11.5., Die Abschlussprüfung

In der ersten Stunde wiederholen wir heute noch etwas, und dann gehts ab der zweiten Stunde zur Sache: Prüfung. Für mich geht es dabei nur um mein Selbstwertgefühl, denn morgen ist ja sowieso mein letzter Schultag. Aya, Svetlana und alle anderen, die hier noch weiterlernen wollen, stehen unter größerem Druck. Wenn sie nicht mindestens 80 Prozent der Punkte erreichen, müssen sie die Klasse wiederholen, so sind hier die Spielregeln. Die Prüfung besteht aus einem schriftlichen und einem mündlichen Teil. Einer nach dem anderen wird während der Prüfung herausgerufen und in einem anderen Klassenzimmer interviewt.

Die erste Aufgabe läuft gut; das Partikel-Ratespiel, wie ich es zu nennen pflege, beherrsche ich souverän. Aber schon in der zweiten Aufgabe komme ich ins Schleudern: Sie enthält viel zu viele Vokabeln, die mir entfallen sind oder mir vollkommen unbekannt vorkommen. Da kann ich leider all die Grammatik, die ich theoretisch beherrsche, nicht recht aufs Papier bringen. Das kann ja heiter werden; mit den Riesenlücken, die ich hier lassen muss, sind das bei weitem keine 80 Prozent. Nun ja, mir war irgendwie schon vorher klar, dass ich diesmal nicht als Klassenbester abschneiden würde. Also nicht verrückt machen lassen und weiter im Konzept.

Die mündliche Prüfung wird wie im letzten Jahr aufgezeichnet. Letztes Jahr hieß es, wir würden ein korrigiertes Transkript bekommen, davon habe ich aber nie etwas gesehen. Ob das Mikrofon wohl auch diesmal nur dazu da ist, die Nervosität zu erhöhen? Immerhin kann mich ein Mikrofon nicht aus der Ruhe bringen; zu oft schon habe ich Radio-Interviews gegeben. Ich verstehe immerhin bei allen Fragen, welche grammatische Konstruktion gerade von mir erwartet wird, wenn ich auch hin und wieder Schwierigkeiten mit der Grammatik habe. Manchmal muss ich mir die Wörter Silbe für Silbe zusammenstottern; bei der gerade erst gestern gelernten Kausativform fehlt mir einfach noch die Übung.

Zurück in der schriftlichen Prüfung merke ich, dass mir allmählich die Zeit davonläuft. Das Lesen ist eine weitere Schwäche von mir. Ich kann zwar alles entziffern, brauche aber ewig dafür. Eigentlich hatte ich vorgehabt, nachher nochmal über die Prüfung drüberzugehen und vielleicht doch noch die ein oder andere Lücke zu füllen, aber daran ist nicht zu denken. Als ich endlich am Ende angelangt bin, haben alle anderen schon abgegeben, aber die Lehrerin sitzt geduldig da und wartet auf mich. Ein Blick auf die Uhr – ja, die Stunde ist offiziell vorbei. Zwar macht Sugiura sensei keine Anstalten, mich zu hetzen, aber irgendwie setzt mich die Situation so unter Druck, dass ich eh keinen klaren Gedanken fassen kann, also gebe ich auch ab.

Ob es schwierig gewesen sei? Ja, sehr schwierig, erkläre ich ihr. Es gab viele Vokabeln, die ich nicht wusste, und außerdem ist mir plötzlich auch ganz viel Grammatik wieder entfallen.

Den Nachmittagsunterricht erlebe ich wie in Trance; immerhin nehmen wir eine Grammatikkonstruktion durch, die ich schon so oft in freier Wildbahn gehört habe, dass sie mich nicht anstrengt und ich nach langer Zeit einmal wieder mühelos dem Unterricht folgen kann. Trotzdem fühle ich mich nicht gut. Ich bin heute meinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden, wenn diese auch zugegebenermaßen recht hoch sind. Ich habe schon als Schüler immer die Eins angepeilt und bin überhaupt noch nie in meinem Leben durch eine Prüfung durchgefallen (oder doch, und ich habe die Erinnerung nur verdrängt?). Das Gefühl, dass dies heute zum ersten Mal passiert sein könnte, gefällt mir gar nicht.

Nach dem Unterricht werfe ich kurz den obligatorischen Blick in die E-Mail und lehne dann dankend Markus' Angebot, Go zu spielen, ab. Heute ist die letzte Gelegenheit, noch einmal in Ruhe nach Nagoya zu fahren und in dem großen Elektronikladen bikku kamera nach Gadgets zu suchen, die es in Deutschland nicht gibt. Jockel hat mich gebeten, für einen Freund eine PSP mitzubringen, Sven hat ein Librie auf dem Wunschzettel stehen und für mich wird mir schon auch irgendwas einfallen. Irgendwie muss ich mich heute für die scheiß Prüfung entschädigen.

