Der Wecker klingelt wie jeden Tag um 7 – den Running Gag
hatten wir auch schon letztes Jahr –, ich habe mit viel
Mühe dem Organizer dieses Samsung-Handys einen sich täglich
wiederholenden Termin eingegeben, und der macht auch vor einem
Wochenende nicht Halt. Macht aber nichts, mein Kopf ist noch viel zu
schwer zum Aufwachen. Um 10 weckt mich schließlich meine
Gastmutter, weil wir ja zusammen ins Museum wollen. Sie erklärt
mir, dass sie schon jetzt in die Stadt fährt und ich mit ihrem
Mann nachkomme. So bleibt Zeit, gemütlich zu duschen und das
vorbereitete Frühstück zu essen.
Katsuaki san gesellt sich zu mir an den Frühstückstich,
und ich frage ihn, was auf dem Zettel steht, den ihm seine Frau
hinterlassen hat. Ich kann nämlich die meisten Kanji nicht lesen.
Er entschuldigt sich zunächst, dass seine Frau so schlampig
schreibt und schreibt die Kanji für mich nochmal deutlicher hin.
Das nützt aber natürlich nichts, ich kann halt nur
ungefähr 100, und diese hier sind nicht darunter. Aber er
erklärt mir geduldig jedes Zeichen, was eigentlich gar nicht
nötig gewesen wäre. Hätte er einfach vorgelesen, so
hätte ich reizouko schon verstanden: Kühlschrank. Und
auch natto ist mir ein Begriff. kimuchi war in Katakana
geschrieben, das konnte ich lesen. Unterm Strich lautete des
Rätsels Lösung also: Ganz oben im Kühlschrank ist
Kimchi-Natto und Joghurt. Nimm bitte den Zug um 11:22 Uhr.
So richtig viel unterhalten wir uns nicht; irgendwie habe ich immer
noch nicht mein persönliches Eis gebrochen und traue mich nicht,
auf Japanisch einfach drauflos zu plappern. Und Katsuaki san traut sich
auch nicht; er versucht es immer auf Englisch, aber das fällt ihm
sichtlich schwer.
Um kurz nach 11 brechen wir in Richtung Bahnhof auf. Der Bahnhof
ist eher ein Bahnhöfchen , aber auch mit reichlch
Fahrrädern davor . Ich frage, wo ich denn
eigentlich eine Fahrkarte kaufen soll (in Wirklichkeit ist das auf
Japanisch total einfach: kippu wa – die Fahrkarte
betreffend ...?) und Katsuaki san erklärt mir, das wir das im
Zug machen. Aber im Zug passiert gar nichts, auch die wichtig
aussehenden uniformierten Schaffner wollen nichts von mir. Wir
müssen zweimal umsteigen auf dem Weg nach Nagoya, aber nirgendwo
will jemand was von mir. Die Züge fahren übrigens ziemlich
schnell; ich sehe zufällig auf einem Display die Geschwindigkeit:
Im Moment 108 km/h . Ich glaube, die S-Bahnen
zu Hause fahren langsamer, kann mich aber täuschen. Mir
gegenüber sitzt eine Japanerin, die auf ihrem Handy herumtippt.
Ich mache verstohlen ein (nicht besonders gutes) Foto: der
Handy-Schmuck ist in diesem Fall anscheinend fast so groß wie
das Handy .
In Nagoya habe ich das Thema Bezahlen schon ganz vergessen, als
mich Katsuaki san darauf hinweist, dass ich jetzt an einem dieser
Schalter, die auf Englisch mit "fare adjustment" beschriftet sind,
bezahlen soll. Ich frage ihn nochmal, wo wir eigentlich herkommen,
denn japanische Ortsnamen sind für mich genauso schwierig wie
japanische Familiennamen: gehört, nachgesprochen, vergessen. Dem
Mann am Schalter sage ich schließlich, dass ich in Yamanaka
eingestiegen bin, und bezahle. Schon merkwürdig; da könnte
ja jeder kommen beziehungsweise sich einen beliebigen Herkunftsort
ausdenken!
Wir nehmen die U-Bahn nach Sakae – so ein Zufall, genau da
war ich doch gerade erst gestern. Wir treffen Keiko san an einem der
Eingänge zu Mitsukoshi – das ist glaube ich eine recht
bekannte Kaufhauskette in Japan, kam sogar in einem meiner
Japanisch-Lernprogramme vor. Als erstes gehts zum Mittagessen. Auf dem
Weg dorthin lässt sich Keiko san endlich mal unverkrampft
fotografieren ; ich kann schon verstehen,
dass ihr das nicht unbedingt recht ist, wenn ich sie zu Hause in ihrer
Küchenschürze fotografiere.
