Heute darf ich mit Katsuaki san und Keiko san zum Aikido-Training,
und anschließend wollen wir Keiko sans Eltern besuchen. Ihr
Vater spielt Go und freut sich schon auf eine Partie mit mir. Bin
gespannt, wie stark er ist.
Um kurz nach 9 brechen wir mit dem Auto nach Nagoya auf. Recht
heftige Autobahngebühren haben sie hier übrigens in Japan:
Die 25(?) Kilometer von Okazaki bis Nagoya kosten 1000 Yen (ca. 7,50
Euro). Ich hatte mir irgendwie eine Art Sporthalle oder so
vorgestellt, aber das unscheinbare Dojo in einem kleinen
Seitensträßchen irgendwo mitten in Nagoya ist viel kleiner
als erwartet. Was mich auf Anhieb überrascht ist, dass hier
Menschen aller Altersgruppen miteinander trainieren. Erst nach etwa
einer Stunde traue ich mich, den Sensei zu fragen, ob ich
fotografieren darf. Na klar, nur zu. Der Jünste ist vielleicht
fünf Jahre alt und wirbelt extra fürs Foto einen
20-Jährigen zu Boden – wobei ich davon
ausgehe, dass der freiwillig ein wenig mithilft. Er ist mit seinem
Vater da, der ungefähr in meinem Alter ist, vielleicht etwas
jünger . Keiko san ist glaube ich
51 und ihr Mann 55 . Sieht teilweise
schmerzhaft aus, was die da miteinander anstellen . Einige der anderen
Anwesenden wirken noch älter und lassen es halt etwas langsamer
angehen. (Irgendwie bin ich zu schüchtern beim Fotografieren;
habe die älteren Herren nirgendwo richtig mit drauf.)
Ich vestehe nichts von Aikido, aber irgendwie scheint es viel damit
zu tun zu haben, dem Gegner kunstvoll den Arm umzudrehen und ihn so zu
Boden zu hebeln . Würfe,
Fußfeger oder Haltegriffe, wie ich sie vom Judo kenne, sehe ich
nicht. Das Ganze läuft unglaublich ruhig und gelassen ab, schwer
zu beschreiben irgendwie. Obwohl man es überhaupt nicht danach
aussieht, hat der Sensei anscheinend, als er eine kleine Kostprobe
seines Könnens gibt, überhaupt kein Problem damit, zwei
Gegner gleichzeitig mit jeweils einem Arm zu bezwingen .
Auf einmal ist der Training anscheinend ohne viel Aufhebens zu
Ende. Alle verbeugen sich in eine Ecke des Dojos, wo anscheinend so
eine Art Schrein steht, und dann werden Tabletts mit Essen und Tee
aufgetragen. "tabereru?" fragt mich eine Japanerin und ich
schaue sie verständnislos an. Ich frage mit hilflosem Blick Keiko
san: "tabereru? taberareru?" – "ee, onaji desu",
bedeutet also das Gleiche. Wenn Keiko san fragt, ob ich etwas
bestimmtes essen will, sagt sie immer "taberu?". Und
taberareru ist die Potenzialform, die ich inzwischen gelernt
habe, also essen können. Nun scheint man in der Umgangssprache
davon dann doch wieder eine Silbe weglassen zu können, sodass es
nur noch tabereru heißt. Ach, ach, werde ich diese
Sprache je verstehen?
Mein Problem mit dieser nur aus einem einzigen Wort bestehenden
(und bestimmt dreimal wiederholten) Frage ist übrigens nicht in
erster Linie ein Grammatikproblem. Sondern mir ist einfach nicht klar,
warum mich die Japanerin nicht fragt, ob ich das essen möchte,
sondern ob ich das essen kann. Warum sollte ich nicht
können? Es ist doch bloß Reis, gibt es jemanden, der keinen
Reis essen kann? Oder soll die Frage bedeuten, ob ich in der Lage bin,
mit Stäbchen zu essen? Natürlich, sonst wäre ich in
Japan längst verhungert! Als wir die Frage des Essenkönnens
geklärt haben, wickelt sie für mich ein Reisbällchen
aus, stippt es in ein süßliches Pulver und reicht es mir
auf einem Tellerchen, dazu einen Becher Tee. Während einige Leute
einen Happen essen, trainieren andere ganz ungezwungen noch ein
bisschen weiter .
Einige der Anwesenden haben übrigens anscheinend gar nicht
wirklich mitgemacht. Ob sie wohl nur wegen des
Gemeinschaftsgefühls ins Aikido-Dojo kommen? Nachdem er einen
Happen gegessen hat, beginnt der Sensei einem dieser passiven
Teilnehmer Hände und Arme zu massieren. Aha, das gibts also auch.