Mit dem Zug nach Nagoya zu fahren, ist inzwischen kein Abenteuer mehr. bikku kamera liegt praktischerweise direkt neben dem Hauptbahnhof, und ich lasse mir zwei Stunden Zeit, den ganzen Laden von oben nach unten unter die Lupe zu nehmen. Gibt es in Deutschland eigentlich Folien zum Aufkleben auf das Handy-Display, die den Blickwinkel einschränken, damit man in der U-Bahn seine E-Mail lesen kann, ohne dass jemand mitliest? Hier sieht man das fast bei jedem Handy, aber ich glaub, sowas brauch ich für mich doch nicht, zumal ich noch so ein altmodisches Handy mit Schwarzweißdisplay habe.

In der DVD-Abteilung überlege ich eine ganze Weile, ob es vielleicht cool wäre, den ein oder anderen Film auf Japanisch mitzunehmen, lasse es dann aber doch bleiben. Es gibt im Internet einen so riesengroßen Vorrat an Anime, dass ich zum Japanisch Üben wirklich nicht die japanisch synchronisierte Fassung amerikanischer Spielfilme kaufen muss. Da schau ich mir lieber meine 75 Folgen Hikaru no Go nochmal durch.

In der Notebook-Abteilung bekämpfe ich erfolgreich die aufkeimende Schnapsidee, mir ein japanisches Notebook zu kaufen. Schließlich habe ich schon eines, das mir tagtäglich gute Dienste leistet. Klar, es könnte etwas kleiner und leichter sein und der Akku könnte ein bisschen länger halten, aber es gibt keinen wirklich guten Grund, viel Geld für ein neues Notebook auszugeben.

Aber an der PDA-Ecke erwischt es mich dann. Da steht er, der Zaurus SL-C3000, ein Linux-PDA mit 4 GByte Festplatte. Ende letzten Jahres auf den Markt gekommen und meines Wissens in Europa nicht erhältlich. Ich habe ihn letzte Woche schon bei Grant gesehen, und insbesondere die Handschrifterkennung für Japanisch hat es mir angetan. So kann ich unbekannte Kanji einfach reinkritzeln und dann im Wörterbuch nachschlagen, das stelle ich mir praktisch vor. Natürlich gäbe es das auch billiger, und es gibt vom Zaurus auch kleinere, billigere Modelle. Aber ohne so ganz exakt zu wissen, was ich mit dem Ding eigentlich will, ist es Liebe auf den ersten Blick, ja, diesen Zaurus brauche ich jetzt, und es muss das größte Modell sein, man gönnt sich ja sonst nichts.

Ich frage den Verkäufer, ob das Ladegerät wohl auch in Deutschland funktioniere, aber er verneint: Das liefe nur mit 100 Volt und ich bräuchte einen Transformator. Ich glaube ihm aber nicht so ganz beziehungsweise traue meinen Japanischkenntnissen doch nicht ganz und kaufe das Ding trotzdem, ohne extra noch nach einem Adapter zu schauen. Es kann doch heutzutage eigentlich nicht sein, dass es noch Schaltnetzteile gibt, die nur für eine Eingangsspannung ausgelegt sind.

Ich habe letztes Jahr in diesem Laden schon mein elektronisches Wörterbuch gekauft, daher weiß ich, dass die MasterCard hier problemlos akzeptiert wird und habe außerdem sogar schon eine Rabattkarte, auf der man irgendwelche Punkte sammeln kann und dann Preisnachlässe bekommt. So fühle ich mich für den Bezahlvorgang bestens gerüstet, aber irgendwelche Schwierigkeiten scheint es doch zu geben. Beim Anblick meiner Kreditkarte fängt der Verkäufer ganz aufgeregt an, mir etwas zu erklären, für das mein Japanisch doch nicht recht ausreicht. Ich versteh immer nur was von nächsten Monat und von bezahlen. Er gehört zu der unsensiblen Sorte Japaner, die sich so gar nicht vorstellen kann, dass ein Ausländer nicht alle Vokabeln kennt. Statt den Satz einfach mal ein bisschen anders zu formulieren, wiederholt er geduldig dreimal hintereinander wörtlich dasselbe und fängt erst dann an, mir noch ausführlicher etwas zu erzählen: Japanische Kreditkarten unterscheiden sich irgendwie von europäischen Kreditkarten und man müsse sofort bezahlen oder so. Allmählich dämmert mir, dass ich das Japanisch von Anfang an durchaus verstanden habe. Ich wollte es nur nicht glauben, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass er das meint, was ich verstanden habe (so ähnlich wie tabereru am letzten Sonntag). Was er die ganze Zeit versucht hat mir zu erklären, ist die Tatsache, dass ich, wenn ich jetzt mit dieser Kreditkarte bezahle, erst im nächsten Monat eine Rechnung bekomme und bezahlen muss. Ob ich damit einverstanden sei? Ja natürlich! Das ist meine Kreditkarte, und die funktioniert schon seit Jahren genau so. Manchmal kommt es mir vor als wollten die Japaner einen für dumm verkaufen. Ja, jetzt habe ich endlich verstanden und bin einverstanden, bitte buchen Sie von dieser Kreditkarte ab und ich werde nächsten Monat bezahlen. Na also. Ob ich die Punkte auf meiner pointo kaado benutzen oder weiter sammeln möchte? Benutzen natürlich, wer weiß, wann ich je wieder in diesen Laden komme. In der Tat wird der Zaurus dadurch ein bisschen billiger, hab gerade vergessen, wie viel.

