme
ich einen Plan, den ich ab sofort immer mit Norden nach oben halten
kann :-). Es ist schon spät, daher beschließe ich, doch
nicht wir ursprünglich geplant zu Fuß zum Meer zu gehen,
sondern mit der Bahn bis Hase zu fahren. Das putzige Bähnchen
erinnert mich aber jetzt doch dran, dass ich nicht mehr in Tokyo bin
... nur zwei Wagen und eine eingleisige Strecke, wie
süß .
Den Strand finde ich einigermaßen trostlos, aber na ja, die
Saison ist halt vorbei . Ich beobachte eine Gruppe
spielender Kinder , und auf einmal entdecken
sie mich und kommen auf mich zu. Sie kramen alle eilig einen Hefter
aus ihrer Tasche; ich ahne schon, was jetzt kommt. Dasselbe wie
vorhin, nur auf Englisch: "Hello, what is your name?" "My name is
Harold." Woraufhin sie sich der Reihe nach vorstllen, "My name is
...". Ich frage "How long have you been studying English?" und bekomme
als Antwort "What is your favorite fruit?". Äh, ah, ja.
Gegenfragen standen natürlich nicht im Lehrbuch, wie konnte ich
das vergessen. "Banana." "Nice to meet you.", tönt es reihum, und
damit ist die Sache anscheinend erledigt. "Would you please sign?" Und
jeder hält mir sein Heft unter die Nase, damit ich meinen Namen
reinschreibe, Englisch-Übung abgehakt. Schon lustig. Ich will
aber auch üben: nan nen kan eigo wo benkyou shita? Seit
vier Jahren lernen sie Englisch, kriege ich also doch noch eine
Antwort auf meine Frage. Foto zum Abschied, fertig ist die
Völkerverständigung . Ich muss aber sagen, dass
der Englischunterricht anscheinend besser wird in Japan. Die Knirpse
hatten eine ziemlich gute Aussprache, und ihre Probleme mit dem
Hörverständnis kann ich nach vier Jahren
Japanisch-Selbststudium sehr gut nachvollziehen.
Nach einem kleinen Imbiss im erstbesten Restaurant (ich esse eine Portion
gyouza ) geht es nun an die
Tempel. Es wird wohl nur einer werden, wenn ich so auf die Uhr schaue,
aber egal, es hetzt mich ja niemand. Hasedera heißt er
(長谷寺), und ich halte mich über eine Stunde
dort auf, während der es leider zu regnen beginnt .
Neben dem Hauptgebäude sitzt anscheinend eine Schulklasse, und
ich bemerke wieder die einheitlichen gelben Mützen , die mir unterbewusst auch
schon eben am Strand bei den Kindern aufgefallen waren. Das ist also
die Sparversion einer Schul-Uniform; bisher hatte ich Schüler
immer nur in Uniform als solche wahrgenommen. Was den Tempel betrifft,
mögen die Fotos für sich sprechen; leider ist das Wetter zum
Fotografieren wirklich schlecht.
Nach der Tempelbesichtigung fallen mir noch schnell im Schaufenster
eines Antiquitäten-Ladens die Schriftrollen auf . Sowas
brauche ich auch unbedingt für mein japanisches Zimmer, aber
warum sind die nur so teuer? 27.000 Yen kostet die rechte, das sind
fast 200 Euro. Im Katalog des Nihon-kiin gibts übrigens auch eine
Schriftrolle mit den gleichen Zeichen, wie sie in dem Profi-Spielraum
hängen, in dem die Titelkämpfe ausgetragen werden.
Tief-Tiefe-undeutlich-mysteriös oder so, also irgendwas im Sinne
von unergründlicher Tiefe. Kostet 50.000 Yen. Ich werde mich wohl
mit dem Gedanken anfreunden müssen, dass die Originale halt
einfach so viel kosten.
Die Zeit vor Sonnenuntergang reicht gerade noch, den großen
Buddha mitzunehmen, für den Kamakura unter anderem berühmt
ist . Schon geht die Sonne
unter, und ich mache mich auf den Rückweg nach Tokyo.
Zurück in Shinagawa rufe ich Hiko an ... er kann erst um 9.
Also noch zwei Stunden Zeit totschlagen. Da Shibuya auf dem Weg liegt,
fahre ich erst einmal dort hin. Hachikou trägt heute eine
Schärpe, ich mache mir nicht die Mühe, sie zu
entziffern . Ich lasse Shibuya einen
Augenblick auf mich wirken und laufe dann mal rüber zu Tower
Records, einem großen Plattenladen. Dort scheint eine besondere
Aktion im Gange zu sein mit Napster, jedenfalls deutet der Stand vor
der Tür darauf hin . (Erst einen Tag
später erfahre ich, dass das sogar heise online eine Meldung wert
war und spende nachträglich mein Foto.) Ich höre mir bei
Tower Records allerlei Musik an, finde aber nichts, was mir wirklich
zusagt. Die Zeit geht jedenfalls schnell rum.
Schon ist es Zeit, nach Kichijouji zu fahren, wo ich mit Hiko in
ein nettes Restaurant in japanischem Stil gehe, in dem jede Gruppe von
Gästen ein eigenes kleines Zimmerchen hat. Wie immer bestellt
Hiko eine Unmenge von Essen, vornehmlich gebratene
Fleischspieße, und wir verbringen einen lustigen Abend . Mit der traurigen
Gewissheit, dass dies das Abschiedsessen ist, übermorgen muss ich
wieder nach Hause.
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