Ob das auch zum Aikido gehört? Ich glaube, ich muss mich
gelegentlich mal genauer über Aikido informieren. Die ganze
Atmosphäre dieses Dojos, die sanfte Art und Weise, wie hier Leute
aller Altersgruppen miteinander umgehen, beeindruckt mich tief.
Der Sensei fragt mich, ob ich es nicht auch einmal versuchen will.
Jetzt? Hier? Ohne mich umzuziehen? Na gut, warum nicht? Sah ja nicht
sonderlich schweißtreibend aus. Keiko san bedeutet mir, ich
solle ihren Arm festhalten, und mit einer gekonnten Bewegung dreht sie
mir plötzlich so das Handgelenk um, dass ich zu Boden gehe
– ich muss, weil es deutlich wehtut, wenn ich mich diesem
Hebelgriff widersetze. Katsuaki san demonstriert mir noch einige
Übungen im Sitzen, die alle darauf hinauslaufen, mir kunstvoll
und schmerzhaft das Handgelenk zu verdrehen, wobei Keiko san hinterher
die Beweglichkeit meiner Gelenke lobt (glaube ich). Das war also mein
kleiner Ausflug in die Welt des Aikido. Ob es in Deutschland wohl auch
ein Dojo mit einer solchen Ausstrahlung gibt? Dann könnte ich mir
glatt vorstellen, mit Aikido anzufangen.
Zum Mittagessen lädt und Keiko sans Vater in eine Sushi-Bar
ein. Wir fahren mit dem Auto dorthin, Keiko san sagt ihm über
Handy Bescheid und er kommt mit dem Fahrrad nach. Das beeindruckt
mich; der alte Herr ist mit seinen 89 Jahren recht rüstig. Die
Sushi-Bar ist so eine, wo auf einem Fließband allerlei
Leckereien vorbeigefahren kommen, man sich das nimmt, was man essen
möchte und anschließend nach Anzahl und Farbe der Teller
abgerechnet wird . Obwohl ich so eine
Sushi-Bar schon zu kennen glaubte, lerne ich heute wieder etwas neues:
Über eine Sprechanlage geben Keiko san und Katsuaki san munter
anscheinend Bestellungen auf . Wozu das denn, es kommt
doch andauernd allerlei Leckeres vorbeigefahren? Keiko san
erklärt mir, dass man auch über die Sprechanlage bestellen
kann, wenn das, was man essen möchte, gerade nicht vorbeikommt.
Das wird dann extra für diesen Tisch zubereitet und mit einem
speziellen Untersetzer auf das Fließband gestellt, sodass die
anderen Gäste erkennen können, dass es vorbestellt ist und
es einem nicht wegschnappen. Da lauerte ja wieder ein
Fettnäpfchen für mich; eben hätt ich fast ein
Tellerchen genommen, das für einen fremden Tisch vorbestellt war,
weil ich das nicht wusste. Keiko san bestellt mir wieder ein
Schälchen von dem Eierglibber mit fischigen Sachen drin, dessen
Namen ich schon wieder vergessen habe, als ich dies schreibe . Ich schieße nach
dem Essen noch wahllos ein paar Fotos von all den leckeren Sachen, die
da vorbeigefahren kommen , und schon gehts weiter
zum Großvater nach Hause.
Als wir zu Hause ankommen und mir auch Keiko sans Mutter
vorgestellt wird, fällt mir auf, dass sie ja gar nicht
mitgekommen ist zum Sushi-Essen. Eine weitere von den vielen
Kleinigkeiten, die mich tagtäglich hier so überraschen.
Kimura san, der Vater von Keiko san, ist ein Biologe, der sich mit
Humangenetik beschäftigt hat. Wenn ich Keiko san richtig
verstanden habe, ist er Professor, aber auf seiner Visitenkarte steht
nur ein Doktortitel. Wie auch immer, seine wissenschaftliche
Tätigkeit hat ihn viel herumkommen lassen, und er empfängt
mich in seinem Souvenir-Zimmer, das vollgestopft ist mit Mitbringseln
aus aller Welt .
