8.5., Aikido-Training und Go mit dem Großvater

Heute darf ich mit Katsuaki san und Keiko san zum Aikido-Training, und anschließend wollen wir Keiko sans Eltern besuchen. Ihr Vater spielt Go und freut sich schon auf eine Partie mit mir. Bin gespannt, wie stark er ist.

Um kurz nach 9 brechen wir mit dem Auto nach Nagoya auf. Recht heftige Autobahngebühren haben sie hier übrigens in Japan: Die 25(?) Kilometer von Okazaki bis Nagoya kosten 1000 Yen (ca. 7,50 Euro). Ich hatte mir irgendwie eine Art Sporthalle oder so vorgestellt, aber das unscheinbare Dojo in einem kleinen Seitensträßchen irgendwo mitten in Nagoya ist viel kleiner als erwartet. Was mich auf Anhieb überrascht ist, dass hier Menschen aller Altersgruppen miteinander trainieren. Erst nach etwa einer Stunde traue ich mich, den Sensei zu fragen, ob ich fotografieren darf. Na klar, nur zu. Der Jünste ist vielleicht fünf Jahre alt und wirbelt extra fürs Foto einen 20-Jährigen zu Boden Foto dazu Foto dazu – wobei ich davon ausgehe, dass der freiwillig ein wenig mithilft. Er ist mit seinem Vater da, der ungefähr in meinem Alter ist, vielleicht etwas jünger Foto dazu. Keiko san ist glaube ich 51 und ihr Mann 55 Foto dazu. Sieht teilweise schmerzhaft aus, was die da miteinander anstellen Foto dazu. Einige der anderen Anwesenden wirken noch älter und lassen es halt etwas langsamer angehen. (Irgendwie bin ich zu schüchtern beim Fotografieren; habe die älteren Herren nirgendwo richtig mit drauf.)

Ich vestehe nichts von Aikido, aber irgendwie scheint es viel damit zu tun zu haben, dem Gegner kunstvoll den Arm umzudrehen und ihn so zu Boden zu hebeln Foto dazu. Würfe, Fußfeger oder Haltegriffe, wie ich sie vom Judo kenne, sehe ich nicht. Das Ganze läuft unglaublich ruhig und gelassen ab, schwer zu beschreiben irgendwie. Obwohl man es überhaupt nicht danach aussieht, hat der Sensei anscheinend, als er eine kleine Kostprobe seines Könnens gibt, überhaupt kein Problem damit, zwei Gegner gleichzeitig mit jeweils einem Arm zu bezwingen Foto dazu.

Auf einmal ist der Training anscheinend ohne viel Aufhebens zu Ende. Alle verbeugen sich in eine Ecke des Dojos, wo anscheinend so eine Art Schrein steht, und dann werden Tabletts mit Essen und Tee aufgetragen. "tabereru?" fragt mich eine Japanerin und ich schaue sie verständnislos an. Ich frage mit hilflosem Blick Keiko san: "tabereru? taberareru?" – "ee, onaji desu", bedeutet also das Gleiche. Wenn Keiko san fragt, ob ich etwas bestimmtes essen will, sagt sie immer "taberu?". Und taberareru ist die Potenzialform, die ich inzwischen gelernt habe, also essen können. Nun scheint man in der Umgangssprache davon dann doch wieder eine Silbe weglassen zu können, sodass es nur noch tabereru heißt. Ach, ach, werde ich diese Sprache je verstehen?

Mein Problem mit dieser nur aus einem einzigen Wort bestehenden (und bestimmt dreimal wiederholten) Frage ist übrigens nicht in erster Linie ein Grammatikproblem. Sondern mir ist einfach nicht klar, warum mich die Japanerin nicht fragt, ob ich das essen möchte, sondern ob ich das essen kann. Warum sollte ich nicht können? Es ist doch bloß Reis, gibt es jemanden, der keinen Reis essen kann? Oder soll die Frage bedeuten, ob ich in der Lage bin, mit Stäbchen zu essen? Natürlich, sonst wäre ich in Japan längst verhungert! Als wir die Frage des Essenkönnens geklärt haben, wickelt sie für mich ein Reisbällchen aus, stippt es in ein süßliches Pulver und reicht es mir auf einem Tellerchen, dazu einen Becher Tee. Während einige Leute einen Happen essen, trainieren andere ganz ungezwungen noch ein bisschen weiter Foto dazu.