Eigentlich bin ich noch gar nicht wirklich hungrig, aber jetzt
gibts halt Sushi . Sushi sind für mich
natürlich nichts Neues, aber die Tasse zu meiner Linken schon:
Wie beschreib ich das ... eine Art Suppe, weitgehend aus Ei bestehend,
aber von der Konsistenz her wie Pudding. Und warm. Und mit fischigen
Dingen und Pilzen drin – ich weiß hier in Japan nie so
genau, was ich esse, aber es ist schon überraschend, dass ich
fast alles total lecker finde. Also Eierpilzfischgetierglibber zu den
Sushi.
Nach dem Essen sagt mir Keiko san, dass mein Essen 1200 Yen
gekostet hat (ca. 8 Euro). Ich bin ein winziges Bisschen
überrascht; hatte mir schon im Kopf ein bisschen zurechtgelegt,
was ich zu dem Thema sagen wollte. Erwartet hatte ich, dass meine
Gastfamilie sich anschickt zu bezahlen, ich irgendwie höflich
versuche, selbst zu bezahlen, und dann eingeladen werde. So würde
es jedenfalls ziemlich sicher in Deutschland laufen. Aber nein: Ich
bin ganz klar nicht eingeladen. Was mich nicht im Geringsten
stört – natürlich kann ich mein Essen selbst bezahlen,
und es wäre mir auf die Dauer auch sicher peinlich, wenn ich
andauernd eingeladen würde. Aber ein winziges Bisschen kühl
finde ich die Atmosphäre dadurch schon. Wer weiß,
vielleicht war ich auch zu aufdringlich und hätte mich von
vornherein gar nicht zu diesem Museumsbesuch mit einladen sollen.
Als nächsten Programmpunkt hat Keiko san Strickunterricht, und
ihr Mann muss mit mir eine Stunde Zeit totschlagen. Was ich denn gerne
unternehmen möchte? Was weiß ich, was man in Nagoya
unternimmt! Nun war ich gestern ausgerechnet genau in dieser Gegend,
insofern fällt mir erst recht nichts ein. Also sage ich, dass ich
gerne ein bisschen einkaufen gehen möchte – brauche ein
original japanisches Mitbringsel (omiyage) für einen
Zwölfjährigen (oder wie alt ist der doch inzwischen
gleich?). Was ich denn da kaufen will? Keine Ahnung, ich habe doch
auch noch keine Idee. Das löst eine hektische Diskussion zwischen
den beiden aus; ich werfe ein, dass vielleicht irgendwas
elektronisches ganz cool wäre, eine Japanisch sprechende Uhr oder
sowas. Schließlich verabschiedet sich Keiko san, und Katsuaki san
zieht mit mir los.
Das Wort Uhr zu erwähnen, war keine gute Idee; Katsuaki san
schleppt mich mehrere Uhrenläden, aber an eine Armbanduhr hatte
ich nun wirklich nicht gedacht. Egal, die Stunde Shopping geht
kurzweilig vorbei, wenn ich auch noch nicht das passende Mitbringsel
gefunden habe.
Der Haupt-Programmpunkt des Tages ist eine Sonderausstellung
über Natur in der japanischen Kunst anlässlich der Expo.
Apropos Expo: Eigentlich hätte ich dieses Wochenende hingehen
wollen, aber die Japaner haben sich immer noch nicht wegen der
Akkreditierung gemeldet. Dann geh ich halt nächstes Wochenende,
dacht ich mir, aber ich fürchte, das klappt bestimmt sowieso
nicht. Ist ja auch ein abenteuerliches Verfahren, eine Diskette mit
einem Passfoto per Schneckenpost nach Japan zu schicken!
Mit der Kunstausstellung kann ich leider recht wenig anfangen.
Kunst im Allgemeinen sagt mir schon nicht so besonders viel, und
für diese uralten japanischen Gemälde, auf denen die Farben
so dunkel und verblasst sind, dass man kaum etwas erkennen kann, fehlt
es mir leider doch etwas an Sachverstand. Es sind jedenfalls wohl
alles besonders ausgewählte Kunstschätze, die
anlässlich der Expo aus allen möglichen Museen Japans
hierher gebracht wurden, und ich gebe mir redlich Mühe, das
irgendwie zu schätzen.