Bevor ich mich ausgiebig mit ihm unterhalte, muss ich mich aber
erst einmal entschuldigen und mir die Toilette zeigen lassen. Ich
stehe ratlos vor dem Klo. Es scheint ein einfacheres Modell zu sein
als bei Keiko san zu Hause und hat nur halb so viele Knöpfe. Alle
sind mit irgendwelchen Kanji beschriftet, die ich nicht kenne. Hmm,
welcher mag wohl den Klodeckel aufmachen? Ich will ja jetzt nicht
unbedingt die Massagefunktion oder die Hintern-abspritz-Funktion
aktivieren, sondern ich muss einfach nur mal. Nach einer halben Minute
fällt der Groschen endlich: Das ist ein altes Modell, wo man den
Klodeckel noch manuell aufmachen muss! Ich bin inzwischen so sehr
darauf konditioniert, dass das elektrisch geht, dass mir das
tatsächlich so schnell nicht eingefallen ist. Die diversen
Knöpfe sind wohl nur für die Klobrillenheizung (die in
diesem Haushalt ziemlich warm eingestellt ist) und so.
Als ich zurückkomme, erwartet mich Kimura san schon in einem
anderen Zimmer, vor seinem Goban sitzend. Wir unterhalten uns erst
eine ganze Weile darüber, was ich so mache und so (weitgehend auf
Englisch übrigens, er möchte gerne Englisch sprechen), und
dann kommen wir auf das Thema Go zu sprechen. Wie stark ich denn
spiele, wie lange denn schon und überhaupt wo und wie viel ich
denn in Deutschland so Go spiele. Ich habe gelernt, dass ich mich in
dieser Gegend Japans tatsächlich schon Shodan nennen darf (wenn
auch vielleicht noch ein etwas schwächlicher, in Deutschland nenn
ich mich 4k), was ihn veranlasst, mir die weißen Steine zu
geben. Wir spielen zwei Partien , die er allerdings beide
aufgeben muss. Bei der zweiten habe ich ein etwas schlechtes Gewissen,
ihn so auflaufen zu lassen, aber leider bin ich noch nicht gut genug,
meine Spielstärke so zu dosieren, dass eine angenehme Partie
entsteht.
Nach den beiden Partien bittet er mich noch, ihm bei einem
Computerproblem zu helfen; er kann seine E-Mail nicht mehr lesen. Das
stellt sich als unerwartet schwierig heraus. Wenn ich es recht
verstehe, hat er vor kurzem sein Passwort geändert, aber das neue
Passwort wird vom Mailserver nicht akzeptiert. Die Sache ist recht
unübersichtlich mit auf verschiedenen Zetteln notierten
unterschiedlichen User-IDs, Passwörtern und Mail-Accounts, und
obwohl er Thunderbird verwendet, fällt das Helfen unheimlich
schwer, denn alle Menüs sind natürlich auf Japanisch und
meine Kenntnisse der Schrift noch nicht allzu weit fortgeschritten.
Ich hole schließlich mein Notebook, um es danebenzuhalten und
in den englischen Menüs zu schauen, was sich wo versteckt. Obwohl
wir eine ganze Stunde lang am Rechner herumlaborieren, kann ich leider
nicht helfen; ich kriege einfach nicht raus, was es mit den
verschiedenen Passwörtern und IDs auf sich hat, und mein Versuch,
das auf der japanischen Website von Yahoo rauszukriegen, scheitert
kläglich an meiner Unfähigkeit, Kanji zu lesen.
Irgendwann will Keiko san nach Hause und reißt uns relativ
abrupt aus der Computerei; nachdem sie einige Minuten lang mit
wachsender Deutlichkeit darauf hingewiesen hat, dass sie jetzt heim
will, geht sie einfach zum Auto, und wir müssen Hals über
Kopf nachkommen. Ich hätte mich irgendwie gerne höflicher
verabschiede, weiß gar nicht recht, wie mir geschieht, raffe
mein Zeug zusammen und folge dem zum Auto eilenden Katsuaki san.
Kimura san kommt aber doch noch schnell mit zum Auto und sagt auf
Wiedersehen ... es habe ihn sehr gefreut, mit mir Go zu spielen und er
werde eifrig studieren, damit er mir im nächsten Jahr mehr
entgegenzusetzen hat (ich glaube jedenfalls, das hat er gesagt; war so
ein Gemisch aus Japanisch und Englisch).
Zurück zu Hause, rächt es sich, dass ich mich noch nicht
mit den Hausaufgaben beschäftigt habe. Jetzt waren ganze
fünf Tage Zeit, und Harald macht trotzdem wieder alles auf den
letzten Drücker. Es sind deutlich mehr Hausaufgaben als sonst,
natürlich, waren ja auch fünf Tage Zeit. Ich brauche
ungefähr fünf Stunden dafür... kurz nach Mitternacht
sinke ich erschöpft auf meinen Futon. Alles in allem aber ein
sehr schöner Tag, den ich nicht missen möchte.
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