Jetzt noch schnell im Erdgeschoss eine PSP kaufen. Mit diesem Verkäufer klappt die Kommunikation besser: Ich kann fragen, ob es auch die billigere Version gibt und verstehe die Antwort, dass Sony zurzeit nur das teurere Value Pack liefern kann, das da steht. Na dann nehme ich das halt: 25.900 Yen sind nur knapp 200 Euro, das ist ein guter Preis. Auch das Bezahlen ist an dieser Kasse komischerweise überhaupt kein Problem: Ich gebe meine Kreditkarte ab, unterschreibe und fertig. Warum der andere Japaner vorhin so einen Aufstand um nichts gemacht hat, bleibt mir ein Rätsel.

Der Nachmittag ist mit dem bisschen Einkaufen wie im Fluge vergangen, und ich muss mich auf den Heimweg machen. Den Kauf einer Fahrkarte am Automaten beherrsche ich jetzt souverän, und das Lesen des Fahrplans auch – dachte ich. Der Fahrplan ist ganz einfach zu verstehen: Es gibt einen schwarzen Zug, der an jedem Misthaufen hält und verschieden farbcodierte Züge, die mehr oder weniger viele Haltestellen auslassen und entsprechend schneller ankommen. Blau, grün, orange, gelb, je schneller desto besser, in Okazaki halten sie alle. Der nächste fährt laut Plan in wenigen Minuten von Gleis 3, also los.

Ich bekomme zwar keinen Sitzplatz, aber der Zug ist nicht ganz so unangenehm gerammelt voll. Mein Blick schweift auf den Linienplan und ich reibe mir verwundert die Augen: Okazaki ist nicht drauf. Wieso das denn nicht? Auf dem Fahrplan war ganz deutlich die ganze Linie abgebildet und für diesen Zug ein Halt in Okazaki. Bin ich also doch in den falschen Zug gestiegen? Aber wieso ist es der falsche? Ich war mir doch so sicher, den Fahrplan endlich verstanden zu haben. Also nehme ich wieder allen Mut und meine bescheidenen Japanischkenntnisse zusammen und frage eine Frau, ob dieser Zug denn nicht in Okazaki hält. Nein, da hätte ich den falschen erwischt, die Züge nach Okazaki fahren in Nagoya alle von Gleis 1 oder 2. Ich solle einfach in Kanayama umsteigen, der Zug nach Okazaki komme hier gleich in wenigen Minuten am selben Bahnsteig vorbei. Ok, vielen Dank.

So kann ich also ohne Verzögerung in den richtigen Zug umsteigen und komme rechtzeitig zum Abendessen. Was mich an der Geschichte nur wurmt ist, dass ich irgendetwas an dem Fahrplan immer noch nicht verstanden habe. Muss ich nächstes Jahr mal weiter forschen, wie man in Nagoya die schnellen Züge nach Okazaki identifiziert.

Zu Hause angekommen, hänge ich erst einmal die beiden neuen Spielsachen an ihre Ladegeräte und spiele ein bisschen damit herum Foto dazu. Nach dem Abendessen zwinge ich mich dazu, mich noch ein letztes Mal an die Hausaufgaben zu setzen. Aber die machen heute mal wieder keinen Spaß; wir haben von dem Kapitel irgendwie nur die Hälfte behandelt, und die Übungen beziehen sich genau auf die andere Hälfte. Nein, unter diesen Umständen habe ich keine Lust, und außerdem ist morgen mein letzter Tag. Da mach ich die Hausaufgaben heute einfach mal nicht – ätsch!

 

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©2005 by Harald Bögeholz