Heute gehts zur Sache. Zwar ist der erste Schultag natürlich
nicht ganz so aufregend wie im letzten Jahr, aber ich bin schon sehr
gespannt, wie meine Klasse sein wird. An jedem Klassenzimmer
hängt eine Namensliste, und ich bange, dass ich nicht auf einer
der langen Listen mit 10 Schülern oder mehr stehe. Aber wie im
letzten Jahr habe ich Glück: Wir sind zu fünft in meiner
Klasse. Das verspricht wieder einen sehr intensiven Unterricht, so
habe ich mir das vorgestellt.
Neben mir nimmt eine alte Bekannte Platz: Svetlana aus Russland
ging letztes Jahr in meine Parallelklasse. Schon ein komischer Zufall,
dass sie gleichzeitig mit mir wieder zu Yamasa kommt. Dann sind da
noch (von rechts nach links ) Eva aus Spanien und
Malcolm und Laura aus Kanada.
Meine Klassenlehrerin stellt sich als Kawashima vor. Ich nehme mir
fest vor, mir das zu merken; es ist immer peinlich, wenn man die Namen
der Lehrer nicht kennt. Aber wie immer habe ich ein großes
Problem damit. Es ist furchtbar mit den japanischen Namen, jemand
stellt sich mir vor, und nach einer Minute habe ich den Namen schon
wieder vergessen. Während der ersten Stunde schaue ich immer
wieder verstohlen in mein Notizbuch, wo ich mir den Namen
aufgeschrieben habe ... Kawashima, vier Silben, das kann doch wirklich
nicht so schwer sein. Als mein Blick irgendwann auf ihren Ausweis
fällt, den sie wie alle Yamasa-Angestellten umhängen hat,
geht mir auf einmal ein Kronleuchter auf – endlich bin ich
hinter den Trick gekommen, wie man sich japanische Namen merkt. Man
glaubt es kaum, man muss sich einfach nur die Kanji anschauen!
Kawashima, Fluss-Insel, natürlich! Seit ich den Namen einmal mit
Kanji gesehen habe, ist es überhaupt kein Problem mehr, denn mit
Fluss-Insel habe ich sofort zwei Bilder vor Augen, die ich abspeichern
kann. Der Trick funktioniert allerdings wahrscheinlich nur dann
wirklich zuverlässig, wenn man ein paar Tausend Kanji kann; ich
hatte heute mit Kawashima einfach Glück.
Meine Beführchtung, ich könnte mich in den ersten Stunden
langweilen, schlägt schnell ins Gegenteil um. Wie immer wird im
Unterricht nur japanisch gesprochen und geschrieben, und ich merke,
dass ich ganz schön aus der Übung bin. Die Lehrerin spricht
nicht gerade langsam, und ich kann nicht wirklich sagen, dass ich 100%
verstehe. In den ersten Übungen, die sie uns vorlegt, fehlen mir
gleich etliche Vokabeln (und das, obwohl ich doch das Lehrbuch in den
letzten Monaten ziemlich gründlich noch einmal durchgearbeitet
habe!), und dann kommen Dialogübungen, die genau mit meiner
größten Schwäche beginnen, der informellen Form. Von
Langeweile kann also überhaupt keine Rede sein, eher von Frust.
Hinzu kommt, dass ich ausgerechnet neben Svetlana sitze, die zwar ganz
nett sein mag, aber sehr schnell und für mein Ohr ziemlich
undeutlich spricht. So quälen wir uns dann durch die erste
Dialogübung, ohne dass wirkliche Freude aufkommt.
Und wie im letzten Jahr hapert es mit dem schnellen Lesen. Wenn ich
einen Zettel in die Hand gedrückt bekomme, der signifikante
Textmengen zum Lesen enthält, dann raste ich fast aus. Wie kommt
es nur, dass alle anderen so viel schneller lesen können als ich?
Bei mir muss man das immer noch als Entziffern bezeichnen, von
fließendem Lesen kann nicht wirklich die Rede sein. Aber da muss
ich jetzt durch. Wenn ich mir klar mache, dass Malcolm zum Beispiel
schon seit anderthalb Jahren in Japan lebt, dann ist es eigentlich
nicht wirklich überraschend, dass er gesprochenes Japanisch
besser versteht als ich und auch etwas fließender lesen kann.
