Ich habe mir heute den Wecker nicht früher gestellt, mir aber
vorgenommen, wenn möglich vor 7 aufzuwachen, um noch ein bisschen
Vokabeln zu lernen. Immerhin gelingt es mir, gegen 6:30 damit
anzufangen. Bis 7 habe ich das Gefühl, die neuen Vokabeln
für heute richtig gut im Griff zu haben. Wir lernen heute einen
Schwung intransitive Verben; bisher hatten wir so gut wie nur
transitive. Da ich mir einbilde, schon immer ein gutes Gefühl
für Grammatik gehabt zu haben, freue ich mich auf einen
angenehmen Schultag; heute werde ich bestimmt gut mitkommen.
Aber es kommt alles anders. Wir machen gar nicht lange rum mit all
den Verben in der Form, in der ich sie gelernt habe, sondern benutzen
sie fast ausschließlich in der te-Form. Ich hoffe, ich
langweile meine Leser nicht mit diesen ständigen Ausflügen
in die japanische Grammatik, aber ein paar Worte zur te-Form
seien mir gestattet. Sie endet auf te, aber nicht immer, bei
manchen Verben auch auf de. Und es gibt eine systematische
Regel, wie man sie bildet; die habe ich in Kapitel 14 zu Beginn meines
letztjährigen Sprachkurses gelernt. Aber verflixt und
zugenäht, die Anwendung dieser Regel in Echtzeit beherrsche ich
immer noch nicht. Aus tsukimasu wird tsuite, aus
komimasu konde und, und, und. Worauf ich hinaus will:
Es fällt mir heute morgen unheimlich schwer, die so
sorgfältig auswendig gelernten Verben fast ausschließlich
in ihrer te-Form zu hören und zu benutzen; ich muss
andauernd nachdenken, wie die gehörte Form in die gelernte
umzuwandeln ist oder umgekehrt aus der frisch gelernten die gerade
benötigte generiert wird.
Außerdem erreicht der Grammatikstapel mitunter bisher
unbekannte Höhen. Was ich damit meine? Ich erzählte glaube
ich schon, dass es keine Modalverben gibt, sondern Begriffe wie
wollen, dürfen, können und müssen über mehr oder
weniger komplizierte Verbformen ausgedrückt werden. Und die
scheint man fast beliebig tief schachteln beziehungsweise
aneinanderhängen zu können:
- kopii shimasu – ich mache Kopien.
- kopii shite imasu – ich mache jetzt gerade
Kopien.
- kopii shite shimaimasu – ich mache jetzt gerade diese Kopien
fertig.
- kopii shite shimaitai desu – ich möchte jetzt diese
Kopien fertigmachen.
- kopii shite shimaitain desu – weil ich jetzt erst diese
Kopien fertigmachen möchte.
Die Theorie ist mir vollkommen klar, das sind total logische
Ableitungsregeln, ein Schritt nach dem anderen. Aber wenn ich mal eben
jemanden frage, ob wir einen Kaffee trinken gehen, und dann sowas
höre wie sumimasen [tut mir leid,]
kopiishiteshimaitaindesu [aber ich will erst diese Kopien
fertigmachen], dann raste ich aus oder brauche eine halbe Minute, um
das Gehörte zu dekodieren. Oder umgekehrt: Wenn ich mal eben so
etwas sagen will, dann muss ich vorher eine halbe Minute Schweigen
irgendwie überbücken. Vielleicht mit Grimassenschneiden? Und
ich bin mir sicher, dass das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht
ist. Man kann bestimmt noch viel mehr grammatische Endungen in einem
Satz aufeinanderstapeln – den Japanern traue ich alles zu.
Immerhin gibt es zur Auflockerung heute ein paar lustige
Übungen. So muss zum Beispiel eine(r) nach dem anderen mit
irgendeinem offensichtlichen Problemchen durch die Klasse laufen, und
die anderen müssen ihn darauf aufmerksam machen. Entschuldigung,
aber Ihre Tüte hat einen Riss , Sie haben da noch einen
Zettel von der Reinigung hängen , Ihr Knopf ist
offen ... Trotz der Auflockerung
bin ich schon in der Mittagspause ziemlich kaputt; vielleicht
hätte ich es wie Scott machen und ein Nickerchen halten
sollen .
