Der Wecker klingelt um 6, aber ich brauche bis 6:30, um die
Motivation zum Vokabeln Lernen aufzurbringen. Die halbe Stunde reicht
mir gerade so, um mir die neuen Wörter so halbwegs
einzuprägen. Eigentlich müsste ich noch ein Übungsblatt
mit den ganzen Passiv-Formen ausfüllen, aber die Zeit reicht
nicht mehr. Was das Japanischlernen angeht, gehe ich ziemlich auf dem
Zahnfleisch. Letztes Jahr habe ich das Tempo irgendwie besser
ausgehalten. Man wird halt nicht jünger.
Der Unterricht verläuft frustrierend wie befürchtet. In
der Theorie habe ich das mit dem Passiv kapiert, aber in der Praxis
... ach, ach! Zumal wir zum Üben natürlich nicht einfach
Vokabeln hernehmen, die wir schon kannten, sondern die neuen. Zum
Beispiel importieren und exportieren. Das sind sowieso schwierige
Wörter, weil sie sich ein bisschen ähneln und man immer
aufpassen muss, von welchem Land gerade die Rede ist. Also Japan
exportiert Autos nach Europa und Europa importiert sie von Japan. Und
wenn dann noch die Komplikation mit dem Passiv dazukommt ...
Autos werden aus Japan [nach Europa] importiert, aber werden von Japan
[nach Europa] exportiert.
Und dann sind da noch die intransitiven Verben. Die haben wir ja
erst letzte Woche gelernt, vorher waren die meisten irgendwie
transitiv. [Kleiner Exkurs für in Grammatik weniger Versierte:
Transitive Verben haben ein Akkusativobjekt, etwas, auf das sie sich
beziehen, man kann mit "wen oder was?" danach fragen. Intransitive
nicht. Ich esse (einen Apfel), transitiv. Ich friere, intransitiv (ich
friere nämlich selbst, also nichts und niemanden, kein
Akkusativobjekt).] Im Japanischen gibt es separate Verben (oder
Verbformen) für die transitive und die intransitive Bedeutung, wo
im Deutschen oft nur ein Verb genügt. Öffnen zum Beispiel.
Ich öffne die Tür, die Tür öffnet (sich). Das sind
im Japanischen zwei verschiedene Verben, wenn sie auch recht
ähnlich klingen: akeru (tr.) und akiru (itr.). Sie
werden übrigens mit demselben Kanji geschrieben, also ganz so
verschieden sind sie nicht. Leider gibt es kein allgemeines System,
nach dem sich die transitive und die intransitive Form eines Verbs
voneinander ableiten ließe, hier ist also Pauken angesagt.
Worauf ich hinaus will: Wir haben nun transitive und intransitive
Verben, und dann lauern im Hinterkopf noch die Potenzialformen davon
(die Tür kann sich öffnen). Und jetzt kommt noch der
Passiv dazu. Und all diese Formen unterscheiden sich nur in wenigen
Silben, ja, nur in einzelnen Lauten. Mein Gehirn läuft auf 120
Prozent seiner Nennleistung, und trotzdem: Wie soll man das nur
fließend verstehen oder gar sprechen?
yogoremasu – schmutzig werden, intransitiv.
yogoshimasu – schmutzig machen, transitiv.
yogosaremasu, schmutzig werden, Passiv des transitiven Verbs
schmutzig machen. Jetzt habe ich also zwei Möglichkeiten zu
sagen, dass meine Hose schmutzig wird: yogoremasu oder
yogosaremasu. Und der feine Unterschied ist anscheinend, dass
meine Hose mit der einen Verbform irgendwie von alleine oder
jedenfalls durch eine Handlung von mir schmutzig wird, während
die Passivform des transitiven Verbs ausdrückt, dass sie jemand
gegen meinen Willen oder jedenfalls ohne mein Zutun schmutzig gemacht
hat. Kawashima sensei tut ihr Bestes, mir diesen feinen Unterschied
auf Japanisch zu erklären, aber wirklich kapieren tue ich ihn
erst nach längerer Meditation. Wenn man sich die beiden Formen
als schmutzig werden und schmutzig gemacht werden vorstellt, dann ist
der Unterschied doch nicht so schwer zu begreifen.
Da am Nachmittag wieder die gefürchteten Hörübungen
anstehen, nutze ich diesmal die Mittagspause, um sie mir im Voraus in
Ruhe anzuhören und im Begleitbuch den Text mitzulesen. Ich hatte
mir ja vor kurzem die CDs ausgeliehen und auf den Rechner gezogen, und
so will ich heute wenigstens mal den Frust der Hörübungen
etwas mindern.
Der Nachmittagsunterricht beginnt mit einem kleinen Quiz (von wem
wurde das Flugzeug erfunden, wann wurde xy gebaut...), bei dem ich mit
meinem immer noch schlechten Hörverständnis zwar keinen
Blumentopf gewinne aber wenigstens das ein oder andere nette Foto
schießen kann . Immerhin: Einen Punkt
kann ich doch machen bei der Frage, wer die Röntgenstrahlen
erfunden hat. Denn X shashin kenn ich vom letzten Jahr aus dem
Krankenhaus, das heißt Röntgenbild. Und rentogen
wird der gute Mann auf Japanisch ausgesprochen.
Nach dem Unterricht freue ich mich auf eine Partie Go mit Markus.
Und auf die Feiertage. Am Anfang war ich ja etwas enttäuscht,
dass ich meine Sprachreise ausgerechnet auf die Golden Week gelegt
habe, wo drei Tage Unterricht ausfallen. Aber jetzt bin ich doch sehr
erleichtert, dass ich fünf Tage frei habe, an denen ich das
Gelernte in Ruhe wiederholen und vor allem sich setzen lassen
kann.
Markus macht wieder mal während der Partie seine
Hausaufgaben . Ob das wohl ein subtiles
Signal sein soll, dass ich zu viel nachdenke? Er hat sich jedenfalls
nie beklagt, und als Lohn fürs Nachdenken gewinne ich die Partie
– wenn auch nicht so haushoch, wie ich am Anfang dachte.
Weil heute in Japan Feiertag ist, hat Katsuaki san frei und es ist
einer der seltenen Abende, wo mal die ganze Familie gemeinsam zu Abend
isst. Der Unterhaltung beim Essen kann ich zwar wieder mal nur
bruchstückhaft folgen, aber nach dem Essen unterhalte ich mich
mal wieder ein bisschen mit meinen Gasteltern – im üblichen
Gemisch aus Japanisch und Englisch, aber besser als gar kein
Japanisch. Was ich in den nächsten Tagen so vor habe? Morgen erst
mal ausspannen. Lange schlafen, dann gemütlich ein bisschen
lernen und dann mal sehen. Donnerstag und Freitag will ich auf die
Expo, Samstag weiß ich noch nicht und Sonntag will mich Keiko
san ja ihren Elten vorstellen. So viel kann ich immerhin schon auf
Japanisch sagen; der Unterrichtsfrust beginnt sich allmählich zu
legen.
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