Genau, ich muss das positiv sehen: Er lebt schon seit anderthalb Jahrn
hier und ich habe es geschafft, in die gleiche Klasse zu gehen wie er.
ganbatte!
Es ist schon gut überlegt von den Yamasa-Leuten, dass sie die
Schule an einem Donnerstag mit der Orientierungsveranstaltung anfangen
lassen und der erste Schultag dann ein Freitag ist, wo es nur
vormittags drei Stunden Unterricht gibt und dann erst einmal ein
Wochenende zum Erholen kommt. So lässt sich der Einstieg besser
aushalten. Damit keine Langeweile aufkommt, gibt es reichlich
Hausaufgaben. Puh, die werden mich Stunden beschäftigen,
insbesondere soll ich eine ganze Seite im Freistil vollschreiben, ein
Tagebuch. Na, mal abwarten, was am Wochenende so passiert. Tagebuch
schreibe ich ja sowieso jeden Tag, da muss ich "nur" noch eine
japanische Auskopplung davon machen.
Im Aufenthaltsraum treffe ich Alexander und Toni aus der
Anfängerklasse. Alexander will heute Nachmittag mit seinem
Zimmergenossen das Schloss von Okazaki anschauen gehen. Prima, da
schließe ich mich gleich an, zumal Toni darauf hinweist, dass
heute der letzte Tag des dort stattfindenden Kirschblütenfests
ist. Alexander hat aber noch eine Stunde Unterricht; er hat
"accelleration" gebucht, noch nocheres Japanischlernen mit jeden Tag
einer Stunde zusätzlichem Einzelunterricht. Ich werde mit
Spannung beobachten, wie schnell er Japanisch lernt; er ist komplett
ohne Vorkenntnisse hierher gekommen. Wahrscheinlich hat er mit seinen
18 Jahren mich in vier Wochen überholt ...
Nach seiner Unterrichtsstunde kann Alexander unter anderem schon bis 10
zählen, nicht schlecht. Wir radeln zum Studentenwohnheim, um
Scott abzuholen. Vor dem Wohnheim ist eine Baustelle; baut Yamasa da
etwa noch ein weiteres Wohnheim hin? Scott hat noch kein Fahrrad. Wir
laufen daher zunächst gemeinsam zu demselben Fahrradladen, bei
dem ich auch letztes Jahr mein Fahrrad gemietet habe. Scott bekommt
ohne Probleme ein Rad und bezahlt nur 2000 Yen für einen Monat.
Ich wusste ja schon, dass es in diesem Laden nach Nasenfaktor geht;
mir hat die Chefin letztes Jahr 3000 Yen abgeknöpft.
Als ich auf dem Weg zum Schloss anhalte, um meine Kamera
auszupacken, stellt Alexander fest, dass er seine vergessen hat und
bittet mich, ob ich nicht ein paar Fotos von ihm machen kann. Das
lasse ich mir nicht zweimal sagen ; wie praktisch, dass ich
das nicht verstohlen und heimlich machen muss. Rund um das Schloss von
Okazaki ist Kirschblütenfest: Lauter kleine Stände mit
allerlei Köstlichkeiten, das ganze unter einem wahren
Blütenregen .
Das Schloss von Okazaki ist die Geburtsstätte von Tokugawa
Ieyasu (der irgendwie eine sehr wichtige Rolle in der japanischen
Geschichte spielt, die leider gerade wieder mal meinem blinden Fleck
für Geschichte zum Opfer gefallen ist), dies hier ist glaube ich der
Brunnen, in dem er zum ersten Mal gebadet wurde oder so. An einer der
Gedenkstätten finde ich endlich das richtige Licht und den
richtigen Hintergrund für ein schönes Japan-Porträt von
Alexander , wobei er sich ein
bisschen ziert, bis er endlich an der richtigen Stelle steht und
unverkrampft in die richtige Richtung schaut. Er revanchiert sich,
indem er auch Fotos von mir macht, wobei er die von mir beabsichtigte
Bildkomposition allerdings nicht aufgreift .
