15.4., Der erste Schultag

Heute gehts zur Sache. Zwar ist der erste Schultag natürlich nicht ganz so aufregend wie im letzten Jahr, aber ich bin schon sehr gespannt, wie meine Klasse sein wird. An jedem Klassenzimmer hängt eine Namensliste, und ich bange, dass ich nicht auf einer der langen Listen mit 10 Schülern oder mehr stehe. Aber wie im letzten Jahr habe ich Glück: Wir sind zu fünft in meiner Klasse. Das verspricht wieder einen sehr intensiven Unterricht, so habe ich mir das vorgestellt.

Neben mir nimmt eine alte Bekannte Platz: Svetlana aus Russland ging letztes Jahr in meine Parallelklasse. Schon ein komischer Zufall, dass sie gleichzeitig mit mir wieder zu Yamasa kommt. Dann sind da noch (von rechts nach links Foto dazu) Eva aus Spanien und Malcolm und Laura aus Kanada.

Meine Klassenlehrerin stellt sich als Kawashima vor. Ich nehme mir fest vor, mir das zu merken; es ist immer peinlich, wenn man die Namen der Lehrer nicht kennt. Aber wie immer habe ich ein großes Problem damit. Es ist furchtbar mit den japanischen Namen, jemand stellt sich mir vor, und nach einer Minute habe ich den Namen schon wieder vergessen. Während der ersten Stunde schaue ich immer wieder verstohlen in mein Notizbuch, wo ich mir den Namen aufgeschrieben habe ... Kawashima, vier Silben, das kann doch wirklich nicht so schwer sein. Als mein Blick irgendwann auf ihren Ausweis fällt, den sie wie alle Yamasa-Angestellten umhängen hat, geht mir auf einmal ein Kronleuchter auf – endlich bin ich hinter den Trick gekommen, wie man sich japanische Namen merkt. Man glaubt es kaum, man muss sich einfach nur die Kanji anschauen! Kawashima, Fluss-Insel, natürlich! Seit ich den Namen einmal mit Kanji gesehen habe, ist es überhaupt kein Problem mehr, denn mit Fluss-Insel habe ich sofort zwei Bilder vor Augen, die ich abspeichern kann. Der Trick funktioniert allerdings wahrscheinlich nur dann wirklich zuverlässig, wenn man ein paar Tausend Kanji kann; ich hatte heute mit Kawashima einfach Glück.

Meine Beführchtung, ich könnte mich in den ersten Stunden langweilen, schlägt schnell ins Gegenteil um. Wie immer wird im Unterricht nur japanisch gesprochen und geschrieben, und ich merke, dass ich ganz schön aus der Übung bin. Die Lehrerin spricht nicht gerade langsam, und ich kann nicht wirklich sagen, dass ich 100% verstehe. In den ersten Übungen, die sie uns vorlegt, fehlen mir gleich etliche Vokabeln (und das, obwohl ich doch das Lehrbuch in den letzten Monaten ziemlich gründlich noch einmal durchgearbeitet habe!), und dann kommen Dialogübungen, die genau mit meiner größten Schwäche beginnen, der informellen Form. Von Langeweile kann also überhaupt keine Rede sein, eher von Frust. Hinzu kommt, dass ich ausgerechnet neben Svetlana sitze, die zwar ganz nett sein mag, aber sehr schnell und für mein Ohr ziemlich undeutlich spricht. So quälen wir uns dann durch die erste Dialogübung, ohne dass wirkliche Freude aufkommt.

Und wie im letzten Jahr hapert es mit dem schnellen Lesen. Wenn ich einen Zettel in die Hand gedrückt bekomme, der signifikante Textmengen zum Lesen enthält, dann raste ich fast aus. Wie kommt es nur, dass alle anderen so viel schneller lesen können als ich? Bei mir muss man das immer noch als Entziffern bezeichnen, von fließendem Lesen kann nicht wirklich die Rede sein. Aber da muss ich jetzt durch. Wenn ich mir klar mache, dass Malcolm zum Beispiel schon seit anderthalb Jahren in Japan lebt, dann ist es eigentlich nicht wirklich überraschend, dass er gesprochenes Japanisch besser versteht als ich und auch etwas fließender lesen kann. Genau, ich muss das positiv sehen: Er lebt schon seit anderthalb Jahrn hier und ich habe es geschafft, in die gleiche Klasse zu gehen wie er. ganbatte!

