14.4., Der Einstufungstest

Ich wache um 5:30 kurz auf, als die ersten Familienmitglieder aufstehen. Die Sonne geht gerade auf, aber es ist schön, doch noch bis 7 schlafen zu dürfen. Dann ab ins Bad, unter die Dusche. Im Laufe des Morgens fällt mir auf, dass der Haushalt voller Uhren ist. In meinem Zimmer stehen zwei Wecker. Im Bad hängt eine Uhr neben dem Waschbecken, und in der Dusche ist ein wasserdichter Uhrenfisch. Die Uhr in der Dusche geht fast 10 Minuten vor ... guter Trick, um einen zum schnelleren Duschen zu bringen. Ob das wohl Absicht ist? Auf dem Klo hängt ein Wecker an der Wand, und in der Küche kann man sich vor Uhren kaum retten – nicht zuletzt ist die Uhrzeit ins ständig laufende Fernsehprogramm eingeblendet. Ich weiß gar nicht, ob das eine Funktion des Fernsehers ist oder ob alle japanischen Fernsehprogramme jeden Morgen links oben die Uhrzeit mit einblenden. Mir kommt es fast so vor, denn ich erinnere mich, dass auch letztes Jahr im Hotel morgens immer der Fernseher lief und die Uhrzeit links oben genauso aussah. Ist ja auch wichtig, man muss ja pünktlich zur Arbeit erscheinen.

Heute ist der Tisch auch für den Hausherren gedeckt, aber er ist noch nicht da. Ich erinnere mich, dass Keiko san (meine Gastgeberin) etwas von 8:20 Uhr gesagt hat, als ich sie fragte, wann ihr Mann zur Arbeit geht. Bin mir nur nicht sicher, ob sie 8:20 aufstehen oder 8:20 losfahren gemeint hat. Um 7:35 ist er jedenfalls noch nicht da. Aber der Tisch ist für ihn gedeckt (mit anderen Sachen als ich sie bekomme) und die Heizdecke ist an. Aha, die wird also nur für den Hausherren angefeuert, gestern Abend war sie auch aus. Es gibt wieder leckeres selbst gebackenes Weißbrot und in der Pfanne gebrutzeltes Allesmögliche (Ei und Paprika kann ich identifizieren, beim Rest bin ich mir nicht sicher). Um 8 ist der Hausherr immer noch nicht da, aber man erwartet von mir wohl auch nicht, dass ich noch auf ihn warte.

Kurz nach 8 schwinge ich mich aufs Fahrrad. Es ist ein wunderschöner Frühlingstag, schon jetzt ist mir auf dem Fahrrad meine Jacke fast zu warm. Unterwegs begegne ich Horden von Schulkindern, immer pulkweise, mal in der gleichen Richtung (und langsamer als ich, sodass ich sie überholen muss), mal kommen sie entgegen (und das durchaus gerne auf meiner Straßenseite – wusst ichs doch, es ist für Japaner ganz normal, rechts zu fahren!). Diesmal schaffe ich die Strecke ohne mich zu verfahren in einer halben Stunde. Habe allerdings auch Gas gegeben und bin etwas ins Schwitzen geraten dabei.

Dafür habe ich jetzt noch Zeit, mich 20 Minuten lang in der Morgensonne zu erholen. Streber, der ich bin, habe ich mir meine (erfolgreich bestandene) Abschlussprüfung vom letzten Jahr mitgebracht und überfliege sie jetzt noch einmal daraufhin, ob ich den Kram heute noch beherrsche. Das ist großteils der Fall, manches war mir aber entfallen, sodass es gut war, es nochmal schnell wiederholt zu haben. Schließlich will ich mich beim Einstufungstest ja nicht blamieren. Es wäre ja blöd, wenn ich eine Klasse wiederholen müsste.

Ich weiß nicht, ob es derselbe Einstufungstest ist wie beim letzten Mal, aber ich rausche problemlos durch die Fragen – so weit, wie ich letztes Jahr gelernt habe. Danach kann ich die richtigen Antworten nicht mal erraten; schon gut auf das Lehrbuch abgestimmt die Fragen. Mit einiger Belustigung sehe ich bei einigen wenigen Schülern, wie sie mit ungläubiger Mine den ausschließlich japanischen Fragebogen anschauen und dann zuklappen – wer das nicht lesen kann, geht offensichtlich in die erste Klasse.