Einige der Anwesenden haben übrigens anscheinend gar nicht wirklich mitgemacht. Ob sie wohl nur wegen des Gemeinschaftsgefühls ins Aikido-Dojo kommen? Nachdem er einen Happen gegessen hat, beginnt der Sensei einem dieser passiven Teilnehmer Hände und Arme zu massieren. Aha, das gibts also auch. Ob das auch zum Aikido gehört? Ich glaube, ich muss mich gelegentlich mal genauer über Aikido informieren. Die ganze Atmosphäre dieses Dojos, die sanfte Art und Weise, wie hier Leute aller Altersgruppen miteinander umgehen, beeindruckt mich tief.

Der Sensei fragt mich, ob ich es nicht auch einmal versuchen will. Jetzt? Hier? Ohne mich umzuziehen? Na gut, warum nicht? Sah ja nicht sonderlich schweißtreibend aus. Keiko san bedeutet mir, ich solle ihren Arm festhalten, und mit einer gekonnten Bewegung dreht sie mir plötzlich so das Handgelenk um, dass ich zu Boden gehe – ich muss, weil es deutlich wehtut, wenn ich mich diesem Hebelgriff widersetze. Katsuaki san demonstriert mir noch einige Übungen im Sitzen, die alle darauf hinauslaufen, mir kunstvoll und schmerzhaft das Handgelenk zu verdrehen, wobei Keiko san hinterher die Beweglichkeit meiner Gelenke lobt (glaube ich). Das war also mein kleiner Ausflug in die Welt des Aikido. Ob es in Deutschland wohl auch ein Dojo mit einer solchen Ausstrahlung gibt? Dann könnte ich mir glatt vorstellen, mit Aikido anzufangen.

Zum Mittagessen lädt und Keiko sans Vater in eine Sushi-Bar ein. Wir fahren mit dem Auto dorthin, Keiko san sagt ihm über Handy Bescheid und er kommt mit dem Fahrrad nach. Das beeindruckt mich; der alte Herr ist mit seinen 89 Jahren recht rüstig. Die Sushi-Bar ist so eine, wo auf einem Fließband allerlei Leckereien vorbeigefahren kommen, man sich das nimmt, was man essen möchte und anschließend nach Anzahl und Farbe der Teller abgerechnet wird Foto dazu. Obwohl ich so eine Sushi-Bar schon zu kennen glaubte, lerne ich heute wieder etwas neues: Über eine Sprechanlage geben Keiko san und Katsuaki san munter anscheinend Bestellungen auf Foto dazu. Wozu das denn, es kommt doch andauernd allerlei Leckeres vorbeigefahren? Keiko san erklärt mir, dass man auch über die Sprechanlage bestellen kann, wenn das, was man essen möchte, gerade nicht vorbeikommt. Das wird dann extra für diesen Tisch zubereitet und mit einem speziellen Untersetzer auf das Fließband gestellt, sodass die anderen Gäste erkennen können, dass es vorbestellt ist und es einem nicht wegschnappen. Da lauerte ja wieder ein Fettnäpfchen für mich; eben hätt ich fast ein Tellerchen genommen, das für einen fremden Tisch vorbestellt war, weil ich das nicht wusste. Keiko san bestellt mir wieder ein Schälchen von dem Eierglibber mit fischigen Sachen drin, dessen Namen ich schon wieder vergessen habe, als ich dies schreibe Foto dazu. Ich schieße nach dem Essen noch wahllos ein paar Fotos von all den leckeren Sachen, die da vorbeigefahren kommen Foto dazu, und schon gehts weiter zum Großvater nach Hause.

Als wir zu Hause ankommen und mir auch Keiko sans Mutter vorgestellt wird, fällt mir auf, dass sie ja gar nicht mitgekommen ist zum Sushi-Essen. Eine weitere von den vielen Kleinigkeiten, die mich tagtäglich hier so überraschen. Kimura san, der Vater von Keiko san, ist ein Biologe, der sich mit Humangenetik beschäftigt hat. Wenn ich Keiko san richtig verstanden habe, ist er Professor, aber auf seiner Visitenkarte steht nur ein Doktortitel. Wie auch immer, seine wissenschaftliche Tätigkeit hat ihn viel herumkommen lassen, und er empfängt mich in seinem Souvenir-Zimmer, das vollgestopft ist mit Mitbringseln aus aller Welt Foto dazu Foto dazu.

