27.4., Hausfrauen sprechen Englisch

Ich habe mir heute den Wecker nicht früher gestellt, mir aber vorgenommen, wenn möglich vor 7 aufzuwachen, um noch ein bisschen Vokabeln zu lernen. Immerhin gelingt es mir, gegen 6:30 damit anzufangen. Bis 7 habe ich das Gefühl, die neuen Vokabeln für heute richtig gut im Griff zu haben. Wir lernen heute einen Schwung intransitive Verben; bisher hatten wir so gut wie nur transitive. Da ich mir einbilde, schon immer ein gutes Gefühl für Grammatik gehabt zu haben, freue ich mich auf einen angenehmen Schultag; heute werde ich bestimmt gut mitkommen.

Aber es kommt alles anders. Wir machen gar nicht lange rum mit all den Verben in der Form, in der ich sie gelernt habe, sondern benutzen sie fast ausschließlich in der te-Form. Ich hoffe, ich langweile meine Leser nicht mit diesen ständigen Ausflügen in die japanische Grammatik, aber ein paar Worte zur te-Form seien mir gestattet. Sie endet auf te, aber nicht immer, bei manchen Verben auch auf de. Und es gibt eine systematische Regel, wie man sie bildet; die habe ich in Kapitel 14 zu Beginn meines letztjährigen Sprachkurses gelernt. Aber verflixt und zugenäht, die Anwendung dieser Regel in Echtzeit beherrsche ich immer noch nicht. Aus tsukimasu wird tsuite, aus komimasu konde und, und, und. Worauf ich hinaus will: Es fällt mir heute morgen unheimlich schwer, die so sorgfältig auswendig gelernten Verben fast ausschließlich in ihrer te-Form zu hören und zu benutzen; ich muss andauernd nachdenken, wie die gehörte Form in die gelernte umzuwandeln ist oder umgekehrt aus der frisch gelernten die gerade benötigte generiert wird.

Außerdem erreicht der Grammatikstapel mitunter bisher unbekannte Höhen. Was ich damit meine? Ich erzählte glaube ich schon, dass es keine Modalverben gibt, sondern Begriffe wie wollen, dürfen, können und müssen über mehr oder weniger komplizierte Verbformen ausgedrückt werden. Und die scheint man fast beliebig tief schachteln beziehungsweise aneinanderhängen zu können:

  • kopii shimasu – ich mache Kopien.
  • kopii shite imasu – ich mache jetzt gerade Kopien.
  • kopii shite shimaimasu – ich mache jetzt gerade diese Kopien fertig.
  • kopii shite shimaitai desu – ich möchte jetzt diese Kopien fertigmachen.
  • kopii shite shimaitain desu – weil ich jetzt erst diese Kopien fertigmachen möchte.
Die Theorie ist mir vollkommen klar, das sind total logische Ableitungsregeln, ein Schritt nach dem anderen. Aber wenn ich mal eben jemanden frage, ob wir einen Kaffee trinken gehen, und dann sowas höre wie sumimasen [tut mir leid,] kopiishiteshimaitaindesu [aber ich will erst diese Kopien fertigmachen], dann raste ich aus oder brauche eine halbe Minute, um das Gehörte zu dekodieren. Oder umgekehrt: Wenn ich mal eben so etwas sagen will, dann muss ich vorher eine halbe Minute Schweigen irgendwie überbücken. Vielleicht mit Grimassenschneiden? Und ich bin mir sicher, dass das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht ist. Man kann bestimmt noch viel mehr grammatische Endungen in einem Satz aufeinanderstapeln – den Japanern traue ich alles zu.

Immerhin gibt es zur Auflockerung heute ein paar lustige Übungen. So muss zum Beispiel eine(r) nach dem anderen mit irgendeinem offensichtlichen Problemchen durch die Klasse laufen, und die anderen müssen ihn darauf aufmerksam machen. Entschuldigung, aber Ihre Tüte hat einen Riss Foto dazu, Sie haben da noch einen Zettel von der Reinigung hängen Foto dazu, Ihr Knopf ist offen Foto dazu ... Trotz der Auflockerung bin ich schon in der Mittagspause ziemlich kaputt; vielleicht hätte ich es wie Scott machen und ein Nickerchen halten sollen Foto dazu.