Für die mündliche Prüfung erwische ich wieder Yokozawa sensei und bin diesmal nur ein bisschen nervös. Bis auf ein paar Versprecher meistere ich fehlerfrei die Grammatikfragen (das entnehme ich dem, was Yokozawa sensei sich nebenbei aufschreibt) – bis auf einmal eine aus dem zweiten Band kommt. Tja, da ist naturgemäß Funkstille, ich habe halt genau bis zum Ende des ersten Bands studiert und den zweiten habe ich nicht.

Yokozawa sensei eröffnet mir, dass ich in eine Klasse gehen werde, die mit Lektion 22 anfängt. Im Frühjahr haben sie ihre Kurse nämlich etwas anders aufgeteilt, und es gibt keinen Kurs, der bei Kapitel 26 beginnt (ich war bis 25 gekommen letztes Jahr). Aber er beruhigt mich, dass es schon schnell genug gehen wird. Anfangs bin ich ein bisschen enttäuscht, aber was solls, es kann sicher nicht schaden, gerade die Kapitel, an denen ich letztes Jahr fast verzweifelt wäre, jetzt in den ersten Tagen nochmal gründlich zu wiederholen. Die Alternative wäre gewesen, in Kapitel 32 anzufangen und mir mal eben das Dazwischenliegende draufzuschaffen. Nein danke, ein bisschen Urlaub soll es ja auch sein.

Die nachmittägliche Orientierungsveranstaltung hätte ich mir natürlich sparen können, denn ich kenne mich hier ja schon aus. Trotzdem war es mir wieder eine Freude, Declan dabei zu beobachten, wie er dem staunenden Publikum die hohe Kunst des Müllwegwerfens erklärt, in einem Ton, von dem man nie genau weiß, ob er sich dabei über die Japaner lustig machen will (ja, will er!) oder ob er das wirklich ernst meint (tut er auch, die Japaner nehmen das ernst!) Foto dazu. Also: Etikett der Colaflasche studieren: Aha, Deckel und Etikett kommen in den Plastikmüll, die Flasche selbst in den Spezialbehälter für PET-Flaschen. Und für die Schweizer die extraschwere Bonusfrage: In welchen der sechs Mülleimer gehört eine Milchtüte? Antwort: Wenn sie innen weiß ist, in gar keinen von denen. Dann ist es eine Spezialmilchtüte, die man sorgfältig ausspült, mit der Schere aufschneidet, schön flach faltet und dann an bestimmten Sammelstellen (eine Liste steht in der 20-seitigen Müllbroschüre) zurückgeben kann. Es macht Spaß, das ungläubige Staunen in den Gesichtern meiner neuen Kommilitonen zu sehen, dafür hat sich die Einführungsveranstaltung schon gelohnt.

In meinem Schlafzimmer stehen übrigens auch drei Mülleimer. Meine Gastgeberin hat mich schon darauf hingewiesen, und ich hatte ihr gesagt, dass ich das mit der Mülltrennung schon weiß. Als mein Blick allerdings heute Morgen so über die drei Papierkörbe schweifte, ging mir durch den Kopf, dass ich eigentlich nicht so recht erkennen kann, welcher welcher ist. Bei Yamasa sind sie alle mit lateinischen Buchstaben beschriftet :-).

Die Orientierungstour über den Campus endet nicht wie letztes Jahr in der Bar. Declan hat zurzeit keinen Barkeeper und schmeißt den Laden selber, deshalb hat er nur Donnerstags von 18:00 bis spät und Freitags von 18:00 bis unvernünftig spät auf. Da meine Familie mich jeden Abend zum Abendessen erwartet, wird es dieses Jahr wohl nicht so leicht mit ausschweifenden Abenden in der Bar. Aber ein Begrüßungsbier mit Declan würde ich schon gerne trinken. Dummerweise habe ich meiner Gastgeberin gesagt, ich würde um 18:00 nach Hause kommen. Nach einigem Zögern rufe ich sie halt an und frage in meinem besten Japanisch, wann sie denn zu Abend essen wollen. Um 8? Ist es dann in Ordnung, wenn ich erst um 8 komme? Ok, dann um 8. Puh, war ja doch nicht so schwierig. Mal schauen, wann ich endgültig die Scheu verliere, in Japan jemanden anzurufen. Meine Gastfamilie zählt ja nicht so recht, denn Keiko san kann zur Not auch Englisch.

