Ich wache um 5:30 kurz auf, als die ersten Familienmitglieder
aufstehen. Die Sonne geht gerade auf, aber es ist schön, doch noch
bis 7 schlafen zu dürfen. Dann ab ins Bad, unter die Dusche. Im
Laufe des Morgens fällt mir auf, dass der Haushalt voller Uhren
ist. In meinem Zimmer stehen zwei Wecker. Im Bad hängt eine Uhr
neben dem Waschbecken, und in der Dusche ist ein wasserdichter
Uhrenfisch. Die Uhr in der Dusche geht fast 10 Minuten vor ... guter
Trick, um einen zum schnelleren Duschen zu bringen. Ob das wohl
Absicht ist? Auf dem Klo hängt ein Wecker an der Wand, und in der
Küche kann man sich vor Uhren kaum retten – nicht zuletzt
ist die Uhrzeit ins ständig laufende Fernsehprogramm
eingeblendet. Ich weiß gar nicht, ob das eine Funktion des
Fernsehers ist oder ob alle japanischen Fernsehprogramme jeden Morgen
links oben die Uhrzeit mit einblenden. Mir kommt es fast so vor, denn
ich erinnere mich, dass auch letztes Jahr im Hotel morgens immer der
Fernseher lief und die Uhrzeit links oben genauso aussah. Ist ja auch
wichtig, man muss ja pünktlich zur Arbeit erscheinen.
Heute ist der Tisch auch für den Hausherren gedeckt, aber er
ist noch nicht da. Ich erinnere mich, dass Keiko san (meine
Gastgeberin) etwas von 8:20 Uhr gesagt hat, als ich sie fragte, wann
ihr Mann zur Arbeit geht. Bin mir nur nicht sicher, ob sie 8:20
aufstehen oder 8:20 losfahren gemeint hat. Um 7:35 ist er jedenfalls
noch nicht da. Aber der Tisch ist für ihn gedeckt (mit anderen
Sachen als ich sie bekomme) und die Heizdecke ist an. Aha, die wird
also nur für den Hausherren angefeuert, gestern Abend war sie
auch aus. Es gibt wieder leckeres selbst gebackenes Weißbrot und
in der Pfanne gebrutzeltes Allesmögliche (Ei und Paprika kann ich
identifizieren, beim Rest bin ich mir nicht sicher). Um 8 ist der
Hausherr immer noch nicht da, aber man erwartet von mir wohl auch
nicht, dass ich noch auf ihn warte.
Kurz nach 8 schwinge ich mich aufs Fahrrad. Es ist ein
wunderschöner Frühlingstag, schon jetzt ist mir auf dem
Fahrrad meine Jacke fast zu warm. Unterwegs begegne ich Horden von
Schulkindern, immer pulkweise, mal in der gleichen Richtung (und
langsamer als ich, sodass ich sie überholen muss), mal kommen sie
entgegen (und das durchaus gerne auf meiner Straßenseite –
wusst ichs doch, es ist für Japaner ganz normal, rechts zu
fahren!). Diesmal schaffe ich die Strecke ohne mich zu verfahren in
einer halben Stunde. Habe allerdings auch Gas gegeben und bin etwas
ins Schwitzen geraten dabei.
Dafür habe ich jetzt noch Zeit, mich 20 Minuten lang in der
Morgensonne zu erholen. Streber, der ich bin, habe ich mir meine
(erfolgreich bestandene) Abschlussprüfung vom letzten Jahr
mitgebracht und überfliege sie jetzt noch einmal daraufhin, ob
ich den Kram heute noch beherrsche. Das ist großteils der Fall,
manches war mir aber entfallen, sodass es gut war, es nochmal schnell
wiederholt zu haben. Schließlich will ich mich beim
Einstufungstest ja nicht blamieren. Es wäre ja blöd, wenn
ich eine Klasse wiederholen müsste.
Ich weiß nicht, ob es derselbe Einstufungstest ist wie beim
letzten Mal, aber ich rausche problemlos durch die Fragen – so
weit, wie ich letztes Jahr gelernt habe. Danach kann ich die richtigen
Antworten nicht mal erraten; schon gut auf das Lehrbuch abgestimmt die
Fragen. Mit einiger Belustigung sehe ich bei einigen wenigen
Schülern, wie sie mit ungläubiger Mine den
ausschließlich japanischen Fragebogen anschauen und dann
zuklappen – wer das nicht lesen kann, geht offensichtlich in die
erste Klasse.
Für die mündliche Prüfung erwische ich wieder
Yokozawa sensei und bin diesmal nur ein bisschen nervös. Bis auf
ein paar Versprecher meistere ich fehlerfrei die Grammatikfragen (das
entnehme ich dem, was Yokozawa sensei sich nebenbei aufschreibt)
– bis auf einmal eine aus dem zweiten Band kommt. Tja, da ist
naturgemäß Funkstille, ich habe halt genau bis zum Ende des
ersten Bands studiert und den zweiten habe ich nicht.