Gegen Ende des Nachmittagsunterrichts gibts nochmal lustige praktische Übungen: In der letzten Pause hat uns unsere Lehrerin unsere Taschen entwendet. Und jetzt üben wir, wie man sich am Bahnhof nach seiner im Zug vergessenen Tasche erkundigt: Wo vergessen? Was für eine Tasche? Welche Farbe? Wie groß? Was ist drin etc.; das Ganze spielt im Lehrerbüro, und ich bin wieder einmal sehr angetan davon, wie viel Mühe man sich hier gibt, den Unterricht spannend zu gestalten Foto dazu Foto dazu Foto dazu.

Trotzdem war der Tag entgegen meinem Optimismus unerwartet anstrengend, und ich bin nach fünf Stunden Unterricht fix und fertig. Zur Entspannung nehme ich heute mal an der Englisch-Konversationsrunde meiner Gastmutter teil. Das wird mir so richtig Spaß machen, einfach so auf Englisch draufloszuplappern und die Japaner schwitzen lassen anstatt umgekehrt.

In der Tat wird es ein nettes Plauderstündchen Foto dazu Foto dazu; die Damen gestehen mir, dass sie zwar eine Englisch-Konversationsrunde sind, aber meistens doch nur Japanisch sprechen. Das erinnert mich fatal an den japanischen Sprachzirkel in Hannover; da wird zwar auch ein bisschen Japanisch gesprochen, aber deutlich weniger, als man könnte. Hier reiße ich das Ruder einfach an mich und spreche frei von der Seele weg auf Englisch drauflos und nötige die Damen somit, dasselbe zu tun. Die eingeplanten anderthalb Stunden gehen fast vollständig damit drauf, dass sich jede der Anwesenden vorstellt – au Backe, hinterher weiß ich zwar noch grob, wer was erzählt hat, aber die Namen ...

Anschließend fahre ich noch mal für ein Stündchen an die Schule wegen der Internet-Verbindung, und schon ist der Nachmittag wieder rum, ohne die Hausaufgaben gemacht zu haben.

Nach dem Abendessen bleibe ich noch ein bisschen vor dem Fernseher sitzen und staune über die unglaublich blöde Fernsehshow. Genau genommen ist das nicht das erste Mal – entweder laufen im japanischen Fernsehen überwiegend dümmliche Game-Shows oder meine Gastfamilie schaut sich sowas halt besonders gerne an. Heute kommt eine Szene mit versteckter Kamera, wo man sich schon fragt, wie blöd Japaner eigentlich wirklich sind. Und zwar wurde in einem Bürogebäude gegenüber vom Aufzug der Plan mit dem Grundriss des Stockwerks um 90 Grad gedreht (also nicht einfach das bestehende Schild gedreht, sondern ein um 90 Grad gedrehtes mit korrekter Schrift hingehängt). Und dann die Japaner gefilmt, die die Toilette suchen. Und es war schon unglaublich, wie lange die dafür gebraucht haben, sich auf dem Plan zu orientieren.

Als wäre das nicht genug, handelt dann die Show bestimmt eine halbe Stunde langdavon, was man denn machen kann, wenn man vor einem Plan steht, der nicht richtigrum ist, aber sich nicht drehen lässt. Da wird doch allen Ernstes diskutiert, dass man ihn sich ja dann abmalen kann, damit man ihn drehen kann. Das darf doch nicht wahr sein! Wahrscheinlich handelt die Sendung von was ganz anderem und ich denke mit meinen rudimentären Japanischkenntnissen nur, dass es totaler Blödsinn ist. Oder doch nicht? Wann haben wir gelernt, wie man anhand des Stands der Sonne rausfindet, wo Norden ist? in der Grundschule? Hier lassen sich allen Ernstes Erwachsene erklären, wie man seine Uhr so dreht, dass die Sonne in der Mitte zwischen 12 Uhr und dem großen Zeiger steht, und dass dann bei 12 Uhr Norden ist. Fass ichs denn?

Hier klinke ich mich aus, muss noch Hausaufgaben machen ...

 

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©2005 by Harald Bögeholz