Es ist schon gut überlegt von den Yamasa-Leuten, dass sie die Schule an einem Donnerstag mit der Orientierungsveranstaltung anfangen lassen und der erste Schultag dann ein Freitag ist, wo es nur vormittags drei Stunden Unterricht gibt und dann erst einmal ein Wochenende zum Erholen kommt. So lässt sich der Einstieg besser aushalten. Damit keine Langeweile aufkommt, gibt es reichlich Hausaufgaben. Puh, die werden mich Stunden beschäftigen, insbesondere soll ich eine ganze Seite im Freistil vollschreiben, ein Tagebuch. Na, mal abwarten, was am Wochenende so passiert. Tagebuch schreibe ich ja sowieso jeden Tag, da muss ich "nur" noch eine japanische Auskopplung davon machen.

Im Aufenthaltsraum treffe ich Alexander Foto dazu und Toni aus der Anfängerklasse. Alexander will heute Nachmittag mit seinem Zimmergenossen das Schloss von Okazaki anschauen gehen. Prima, da schließe ich mich gleich an, zumal Toni darauf hinweist, dass heute der letzte Tag des dort stattfindenden Kirschblütenfests ist. Alexander hat aber noch eine Stunde Unterricht; er hat "accelleration" gebucht, noch nocheres Japanischlernen mit jeden Tag einer Stunde zusätzlichem Einzelunterricht. Ich werde mit Spannung beobachten, wie schnell er Japanisch lernt; er ist komplett ohne Vorkenntnisse hierher gekommen. Wahrscheinlich hat er mit seinen 18 Jahren mich in vier Wochen überholt ...

Nach seiner Unterrichtsstunde kann Alexander unter anderem schon bis 10 zählen, nicht schlecht. Wir radeln zum Studentenwohnheim, um Scott abzuholen. Vor dem Wohnheim ist eine Baustelle; baut Yamasa da etwa noch ein weiteres Wohnheim hin? Scott hat noch kein Fahrrad. Wir laufen daher zunächst gemeinsam zu demselben Fahrradladen, bei dem ich auch letztes Jahr mein Fahrrad gemietet habe. Scott bekommt ohne Probleme ein Rad und bezahlt nur 2000 Yen für einen Monat. Ich wusste ja schon, dass es in diesem Laden nach Nasenfaktor geht; mir hat die Chefin letztes Jahr 3000 Yen abgeknöpft.

Als ich auf dem Weg zum Schloss anhalte, um meine Kamera auszupacken, stellt Alexander fest, dass er seine vergessen hat und bittet mich, ob ich nicht ein paar Fotos von ihm machen kann. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen Foto dazu; wie praktisch, dass ich das nicht verstohlen und heimlich machen muss. Rund um das Schloss von Okazaki ist Kirschblütenfest: Lauter kleine Stände mit allerlei Köstlichkeiten, das ganze unter einem wahren Blütenregen Foto dazu.

Das Schloss von Okazaki ist die Geburtsstätte von Tokugawa Ieyasu (der irgendwie eine sehr wichtige Rolle in der japanischen Geschichte spielt, die leider gerade wieder mal meinem blinden Fleck für Geschichte zum Opfer gefallen ist), dies hier Foto dazu ist glaube ich der Brunnen, in dem er zum ersten Mal gebadet wurde oder so. An einer der Gedenkstätten finde ich endlich das richtige Licht und den richtigen Hintergrund für ein schönes Japan-Porträt von Alexander Foto dazu, wobei er sich ein bisschen ziert, bis er endlich an der richtigen Stelle steht und unverkrampft in die richtige Richtung schaut. Er revanchiert sich, indem er auch Fotos von mir macht, wobei er die von mir beabsichtigte Bildkomposition allerdings nicht aufgreift Foto dazu Foto dazu.