Bevor ich mich ausgiebig mit ihm unterhalte, muss ich mich aber erst einmal entschuldigen und mir die Toilette zeigen lassen. Ich stehe ratlos vor dem Klo. Es scheint ein einfacheres Modell zu sein als bei Keiko san zu Hause und hat nur halb so viele Knöpfe. Alle sind mit irgendwelchen Kanji beschriftet, die ich nicht kenne. Hmm, welcher mag wohl den Klodeckel aufmachen? Ich will ja jetzt nicht unbedingt die Massagefunktion oder die Hintern-abspritz-Funktion aktivieren, sondern ich muss einfach nur mal. Nach einer halben Minute fällt der Groschen endlich: Das ist ein altes Modell, wo man den Klodeckel noch manuell aufmachen muss! Ich bin inzwischen so sehr darauf konditioniert, dass das elektrisch geht, dass mir das tatsächlich so schnell nicht eingefallen ist. Die diversen Knöpfe sind wohl nur für die Klobrillenheizung (die in diesem Haushalt ziemlich warm eingestellt ist) und so.

Als ich zurückkomme, erwartet mich Kimura san schon in einem anderen Zimmer, vor seinem Goban sitzend. Wir unterhalten uns erst eine ganze Weile darüber, was ich so mache und so (weitgehend auf Englisch übrigens, er möchte gerne Englisch sprechen), und dann kommen wir auf das Thema Go zu sprechen. Wie stark ich denn spiele, wie lange denn schon und überhaupt wo und wie viel ich denn in Deutschland so Go spiele. Ich habe gelernt, dass ich mich in dieser Gegend Japans tatsächlich schon Shodan nennen darf (wenn auch vielleicht noch ein etwas schwächlicher, in Deutschland nenn ich mich 4k), was ihn veranlasst, mir die weißen Steine zu geben. Wir spielen zwei Partien Foto dazu, die er allerdings beide aufgeben muss. Bei der zweiten habe ich ein etwas schlechtes Gewissen, ihn so auflaufen zu lassen, aber leider bin ich noch nicht gut genug, meine Spielstärke so zu dosieren, dass eine angenehme Partie entsteht.

Nach den beiden Partien bittet er mich noch, ihm bei einem Computerproblem zu helfen; er kann seine E-Mail nicht mehr lesen. Das stellt sich als unerwartet schwierig heraus. Wenn ich es recht verstehe, hat er vor kurzem sein Passwort geändert, aber das neue Passwort wird vom Mailserver nicht akzeptiert. Die Sache ist recht unübersichtlich mit auf verschiedenen Zetteln notierten unterschiedlichen User-IDs, Passwörtern und Mail-Accounts, und obwohl er Thunderbird verwendet, fällt das Helfen unheimlich schwer, denn alle Menüs sind natürlich auf Japanisch und meine Kenntnisse der Schrift noch nicht allzu weit fortgeschritten. Ich hole schließlich mein Notebook, um es danebenzuhalten und in den englischen Menüs zu schauen, was sich wo versteckt. Obwohl wir eine ganze Stunde lang am Rechner herumlaborieren, kann ich leider nicht helfen; ich kriege einfach nicht raus, was es mit den verschiedenen Passwörtern und IDs auf sich hat, und mein Versuch, das auf der japanischen Website von Yahoo rauszukriegen, scheitert kläglich an meiner Unfähigkeit, Kanji zu lesen.

Irgendwann will Keiko san nach Hause und reißt uns relativ abrupt aus der Computerei; nachdem sie einige Minuten lang mit wachsender Deutlichkeit darauf hingewiesen hat, dass sie jetzt heim will, geht sie einfach zum Auto, und wir müssen Hals über Kopf nachkommen. Ich hätte mich irgendwie gerne höflicher verabschiede, weiß gar nicht recht, wie mir geschieht, raffe mein Zeug zusammen und folge dem zum Auto eilenden Katsuaki san. Kimura san kommt aber doch noch schnell mit zum Auto und sagt auf Wiedersehen ... es habe ihn sehr gefreut, mit mir Go zu spielen und er werde eifrig studieren, damit er mir im nächsten Jahr mehr entgegenzusetzen hat (ich glaube jedenfalls, das hat er gesagt; war so ein Gemisch aus Japanisch und Englisch).

Zurück zu Hause, rächt es sich, dass ich mich noch nicht mit den Hausaufgaben beschäftigt habe. Jetzt waren ganze fünf Tage Zeit, und Harald macht trotzdem wieder alles auf den letzten Drücker. Es sind deutlich mehr Hausaufgaben als sonst, natürlich, waren ja auch fünf Tage Zeit. Ich brauche ungefähr fünf Stunden dafür... kurz nach Mitternacht sinke ich erschöpft auf meinen Futon. Alles in allem aber ein sehr schöner Tag, den ich nicht missen möchte.

 

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©2005 by Harald Bögeholz