Im Aufenthaltsraum geselle ich mich zu einer Schweizerin an den Tisch (ich brauche wie sie die Nähe zu einer Steckdose, sonst verbindet uns erst mal nichts). Obwohl ich ihr gegenüber sitze und ihr nicht auf den Bildschirm sehen kann, merke ich gleich, dass sie anders mit ihrem Computer umgeht als viele andere Menschen, vielleicht ist es einfach nur die Tippgeschwindigkeit. Jedenfalls habe ich mich nicht getäuscht: Sie ist promovierte Informatikerin, die ab Mai ein Postdoc-Jahr an der toudai macht. toudai ist übrigens wieder eine dieser japanischen Abkürzungen, die einen ganz verrückt machen können. Die lassen einfach jede zweite Silbe weg, die Japaner, bei Bedarf (natürlich in unregelmäßigen Abständen) auch mehr. toukyou daigaku heißt es vollständig: Tokyo-Hochschule. Aber To-Hoch reicht auch, da weiß jeder, was gemeint ist. Warum sagen wir eigentlich nicht Unihan für Universität Hannover? Oder Heizeiver für den Hei*e-Zeitschrif|enver|ag? Das wär doch mal was. Aber wahrscheinlich lohnt es sich nicht, eine Abkürzung wie Heizeiver einzuführen, denn wir sind bestimmt nicht so berühmt wie die toudai.

[Kleiner Einschub für Technik-Interessierte: Kann es wirklich sein, dass der Web-Server von 1&1, auf dem der Text dieser Seiten liegt, einfach die Seite 04.11.html ausliefert, wenn man die von dort verlinkte, aber noch nicht existierende Seite 04.13.html aufruft? Und dass ich das aus irgendwelchen Gründen nicht mehr weg kriege, obwohl ich an diesem Abend die Datei 04.13.html geupgeloadet habe oder wie das auch immer heißt? Ich hoffe, Ihr konntet die Seite sehen; ich schreibe dies am Abend des 14.4. und kann es erst am nächten Nachmittag checken.]

Mittlerweile hat die Bar geöffnet und 5, 6 Yamasa-Studenten sind da. Ich finde sogar ein Opfer, das sagt, es habe schon einmal Go gespielt. Chris möchte 13×13 spielen, und obwohl ich ihn gefragt habe, wie viele Partien er schon gespielt hat (bestimmt ein Dutzend), möchte er keine fünf Vorgabesteine, sondern nur vier. Ach, was solls, wenn man nur eine halbe Stunde für Biertrinken und Go spielen hat (dann muss ich nach Hause), dann lässt man sich auf alles ein. Beziehungsweise geht über Leichen – der arme Chris. Wenn ich in Eile bin, kann ich meine (bescheidene) Spielstärke Anfängern gegenüber nicht dosieren, das muss ich von stärkeren Spielern noch lernen. Aber er hat gesagt, Go interessiert ihn und ich darf es ihm gern weiter beibringen. Dumm nur, dass es Go-Spielmaterial nur in der Bar gibt ...

Jetzt muss ich aber erstmal stramm nach Hause strampeln. Komme zwar pünktlich, aber doch etwas heißgelaufen bei meiner Gastfamilie an. Dass es zur Schule 30 und nach Hause 40 Minuten dauert, scheint doch massiv am Höhenunterschied zu liegen. Daran muss ich mich erst wieder gewöhnen, in Hannover gibt es solche Phänomene ja nicht. (Wenn man nicht gerade auf dem Lindener Berg ein Bier trinken geht, aber dann gehts auf dem Rückweg ja bergab.)

Das Abendessen ist wieder super lecker, aber aus Höflichkeit verzichte ich darauf, schon wieder zu fotografieren. Wieder eine neue Art Meeresgewächse, die ich noch nicht kenne (dicke, glasnudelähnliche Dinger), Tofu mit Kimchi als Garnitur (so lässt es sich genießen, ohne Kimchi schmeckt Tofu ja nach nicht viel) und werweißwas. Als ich schon satt bin, wird noch Reis mit rohem Ei gereicht. Nein, danke ... es liegt wirklich nicht am rohen Ei; rohes Ei mit Reis kann ich wohl essen, wie man in meinem Tagebuch vom letzten Jahr nachlesen kann. Ich bin einfach nur satt.