Im Inneren des Schlosses sind historische Rüstungen, Schwerter, Feuerwaffen und so weiter ausgestellt; ich verzichte auf Fotos, weil die erfahrungsgemäß ohnehin schlecht rauskommen und/oder langweilig aussehen. Ganz oben, vom vierten Stock aus, hat man einen schönen Rundumblick auf Okazaki – auch nichts besonders Sehenswertes dabei außer vielleicht das Teehaus neben dem Schloss Foto dazu.

Wieder unten, kaufen Scott und Alexander sich an einem der Stände jeweils einen Tintenfisch-Tentakel mit Teriyaki-Soße Foto dazu, wobei das Alexander dann doch nicht so richtig gut zu schmecken scheint Foto dazu. Der Nachmittag vergeht wie im Fluge, während wir so an den Sänden entlangschlendern und mal hier eine Kleinigkeit essen, mal da etwas trinken. Kurz vor Sonnenuntergang machen wir uns auf den Rückweg; den Abend wollen wir in der Campus-Bar ausklingen lassen. Schließlich hat die nur Donnerstagabends und Freitagabends geöffnet.

Außerdem ist heute insofern ein besonderer Tag, als ich bis Mitternacht Ausgang habe. Gestern musste ich ja früh weg, weil es um 8 Abendessen gab. Da habe ich noch mit Declan darüber geredet, wie ich es wohl höflich anstellen kann, mich einmal zum Abendessen auszuladen, um mit den netten Leuten, die ich hier kennengelernt habe, in der Bar ein bisschen zu feiern. Declan meinte, ich solle meiner Gastgeberin sagen, dass es am ersten Freitag eine Party für die neuen Schüler gebe und ich daran fast zwingend teilnehmen müsse. Ja, gute Idee, so werde ich es machen, dachte ich mir gestern, hatte mir im Kopf schon einige Sätze zurechtgelegt und wollte das Thema nach dem Essen zur Sprache bringen. Aber Keiko san ist mir zuvorgekommen: Sie fragte mich, ob denn am Freitagabend nicht eine Party für die neuen Studenten sei und ob ich da hingehen wolle? Sie hatte schon einmal einen Yamasa-Studenten bei sich wohnen, also offensichtlich schon Erfahrung mit dieser Geschichte. Es stellte sich heraus, dass sie mit ihrer Tochter heute Abend weggehen und sowieso kein Abendessen kochen wollte. So kanns kommen, alle Beteiligten tun einfach das, was sie sowieso vorhatten.

So wurde es dann ein lustiger Abend mit Alexander und Scott Foto dazu, Toni Foto dazu und etlichen anderen. Scott ist übrigens 29 Jahre alt und arbeitet als Software Engineer bei Adobe. Adobe bezahlt ihm den Sprachkurs und den Flug, er muss aber dafür Urlaub nehmen. Feine Firma das. Nachdem ich ganz kurz in Versuchung gerate, mit Scott darüber zu reden, ob es sich für eine Anwendungssoftware gehört, im absoluten Sektor 17 der Festplatte herumzuschreiben, kriege ich doch noch die Kurve und wir blenden das Thema Arbeit erfolgreich aus.

Gegen 23 Uhr zeige ich Declan noch, wie man ein Hefeweizen formvollendet einschenkt Foto dazu (es ist wichtig, dass die Hefe mit ins Glas kommt). Ich hatte ihm als Dankeschön für sein Engagement im letzten Jahr einen Geschenkkarton Erdinger mit zwei Gläsern und zwei Flaschen mitgebracht. Außerdem hat er so schön geübt, wie man "ein Weizen bitte" sagt, das kriegt er schon fast akzentfrei hin.

Tja, und jetzt muss ich leider schon nach Hause. Aber das ist auch besser so, ich habe genug Bier getrunken. Auf dem Heimweg halte ich mich schön auf der linken Straßenseite, komme wohlbehalten zu Hause an und falle mehr oder weniger sofort in mein Bett, ohne wie angeboten erst noch ein Bad zu nehmen.

 

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©2005 by Harald Bögeholz