Im Inneren des Schlosses sind historische Rüstungen,
Schwerter, Feuerwaffen und so weiter ausgestellt; ich verzichte auf
Fotos, weil die erfahrungsgemäß ohnehin schlecht rauskommen
und/oder langweilig aussehen. Ganz oben, vom vierten Stock aus, hat
man einen schönen Rundumblick auf Okazaki – auch nichts
besonders Sehenswertes dabei außer vielleicht das Teehaus neben
dem Schloss .
Wieder unten, kaufen Scott und Alexander sich an einem der
Stände jeweils einen Tintenfisch-Tentakel mit
Teriyaki-Soße , wobei das Alexander dann
doch nicht so richtig gut zu schmecken scheint . Der Nachmittag vergeht
wie im Fluge, während wir so an den Sänden entlangschlendern
und mal hier eine Kleinigkeit essen, mal da etwas trinken. Kurz vor
Sonnenuntergang machen wir uns auf den Rückweg; den Abend wollen
wir in der Campus-Bar ausklingen lassen. Schließlich hat die nur
Donnerstagabends und Freitagabends geöffnet.
Außerdem ist heute insofern ein besonderer Tag, als ich bis
Mitternacht Ausgang habe. Gestern musste ich ja früh weg, weil es
um 8 Abendessen gab. Da habe ich noch mit Declan darüber geredet,
wie ich es wohl höflich anstellen kann, mich einmal zum
Abendessen auszuladen, um mit den netten Leuten, die ich hier
kennengelernt habe, in der Bar ein bisschen zu feiern. Declan meinte,
ich solle meiner Gastgeberin sagen, dass es am ersten Freitag eine
Party für die neuen Schüler gebe und ich daran fast zwingend
teilnehmen müsse. Ja, gute Idee, so werde ich es machen, dachte
ich mir gestern, hatte mir im Kopf schon einige Sätze
zurechtgelegt und wollte das Thema nach dem Essen zur Sprache bringen.
Aber Keiko san ist mir zuvorgekommen: Sie fragte mich, ob denn am
Freitagabend nicht eine Party für die neuen Studenten sei und ob
ich da hingehen wolle? Sie hatte schon einmal einen Yamasa-Studenten
bei sich wohnen, also offensichtlich schon Erfahrung mit dieser
Geschichte. Es stellte sich heraus, dass sie mit ihrer Tochter heute
Abend weggehen und sowieso kein Abendessen kochen wollte. So kanns
kommen, alle Beteiligten tun einfach das, was sie sowieso
vorhatten.
So wurde es dann ein lustiger Abend mit Alexander und Scott , Toni und etlichen anderen.
Scott ist übrigens 29 Jahre alt und arbeitet als Software
Engineer bei Adobe. Adobe bezahlt ihm den Sprachkurs und den Flug, er
muss aber dafür Urlaub nehmen. Feine Firma das. Nachdem ich ganz
kurz in Versuchung gerate, mit Scott darüber zu reden, ob es sich
für eine Anwendungssoftware gehört, im absoluten Sektor 17
der Festplatte herumzuschreiben, kriege ich doch noch die Kurve und
wir blenden das Thema Arbeit erfolgreich aus.
Gegen 23 Uhr zeige ich Declan noch, wie man ein Hefeweizen
formvollendet einschenkt (es ist wichtig, dass die
Hefe mit ins Glas kommt). Ich hatte ihm als Dankeschön für
sein Engagement im letzten Jahr einen Geschenkkarton Erdinger mit zwei
Gläsern und zwei Flaschen mitgebracht. Außerdem hat er so
schön geübt, wie man "ein Weizen bitte" sagt, das kriegt er
schon fast akzentfrei hin.
Tja, und jetzt muss ich leider schon nach Hause. Aber das ist auch
besser so, ich habe genug Bier getrunken. Auf dem Heimweg halte ich
mich schön auf der linken Straßenseite, komme wohlbehalten
zu Hause an und falle mehr oder weniger sofort in mein Bett, ohne wie
angeboten erst noch ein Bad zu nehmen.
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