Zwei Stunden später bin ich total erledigt. Meine
Füße tun mir vom gestrigen Ausflug noch weh. Keiko san
nimmt mir das Wort aus dem Mund, als sie sagt, dass sie jetzt
müde ist und allmählich nach Hause gehen möchte. Meine
neugierigen Blicke auf das Glasdach vor der Kunstgalerie, auf dem
augenscheinlich Wasser steht, bleiben jedoch nicht unbemerkt , und so fahren wir noch
schnell mit dem Aufzug rauf, um dieses "Wasser-Raumschiff" zu
besichtigen .
Von dort kann man auch nochmal schön die Kunstgalerie als
Ganzes sehen , und der Blick durch das mit Wasser
überflutete Glasdach ergibt ein paar nette Bilder .
Auf dem Weg zur U-Bahn-Station erkläre ich den beiden, dass
ich gerne mit dem Zug zum Bahnhof Okazaki fahren möchte, um von
der Schule mein Fahrrad abzuholen und damit nach Hause zu fahren. So
trennen sich dann am Bahnhof unsere Wege, und ich beschließe,
noch einmal schnell einen Abstecher zu bikku kamera zu machen,
einem großen Elektronik-Kaufhaus neben dem Bahnhof. Nach einem
Rundgang durch die Spielwarenabteilung habe ich immer noch keine
rechte Idee für ein Mitbringsel für Willem; mir fehlt aber
auch heute die rechte Ruhe. Sind ja auch noch ein paar Tage Zeit.
Als ich an der Computerabteilung vorbeikomme, springt mir ein
Riesendisplay von Apple ins Auge. Bestimmt hatten wir das schon in der
Redaktion, aber ich sehe es heute zum ersten Mal . Unglaubliche 2560 ×
1600 Pixel für schlappe 2500 Euro – da könnte man
glatt schwach werden. Jetzt zieht es mich aber doch erst einmal nach
Hause.
Inzwischen habe ich schon etwas Übung in der Benutzung
japanischer Bahnhöfe und Züge, sodas ich fehlerfrei meine
Fahrkarte kaufe. Die Navigation zum richtigen Bahnsteig klappt
allerdings erst beim zweiten Versuch: Ich könnte schwören,
dass ich auf dem Fahrplan gelesen habe, dass um 17:22 von Gleis 3 ein
Zug nach Okazaki fährt, aber als ich vorsichtshalber dort einen
Uniformierten frage, ob dieser Zug in Okazaki hält, schickt er
mich rüber zu Gleis 1/2. Na ja, immerhin kann ich auf Japanisch
fragen. Eigentlich sollte ich die Kanji für Okazaki
allmählich mal wiedererkennen, aber so ganz sicher bin ich mir
halt immer noch nicht.
An Gleis 2 stehen schon ordentliche Schlangen von Japanern zum
Einsteigen bereit, und ich reihe mich in eine davon ein . Die Züge halten hier
fast zentimetergenau, und überall, wo später eine Tür
sein wird, hängt eine Anzeigetafel mit dem Ziel des Zuges, sodass
man weiß, wo man eine Schlange bilden muss . Wie erwartet, bekomme ich
keinen Sitzplatz mehr und kann mich erst kurz vor Okazaki hinsetzen.
Immerhin ist dies ein ziemlich schneller Zug, der vor Okazaki nur
dreimal hält und in 27 Minuten dort ist.
Auf dem Weg vom Bahnhof zur Schule schlage ich heute mal wieder den
Weg ein, der am Porno-Kino vobeiführt , und nehme belustigt zur
Kenntnis, dass Porno auf Japanisch auch poruno heißt
– ich glaube, als ich letztes Jahr hier vorbeikam, konnte ich
noch keine Katakana lesen.
Das Abendessen hält heute wieder eine kleine Überraschung
für mich parat: Keiko san erklärt mir, dass jetzt Wochenende
sei und ich gelegentlich mein Zimmer saubermachen müsse. Chihiro
müsse das auch jedes Wochenende tun, und ich solle einfach, wenn
ich Zeit habe, den Staubsauger benutzen. Ok, klar kann ich das machen.
Es überrascht mich zwar, das so direkt gesagt zu bekommen, aber
besser so als wenn man etwas von mir erwartet, es mir nicht mitteilt
und ich dann später zu hören bekomme, dass ich mich nicht
anständig benommen habe. Schon lustig, man merkt sehr genau, wer
die Herrin im Hause ist. Was den Haushalt betrifft, so kommandiert sie
gelegentlich die ganze Familie, warum sollte ich da also eine Ausnahme
sein?
