In der ersten Stunde wiederholen wir heute noch etwas, und dann
gehts ab der zweiten Stunde zur Sache: Prüfung. Für mich
geht es dabei nur um mein Selbstwertgefühl, denn morgen ist ja
sowieso mein letzter Schultag. Aya, Svetlana und alle anderen, die
hier noch weiterlernen wollen, stehen unter größerem Druck.
Wenn sie nicht mindestens 80 Prozent der Punkte erreichen, müssen
sie die Klasse wiederholen, so sind hier die Spielregeln. Die
Prüfung besteht aus einem schriftlichen und einem mündlichen
Teil. Einer nach dem anderen wird während der Prüfung
herausgerufen und in einem anderen Klassenzimmer interviewt.
Die erste Aufgabe läuft gut; das Partikel-Ratespiel, wie ich
es zu nennen pflege, beherrsche ich souverän. Aber schon in der
zweiten Aufgabe komme ich ins Schleudern: Sie enthält viel zu
viele Vokabeln, die mir entfallen sind oder mir vollkommen unbekannt
vorkommen. Da kann ich leider all die Grammatik, die ich theoretisch
beherrsche, nicht recht aufs Papier bringen. Das kann ja heiter
werden; mit den Riesenlücken, die ich hier lassen muss, sind das
bei weitem keine 80 Prozent. Nun ja, mir war irgendwie schon vorher
klar, dass ich diesmal nicht als Klassenbester abschneiden würde.
Also nicht verrückt machen lassen und weiter im Konzept.
Die mündliche Prüfung wird wie im letzten Jahr
aufgezeichnet. Letztes Jahr hieß es, wir würden ein
korrigiertes Transkript bekommen, davon habe ich aber nie etwas
gesehen. Ob das Mikrofon wohl auch diesmal nur dazu da ist, die
Nervosität zu erhöhen? Immerhin kann mich ein Mikrofon nicht
aus der Ruhe bringen; zu oft schon habe ich Radio-Interviews gegeben.
Ich verstehe immerhin bei allen Fragen, welche grammatische
Konstruktion gerade von mir erwartet wird, wenn ich auch hin und
wieder Schwierigkeiten mit der Grammatik habe. Manchmal muss ich mir
die Wörter Silbe für Silbe zusammenstottern; bei der gerade
erst gestern gelernten Kausativform fehlt mir einfach noch die
Übung.
Zurück in der schriftlichen Prüfung merke ich, dass mir
allmählich die Zeit davonläuft. Das Lesen ist eine weitere
Schwäche von mir. Ich kann zwar alles entziffern, brauche aber
ewig dafür. Eigentlich hatte ich vorgehabt, nachher nochmal
über die Prüfung drüberzugehen und vielleicht doch noch
die ein oder andere Lücke zu füllen, aber daran ist nicht zu
denken. Als ich endlich am Ende angelangt bin, haben alle anderen
schon abgegeben, aber die Lehrerin sitzt geduldig da und wartet auf
mich. Ein Blick auf die Uhr – ja, die Stunde ist offiziell
vorbei. Zwar macht Sugiura sensei keine Anstalten, mich zu hetzen,
aber irgendwie setzt mich die Situation so unter Druck, dass ich eh
keinen klaren Gedanken fassen kann, also gebe ich auch ab.
Ob es schwierig gewesen sei? Ja, sehr schwierig, erkläre ich
ihr. Es gab viele Vokabeln, die ich nicht wusste, und außerdem
ist mir plötzlich auch ganz viel Grammatik wieder entfallen.
Den Nachmittagsunterricht erlebe ich wie in Trance; immerhin nehmen
wir eine Grammatikkonstruktion durch, die ich schon so oft in freier
Wildbahn gehört habe, dass sie mich nicht anstrengt und ich nach
langer Zeit einmal wieder mühelos dem Unterricht folgen kann.
Trotzdem fühle ich mich nicht gut. Ich bin heute meinen eigenen
Ansprüchen nicht gerecht geworden, wenn diese auch
zugegebenermaßen recht hoch sind. Ich habe schon als
Schüler immer die Eins angepeilt und bin überhaupt noch nie
in meinem Leben durch eine Prüfung durchgefallen (oder doch, und
ich habe die Erinnerung nur verdrängt?). Das Gefühl, dass
dies heute zum ersten Mal passiert sein könnte, gefällt mir
gar nicht.
Nach dem Unterricht werfe ich kurz den obligatorischen Blick in die
E-Mail und lehne dann dankend Markus' Angebot, Go zu spielen, ab.
Heute ist die letzte Gelegenheit, noch einmal in Ruhe nach Nagoya zu
fahren und in dem großen Elektronikladen bikku kamera
nach Gadgets zu suchen, die es in Deutschland nicht gibt. Jockel hat
mich gebeten, für einen Freund eine PSP mitzubringen, Sven hat
ein Librie auf dem Wunschzettel stehen und für mich wird mir
schon auch irgendwas einfallen. Irgendwie muss ich mich heute für
die scheiß Prüfung entschädigen.
