10.5., Ach du Schande, noch eine Verbform

Ich kann mich wirklich nicht beklagen, dass ich auf dieser Schule zu wenig lerne. Erstaunlich, was die japanische Sprache noch alles für Wunder zu bieten hat. Als letzten Höhepunkt vor der Abschlussprüfung lernen wir heute die Kausativform der Verben. Sie drückt Zwang oder Erlaubnis aus, also jemanden etwas machen lassen. Ich habe mehr und mehr das Gefühl, dass ich bald gar nichts mehr auf Japanisch sagen kann, so sehr verwirren mich all diese verschiedenen Formen, die sich immer nur in einer oder wenigen Silben unterscheiden. Und je mehr verschiedene Arten ich lerne, ein und dasselbe verschieden höflich auszudrücken, desto mehr verunsichert mich das.

Die Kausativform drückt Zwang oder Erlaubnis eines Höhergestellten gegenüber einem Niedrigergestellten aus, wird also nur verwendet, wenn dieser gesellschaftliche Rangunterschied klar ist (und in bestimmten Ausnahmen, sonst wäre es ja zu einfach). Also meine Mutter hat mich als Kind viel Gemüse essen lassen, mein Vorgesetzter hat mich die Arbeit erledigen lassen etc. Mit dieser Form kann man auch besonders höflich einen Höhergestellten um Erlaubnis bitten. Im Deutschen könnte man es vielleicht so wiedergeben: Bisher hätte ich gefragt "ist es in Ordnung, wenn ich morgen frei nehme?", und mit der Kausativform heißt es nun "könnten Sie mich vielleicht morgen frei nehmen lassen?". Ich glaube, wenn ich das nächste Mal in freier Wildbahn jemanden um etwas bitten muss, weiß ich allmählich gar nicht mehr, welche Form nun die richtige ist.

Der Aufenthaltsraum bietet in der Pause einen merkwürdigen Anblick Foto dazu Foto dazu. Ein großer Teil der Boden fläche ist abgesperrt und wird anscheinend gereinigt. Während zwei, drei Leute tatsächlich putzen, stehen bestimmt 10 weitere drumrum und schauen zu. Was mag hier vorgehen? Putzunterricht? Eine Werbeveranstaltung für neue Putzmittel? Ich komme nicht dahinter. Immerhin ist die Kaffeemaschine noch zugänglich, das ist das Wichtigste.

Die Putzerei dauert bis in den Nachmittag. Als ich nach dem Unterricht mit Jerome Go spiele und dazu noch einen Kaffee will, ist der Weg zur Kaffeemaschine abgesperrt; jetzt wird anscheinend noch der Rest des Raums geputzt. Aber nicht so gründlich wie der morgens abgesperrte Teil: Als die Aktion abends dann beendet ist, sieht man einen deutlichen Rand zwischen dem gründlich unter den wachsamen Augen vieler Zuschauer geputzten und dem einfach nur gewischten Boden.

Wie gestern habe ich den Nachmittag mit entspannendem Anfänger-Go verbracht; zum Lernen oder gar für die Hausaufgaben fehlte mir die Kraft. Abends wiederhole ich die in den letzten vier Wochen gelernte Grammatik und stelle fest, dass es doch eine ganze Menge ist. So frustriert ich in letzter Zeit bin, so viel habe ich doch gelernt. Das muss ich mir immer wieder vergegenwärtigen, wenn der Frust überhand zu nehmen droht. Noch ein Blick auf die korrigierten Hausaufgaben von gestern – fast alles richtig, na also. Das erfüllt mich mit vorsichtiger Zuversicht.

Sie korrigieren übrigens recht liebevoll und gründlich jeden Tag. Ich hatte neben ein Kanji, das ich nicht kannte und dessen Bedeutung ich raten musste, ein Fragezeichen gemalt und prompt eine Erklärung dafür bekommen Foto dazu. Das allein ist nichts Besonderes, aber wenn ich so darüber nachdenke, dann erfüllt es mich doch mit einer gewissen Genugtuung, dass ich die Erklärung auch verstehe. Vielleicht kann ich ja doch ein bisschen Japanisch inzwischen.

Eigentlich wollte ich noch die Hausaufgaben machen, aber das Wiederholen hat bis nach 23 Uhr gedauert, und ich habe einfach keine Lust mehr. Lieber gehe ich heute früh ins Bett, damit ich morgen für die Prüfung ausgeruht bin.

 

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©2005 by Harald Bögeholz