Nach dem Essen ergibt sich ein etwas längeres Gespräch mit meiner Gastgeberin und auch mit ihrer Tochter. Ich spreche Chihiro ein paarmal an, und allmählich taut sie auf. Ob sie denn nicht eigentlich auch Englisch können müsste (frage ich auf Japanisch)? Nein, sie lernen in der Schule nur die Grammatik, sprechen könne sie nicht (auf Japanisch). Dass sie doch vieles weiß, merke ich daran, dass sie ab und zu ihre Mutter korrigiert, wenn es ums Buchstabieren englischer Wörter geht. Aber zugeben oder gar was auf Englisch sagen mag sie überhaupt nicht. Ihre Mutter nötigt sie schließlich zu "My name is Chihiro, I am 17 years old and my hobbies are ...". Na wer sagts denn? Ich antworte ganz ernsthaft mit den entsprechenden Phrasen auf Japanisch, die kann ich nämlich auch schon.

Nachdem Chihiro sich verabschiedet hat, reden wir noch ein bisschen über dies und das, über Fremdsprachen, über das Reisen ... Ich beschließe, jetzt endlich einmal zu fragen, wie ich meine Gastgeberin anreden soll. Sie heißt mit Nachnamen Satou, mit Vornamen Keiko. Soll ich nun Satou san sagen oder Keiko san? Keiko san ist ok, Satou San könnte genauso gut ihr Mann oder ihre Tochter sein, erklärt sie mir. Als nächstes frage ich sie unverblümt (auf Englisch, sonst wären mir beide Fragen unheimlich schwer gefallen), was denn nun die richtige Höflichkeitsstufe ihr gegenüber ist. Denn ich bin verwirrt, sie benutzt mir gegenüber mal diese, mal jene Form, aber hauptsächlich die einfache, aber ich, darf ich die einfache Form benutzen (zumal ich sie nicht besonders gut beherrsche)? Sie erklärt mir, dass man älteren Menschen gegenüber nicht ohne weiteres die einfache Form benutzen darf, jüngeren (und gleichaltrigen Freunden) gegenüber schon. Zu Chihiro darf ich beispielsweise in der einfachen Form sprechen. Die andere Hälfte der Erklärung lässt sie weg, aber ich habe schon verstanden, dass sie meine "Entgleisungen" in Form der einfachen Form ihr gegenüber stillschweigend ignoriert hat. Hätt ich das gleich gewusst! Ich kann doch die höfliche Form viel besser, habe nur durch den Japaner, den ich vor einiger Zeit in Hannover kennengelernt habe, verstärkt versucht, endlich die einfachen Formen zu lernen. Und wahrscheinlich ist das Leben in Wirklichkeit noch komplizierter, weil Keiko san eine Frau ist. Wer weiß, wie ein Mann mir das erklärt hätte.

Nachdem ich ein Stündchen in meinem Zimmer verbracht habe, höre ich, dass im Bad jemand zugange ist. Als mir Keiko san mein Badetuch für morgen hereinreicht, frage ich sie, ob ich auch ein Bad nehmen darf. Sie zögert ... eigentlich wollte sie gerade und dann Chihiro ... ich weiß nicht, ob ich zu forsch bin, aber ich sage ihr, dass ich es gern auch ausprobieren möchte und gelesen habe, wie man ein japanisches Bad nimmt. Sie erklärt es mir aber trotzdem noch einmal, was ich ihr nicht verdenken kann, denn alle Familienmitglieder steigen in dasselbe Badewasser, und ich bin nicht mal sicher, wie oft in der Woche sie es ablassen. Dass ich mich also vorher gründlich wasche und vor allem abdusche, sodass ich keine Seife mit ins Wasser trage, ist selbstverständlich. Aber gut, es sicherheitshalber noch einmal erklärt bekommen zu haben.

Inzwischen kommt der Ehemann nach Hause, und wir verständigen uns darauf, dass erst Keiko san, dann Chihiro, dann ich und zum Schluss erst der Hausherr, Katsuaki san, an die Reihe kommt. Es wird spät, bis Chihiro mir Bescheid sagt, 0:30, und ich habe schon ein schlechtes Gewissen, dass ich mich in die familiäre Badereihenfolge reindränge. Daher bade ich nur kurz im heißen Wasser, sage Katsuaki san Bescheid und lege mich schlafen. Nette Sache eigentlich, ein heißes Bad zum Einschlafen ...

 

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©2005 by Harald Bögeholz