Mit dem Zug nach Nagoya zu fahren, ist inzwischen kein Abenteuer
mehr. bikku kamera liegt praktischerweise direkt neben dem
Hauptbahnhof, und ich lasse mir zwei Stunden Zeit, den ganzen Laden
von oben nach unten unter die Lupe zu nehmen. Gibt es in Deutschland
eigentlich Folien zum Aufkleben auf das Handy-Display, die den
Blickwinkel einschränken, damit man in der U-Bahn seine E-Mail
lesen kann, ohne dass jemand mitliest? Hier sieht man das fast bei
jedem Handy, aber ich glaub, sowas brauch ich für mich doch
nicht, zumal ich noch so ein altmodisches Handy mit
Schwarzweißdisplay habe.
In der DVD-Abteilung überlege ich eine ganze Weile, ob es
vielleicht cool wäre, den ein oder anderen Film auf Japanisch
mitzunehmen, lasse es dann aber doch bleiben. Es gibt im Internet
einen so riesengroßen Vorrat an Anime, dass ich zum Japanisch
Üben wirklich nicht die japanisch synchronisierte Fassung
amerikanischer Spielfilme kaufen muss. Da schau ich mir lieber meine
75 Folgen Hikaru no Go nochmal durch.
In der Notebook-Abteilung bekämpfe ich erfolgreich die
aufkeimende Schnapsidee, mir ein japanisches Notebook zu kaufen.
Schließlich habe ich schon eines, das mir tagtäglich gute
Dienste leistet. Klar, es könnte etwas kleiner und leichter sein
und der Akku könnte ein bisschen länger halten, aber es gibt
keinen wirklich guten Grund, viel Geld für ein neues Notebook
auszugeben.
Aber an der PDA-Ecke erwischt es mich dann. Da steht er, der Zaurus
SL-C3000, ein Linux-PDA mit 4 GByte Festplatte. Ende letzten
Jahres auf den Markt gekommen und meines Wissens in Europa nicht
erhältlich. Ich habe ihn letzte Woche schon bei Grant gesehen,
und insbesondere die Handschrifterkennung für Japanisch hat es
mir angetan. So kann ich unbekannte Kanji einfach reinkritzeln und
dann im Wörterbuch nachschlagen, das stelle ich mir praktisch
vor. Natürlich gäbe es das auch billiger, und es gibt vom
Zaurus auch kleinere, billigere Modelle. Aber ohne so ganz exakt zu
wissen, was ich mit dem Ding eigentlich will, ist es Liebe auf den
ersten Blick, ja, diesen Zaurus brauche ich jetzt, und es muss das
größte Modell sein, man gönnt sich ja sonst
nichts.
Ich frage den Verkäufer, ob das Ladegerät wohl auch in
Deutschland funktioniere, aber er verneint: Das liefe nur mit 100
Volt und ich bräuchte einen Transformator. Ich glaube ihm aber
nicht so ganz beziehungsweise traue meinen Japanischkenntnissen doch
nicht ganz und kaufe das Ding trotzdem, ohne extra noch nach einem
Adapter zu schauen. Es kann doch heutzutage eigentlich nicht sein,
dass es noch Schaltnetzteile gibt, die nur für eine
Eingangsspannung ausgelegt sind.
Ich habe letztes Jahr in diesem Laden schon mein elektronisches
Wörterbuch gekauft, daher weiß ich, dass die MasterCard
hier problemlos akzeptiert wird und habe außerdem sogar schon
eine Rabattkarte, auf der man irgendwelche Punkte sammeln kann und
dann Preisnachlässe bekommt. So fühle ich mich für den
Bezahlvorgang bestens gerüstet, aber irgendwelche Schwierigkeiten
scheint es doch zu geben. Beim Anblick meiner Kreditkarte fängt
der Verkäufer ganz aufgeregt an, mir etwas zu erklären,
für das mein Japanisch doch nicht recht ausreicht. Ich versteh
immer nur was von nächsten Monat und von bezahlen. Er gehört
zu der unsensiblen Sorte Japaner, die sich so gar nicht vorstellen
kann, dass ein Ausländer nicht alle Vokabeln kennt. Statt den
Satz einfach mal ein bisschen anders zu formulieren, wiederholt er
geduldig dreimal hintereinander wörtlich dasselbe und fängt
erst dann an, mir noch ausführlicher etwas zu erzählen:
Japanische Kreditkarten unterscheiden sich irgendwie von
europäischen Kreditkarten und man müsse sofort bezahlen oder
so. Allmählich dämmert mir, dass ich das Japanisch von
Anfang an durchaus verstanden habe. Ich wollte es nur nicht glauben,
weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass er das meint, was ich
verstanden habe (so ähnlich wie tabereru am letzten
Sonntag). Was er die ganze Zeit versucht hat mir zu erklären, ist
die Tatsache, dass ich, wenn ich jetzt mit dieser Kreditkarte bezahle,
erst im nächsten Monat eine Rechnung bekomme und bezahlen muss.