Heute abend habe ich aber keine Lust mehr, bis morgen wird das
schon warten können. Schon vor dem Abendessen habe ich mit der
Bildbearbeitung angefangen, bin doch arg im Rückstand durch die
vielen Fotos von gestern und heute – vom Tagebuch ganz zu
schweigen. Noch ein weiteres Stündchen Arbeit, und alle Bilder
sind "entwickelt". Ich gehe mit meinem Notebok in die Wohnküche
und zeige meiner Familie die Fotos; bin mir allerdings nicht wirklich
sicher, ob sie sie sehr interessieren. Wirkliches Interesse erzeugt
nur das Foto vom gestrigen Abendessen , und helle Aufregung gar
das von den in der Vitrine ausgestellten Plastikgerichten . Das sieht ja so lecker
aus und ist ja so billig, wo denn das gewesen sei? Lustigerweise
fragen sie mich das nicht (ich könnte es eh nicht erklären),
sondern unterhalten sich minutenlang aufgeregt darüber, wo denn
das wohl sein könne (glaube ich). Essen scheint für Japaner
sehr wichtig zu sein (nicht wahr, Hiko?).
Immerhin kommt durch die Foto-Session wieder eine kleine
Unterhaltung in Gang, und ich erzähle noch einmal, dass ich ja
täglich Tagebuch schreibe und meine Fotos ins Internet stelle
(verflixt, dieses doofe Verb will schon seit Tagen nicht in meinem
Gedächtnis haften bleiben, ich schreibs jetzt einfach nochmal
hier hin: noseru). Das ist natürlich eine prima
Überleitung zu der Frage, ob ich denn hier eigentlich auch mal das
Internet benutzen kann. Schließlich war ich jetzt fast zwei Tage
offline; bin Freitag irgendwie zu gar nichts gekommen.
Hmm, das Internet benutzen, schwierig ... irgendwie unterhalten wir
uns minutenlang über die Frage, ob und wie das denn gehen
könnte, ohne so recht weiterzukommen. Der Hausherr erzählt
immer wieder was von ISP – so weit klar, natürlich braucht
man einen Provider. Dann fragt er irgendwas mit Telefon, nein, an die
Benutzung eines Modems hatte ich nicht ernsthaft gedacht, wo es doch
im Haushalt anscheinend einen DSL-Anschluss gibt. Als wir so gar nicht
weiterkommen, versucht er seinen Sohn anzurufen, der in diesem Haushalt der
Computerexperte ist (woher kenn ich das nur?), aber der ist gerade
nicht da. Das ist mein Einsatz: Ich verstehe ja auch ein bisschen was
von Computern, ob ich wohl den Computer von Chihiro mal sehen darf? Na
klar, kein Problem.
Katsuaki san poltert ohne anzuklopfen in Chihiros Zimmer rein,
murmelt etwas in seinen nicht vorhandenen Bart und zeigt mir den
Computer, während Chihiro unbeeindruckt weiter an ihrem
Schreibtisch sitzt und in ihr Buch starrt. Das finde ich nun auch
etwas befremdlich: Mir ist die Tage schon einmal in einem
Gespräch mit der Mutter aufgefallen, dass ein 17-jähriges
Mädchen hier wohl als kleines Kind gilt, das man anscheinend
nicht richtig für voll nimmt. Ich glaube, als ich 17 war, haben
meine Eltern an meinem Zimmer schon angeklopft und mir etwas mehr
Privatsphäre zugestanden. Und dass es sie so gar nicht zu
interessieren scheint, was wir da in der einen Ecke ihres Zimmers am
Computer treiben, nehme ich ihr auch nicht so richtig ab.
Ich erkenne jedenfalls mit fachmännischem Blick das
Ethernet-Kabel, das vom DSL-Modem im Nachbarzimmer zu diesem Computer
führt und frage, ob ich es einfach mal in mein Notebook stecken
darf. Und zack, so leicht geht das, ich bin drin. Das Ganze findet im
Stehen statt: Ich habe mein Notebook auf den Flügel gestellt, und
Katsuaki san schaut mit auf meinen Bildschirm, während ich schnell
meine E-Mail überfliege und in einem zweiten Fenster die
Bildgalerien rsynce. Immerhin habe ich eine Mail von einer mir bisher
unbekannten Leserin meines Tagebuchs bekommen, ansonsten nur Spam und
etliche weitere Leserbriefe zu ATASecurity. Aber mit Katsuaki san im
Nacken macht das Mail Lesen keinen Spaß, geschweige dann, dass
ich die Muße zu einer Antwort hätte, und so bedanke ich
mich unmittelbar nach Upload meiner Foto-Galerie artig und stecke das
Netzwerkkabel wieder in Chihiros (?) PC. Noch nicht einmal die
Tagebuchseiten der letzten drei Tage habe ich fertig, was sollen meine
Leser nur denken?
| |
|