Heute klappts schon besser mit dem Aufstehen; so ganz
allmählich finde ich in diese Zeitzone. Ich verbringe den
Vormittag mit Kanjilernen, angespornt durch die Tatasche, dass sie
mich ja nun die nächsten drei Wochen umgeben werden und ich
möglichst viele davon lesen will.
Gegen Mittag gehe ich aus dem Haus und erkunde die nähere
Umgebung; Pamela hat mir einen Stadtplan gegeben. Ganz in der
Nähe ist ein kleines Einkaufssträßchen, eine
Quasi-Fußgängerzone . Quasi, weil anscheinend
nicht wirklich für Autos gesperrt, aber es fahren nur sehr
wenige. Zum Mittagessen gibts gyouza und ramen .
Auf dem Stadtplan ist ganz in der Nähe ein See und eine
Grünfläche verzeichnet, das will ich mir ansehen. In der Tat
handelt es sich um ein kleines Naherholungsgebiet; man kann Boote
mieten, um damit auf dem See herumzufahren und um den See herum gibts
so eine Art Naturlehrpfad, wo man sich über Fauna und Flora
informieren kann .
Das völlig Neue an meinem diesjährigen Japan-Aufenthalt
ist aber, dass ich jetzt lesen kann. Beziehungsweise ist das dann doch
noch ein viel zu großes Wort, aber nachdem ich jetzt innerhalb
eines Jahres alle 2042 Zeichen des Heisig-Buches studiert habe, kann
ich doch wenigstens ungefähr ahnen, was da geschrieben steht. Und
ich kann die Zeichen bei Bedarf in meinen Zaurus kritzeln und im
Wörterbuch nachschlagen, denn ich beherrsche jetzt ziemlich
sicher die korrekte Strichfolge, auch bei Zeichen, deren Bedeutung mir
doch wieder entfallen ist.
Und so fällt mir nach einigem Spazieren im Park auf, dass sich
meine Wahrnehmung der Welt doch deutlich geändert hat.
Früher hätte ich in einem solchen Park gedacht, dass es
viele dekorative Inschriften gibt. Doch jetzt merke ich, dass der Park
geradezu gepflastert ist mit Verbotsschildern und Anweisungen aller
Art. Als ich auf einer kleinen Insel mit einem kleinen Schrein ein
Schild stehen sehe, dass Golf spielen verboten ist , fange ich an, einmal
systematisch mit der Kamera all die skurrilen Schilder zu
dokumentieren.
Als erstes soll man also nicht Golf spielen , ich kann mir auch im
Traum nicht vorstellen, wer auf die Idee käme. Feuerwerk und
Spielen mit Feuer sind verboten , und hinten am selben
Pfosten steht zu lesen, dass Musizieren unerwünscht ist . (Die Übersetzungen
in den Bildunterschriften haben mich übrigens stundenlang
beschäftigt; ich bin mit den Kanji längst noch nicht so
weit, dass ich sowas mal eben aus dem Augenwinkel lesen könnte.
Aber immerhin.) Man soll nicht über den Zaun in den Teich
hüpfen und auch nicht angeln.
Angeln soll man ganz besonders nachdrücklich und
ausdrücklich ganz bestimmt wirklich nicht , nicht einmal füttern
soll man die Fische und die putzigen Enten . Was einen Japaner aber
nicht davon abhält, es trotzdem zu tun. Als er aber merkt, dass
ich fotografiere, rafft er schnell seine Futtertüte zusammen und
eilt davon .
Wo waren wir? Den Dreck seines Hundes soll Herrchen gefälligst
mitnehmen , der Spielplatz hat eine
ausführliche Gebrauchsanweisung , das kostbare Bambusgras
soll man natürlich nicht zertrampeln , Hunde an der Leine
führen und sich an dem
schräg wachsenden Baum nicht den Kopf anhauen . Wie habe ich mich nur
bisher in dieser fremden Kultur zurechtgefunden, ohne all diese
komplexen Verhaltensregeln lesen zu können?
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