Ob ich damit einverstanden sei? Ja natürlich! Das ist meine
Kreditkarte, und die funktioniert schon seit Jahren genau so. Manchmal
kommt es mir vor als wollten die Japaner einen für dumm
verkaufen. Ja, jetzt habe ich endlich verstanden und bin
einverstanden, bitte buchen Sie von dieser Kreditkarte ab und ich
werde nächsten Monat bezahlen. Na also. Ob ich die Punkte auf
meiner pointo kaado benutzen oder weiter sammeln möchte?
Benutzen natürlich, wer weiß, wann ich je wieder in diesen
Laden komme. In der Tat wird der Zaurus dadurch ein bisschen billiger,
hab gerade vergessen, wie viel.
Jetzt noch schnell im Erdgeschoss eine PSP kaufen. Mit diesem
Verkäufer klappt die Kommunikation besser: Ich kann fragen, ob es
auch die billigere Version gibt und verstehe die Antwort, dass Sony
zurzeit nur das teurere Value Pack liefern kann, das da steht. Na dann
nehme ich das halt: 25.900 Yen sind nur knapp 200 Euro, das ist ein
guter Preis. Auch das Bezahlen ist an dieser Kasse komischerweise
überhaupt kein Problem: Ich gebe meine Kreditkarte ab,
unterschreibe und fertig. Warum der andere Japaner vorhin so einen
Aufstand um nichts gemacht hat, bleibt mir ein Rätsel.
Der Nachmittag ist mit dem bisschen Einkaufen wie im Fluge
vergangen, und ich muss mich auf den Heimweg machen. Den Kauf einer
Fahrkarte am Automaten beherrsche ich jetzt souverän, und das
Lesen des Fahrplans auch – dachte ich. Der Fahrplan ist ganz
einfach zu verstehen: Es gibt einen schwarzen Zug, der an jedem
Misthaufen hält und verschieden farbcodierte Züge, die mehr
oder weniger viele Haltestellen auslassen und entsprechend schneller
ankommen. Blau, grün, orange, gelb, je schneller desto besser, in
Okazaki halten sie alle. Der nächste fährt laut Plan in
wenigen Minuten von Gleis 3, also los.
Ich bekomme zwar keinen Sitzplatz, aber der Zug ist nicht ganz so
unangenehm gerammelt voll. Mein Blick schweift auf den Linienplan und
ich reibe mir verwundert die Augen: Okazaki ist nicht drauf. Wieso das
denn nicht? Auf dem Fahrplan war ganz deutlich die ganze Linie
abgebildet und für diesen Zug ein Halt in Okazaki. Bin ich also
doch in den falschen Zug gestiegen? Aber wieso ist es der falsche? Ich
war mir doch so sicher, den Fahrplan endlich verstanden zu haben. Also
nehme ich wieder allen Mut und meine bescheidenen Japanischkenntnisse
zusammen und frage eine Frau, ob dieser Zug denn nicht in Okazaki
hält. Nein, da hätte ich den falschen erwischt, die
Züge nach Okazaki fahren in Nagoya alle von Gleis 1 oder 2. Ich
solle einfach in Kanayama umsteigen, der Zug nach Okazaki komme hier
gleich in wenigen Minuten am selben Bahnsteig vorbei. Ok, vielen
Dank.
So kann ich also ohne Verzögerung in den richtigen Zug
umsteigen und komme rechtzeitig zum Abendessen. Was mich an der
Geschichte nur wurmt ist, dass ich irgendetwas an dem Fahrplan immer
noch nicht verstanden habe. Muss ich nächstes Jahr mal weiter
forschen, wie man in Nagoya die schnellen Züge nach Okazaki
identifiziert.
Zu Hause angekommen, hänge ich erst einmal die beiden neuen
Spielsachen an ihre Ladegeräte und spiele ein bisschen damit
herum . Nach dem Abendessen
zwinge ich mich dazu, mich noch ein letztes Mal an die Hausaufgaben zu
setzen. Aber die machen heute mal wieder keinen Spaß; wir haben
von dem Kapitel irgendwie nur die Hälfte behandelt, und die
Übungen beziehen sich genau auf die andere Hälfte. Nein,
unter diesen Umständen habe ich keine Lust, und außerdem
ist morgen mein letzter Tag. Da mach ich die Hausaufgaben heute
einfach mal nicht – ätsch!
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