Gegen Ende des Nachmittagsunterrichts gibts nochmal lustige
praktische Übungen: In der letzten Pause hat uns unsere Lehrerin
unsere Taschen entwendet. Und jetzt üben wir, wie man sich am
Bahnhof nach seiner im Zug vergessenen Tasche erkundigt: Wo vergessen?
Was für eine Tasche? Welche Farbe? Wie groß? Was ist drin
etc.; das Ganze spielt im Lehrerbüro, und ich bin wieder einmal
sehr angetan davon, wie viel Mühe man sich hier gibt, den
Unterricht spannend zu gestalten .
Trotzdem war der Tag entgegen meinem Optimismus unerwartet
anstrengend, und ich bin nach fünf Stunden Unterricht fix und
fertig. Zur Entspannung nehme ich heute mal an der
Englisch-Konversationsrunde meiner Gastmutter teil. Das wird mir so
richtig Spaß machen, einfach so auf Englisch draufloszuplappern
und die Japaner schwitzen lassen anstatt umgekehrt.
In der Tat wird es ein nettes Plauderstündchen ; die Damen gestehen mir,
dass sie zwar eine Englisch-Konversationsrunde sind, aber meistens
doch nur Japanisch sprechen. Das erinnert mich fatal an den
japanischen Sprachzirkel in Hannover; da wird zwar auch ein bisschen
Japanisch gesprochen, aber deutlich weniger, als man könnte. Hier
reiße ich das Ruder einfach an mich und spreche frei von der
Seele weg auf Englisch drauflos und nötige die Damen somit,
dasselbe zu tun. Die eingeplanten anderthalb Stunden gehen fast
vollständig damit drauf, dass sich jede der Anwesenden vorstellt
– au Backe, hinterher weiß ich zwar noch grob, wer was
erzählt hat, aber die Namen ...
Anschließend fahre ich noch mal für ein Stündchen
an die Schule wegen der Internet-Verbindung, und schon ist der
Nachmittag wieder rum, ohne die Hausaufgaben gemacht zu haben.
Nach dem Abendessen bleibe ich noch ein bisschen vor dem Fernseher
sitzen und staune über die unglaublich blöde Fernsehshow.
Genau genommen ist das nicht das erste Mal – entweder laufen im
japanischen Fernsehen überwiegend dümmliche Game-Shows oder
meine Gastfamilie schaut sich sowas halt besonders gerne an. Heute
kommt eine Szene mit versteckter Kamera, wo man sich schon fragt, wie
blöd Japaner eigentlich wirklich sind. Und zwar wurde in einem
Bürogebäude gegenüber vom Aufzug der Plan mit dem
Grundriss des Stockwerks um 90 Grad gedreht (also nicht einfach das
bestehende Schild gedreht, sondern ein um 90 Grad gedrehtes mit
korrekter Schrift hingehängt). Und dann die Japaner gefilmt, die
die Toilette suchen. Und es war schon unglaublich, wie lange die
dafür gebraucht haben, sich auf dem Plan zu orientieren.
Als wäre das nicht genug, handelt dann die Show bestimmt eine
halbe Stunde langdavon, was man denn machen kann, wenn man vor einem
Plan steht, der nicht richtigrum ist, aber sich nicht drehen
lässt. Da wird doch allen Ernstes diskutiert, dass man ihn sich
ja dann abmalen kann, damit man ihn drehen kann. Das darf doch nicht
wahr sein! Wahrscheinlich handelt die Sendung von was ganz anderem und
ich denke mit meinen rudimentären Japanischkenntnissen nur, dass
es totaler Blödsinn ist. Oder doch nicht? Wann haben wir gelernt,
wie man anhand des Stands der Sonne rausfindet, wo Norden ist? in der
Grundschule? Hier lassen sich allen Ernstes Erwachsene erklären,
wie man seine Uhr so dreht, dass die Sonne in der Mitte zwischen 12
Uhr und dem großen Zeiger steht, und dass dann bei 12 Uhr Norden
ist. Fass ichs denn?
Hier klinke ich mich aus, muss noch Hausaufgaben machen ...
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