Yokozawa sensei eröffnet mir, dass ich in eine Klasse gehen
werde, die mit Lektion 22 anfängt. Im Frühjahr haben sie
ihre Kurse nämlich etwas anders aufgeteilt, und es gibt keinen
Kurs, der bei Kapitel 26 beginnt (ich war bis 25 gekommen letztes
Jahr). Aber er beruhigt mich, dass es schon schnell genug gehen wird.
Anfangs bin ich ein bisschen enttäuscht, aber was solls, es kann
sicher nicht schaden, gerade die Kapitel, an denen ich letztes Jahr
fast verzweifelt wäre, jetzt in den ersten Tagen nochmal
gründlich zu wiederholen. Die Alternative wäre gewesen, in
Kapitel 32 anzufangen und mir mal eben das Dazwischenliegende
draufzuschaffen. Nein danke, ein bisschen Urlaub soll es ja auch
sein.
Die nachmittägliche Orientierungsveranstaltung hätte ich
mir natürlich sparen können, denn ich kenne mich hier ja
schon aus. Trotzdem war es mir wieder eine Freude, Declan dabei zu
beobachten, wie er dem staunenden Publikum die hohe Kunst des
Müllwegwerfens erklärt, in einem Ton, von dem man nie genau
weiß, ob er sich dabei über die Japaner lustig machen will
(ja, will er!) oder ob er das wirklich ernst meint (tut er auch, die
Japaner nehmen das ernst!) . Also: Etikett der
Colaflasche studieren: Aha, Deckel und Etikett kommen in den
Plastikmüll, die Flasche selbst in den Spezialbehälter
für PET-Flaschen. Und für die Schweizer die extraschwere
Bonusfrage: In welchen der sechs Mülleimer gehört eine
Milchtüte? Antwort: Wenn sie innen weiß ist, in gar keinen
von denen. Dann ist es eine Spezialmilchtüte, die man
sorgfältig ausspült, mit der Schere aufschneidet, schön
flach faltet und dann an bestimmten Sammelstellen (eine Liste steht in
der 20-seitigen Müllbroschüre) zurückgeben kann. Es
macht Spaß, das ungläubige Staunen in den Gesichtern meiner
neuen Kommilitonen zu sehen, dafür hat sich die
Einführungsveranstaltung schon gelohnt.
In meinem Schlafzimmer stehen übrigens auch drei
Mülleimer. Meine Gastgeberin hat mich schon darauf hingewiesen,
und ich hatte ihr gesagt, dass ich das mit der Mülltrennung schon
weiß. Als mein Blick allerdings heute Morgen so über die
drei Papierkörbe schweifte, ging mir durch den Kopf, dass ich
eigentlich nicht so recht erkennen kann, welcher welcher ist. Bei
Yamasa sind sie alle mit lateinischen Buchstaben beschriftet :-).
Die Orientierungstour über den Campus endet nicht wie letztes
Jahr in der Bar. Declan hat zurzeit keinen Barkeeper und
schmeißt den Laden selber, deshalb hat er nur Donnerstags von
18:00 bis spät und Freitags von 18:00 bis unvernünftig
spät auf. Da meine Familie mich jeden Abend zum Abendessen
erwartet, wird es dieses Jahr wohl nicht so leicht mit ausschweifenden
Abenden in der Bar. Aber ein Begrüßungsbier mit Declan
würde ich schon gerne trinken. Dummerweise habe ich meiner
Gastgeberin gesagt, ich würde um 18:00 nach Hause kommen. Nach
einigem Zögern rufe ich sie halt an und frage in meinem besten
Japanisch, wann sie denn zu Abend essen wollen. Um 8? Ist es dann in
Ordnung, wenn ich erst um 8 komme? Ok, dann um 8. Puh, war ja doch
nicht so schwierig. Mal schauen, wann ich endgültig die Scheu
verliere, in Japan jemanden anzurufen. Meine Gastfamilie zählt ja
nicht so recht, denn Keiko san kann zur Not auch Englisch.
Im Aufenthaltsraum geselle ich mich zu einer Schweizerin an den
Tisch (ich brauche wie sie die Nähe zu einer Steckdose, sonst
verbindet uns erst mal nichts). Obwohl ich ihr gegenüber sitze
und ihr nicht auf den Bildschirm sehen kann, merke ich gleich, dass
sie anders mit ihrem Computer umgeht als viele andere Menschen,
vielleicht ist es einfach nur die Tippgeschwindigkeit. Jedenfalls habe
ich mich nicht getäuscht: Sie ist promovierte Informatikerin, die
ab Mai ein Postdoc-Jahr an der toudai macht. toudai ist
übrigens wieder eine dieser japanischen Abkürzungen, die
einen ganz verrückt machen können. Die lassen einfach jede
zweite Silbe weg, die Japaner, bei Bedarf (natürlich in
unregelmäßigen Abständen) auch mehr. toukyou
daigaku heißt es vollständig: Tokyo-Hochschule. Aber
To-Hoch reicht auch, da weiß jeder, was gemeint ist. Warum sagen
wir eigentlich nicht Unihan für Universität Hannover? Oder
Heizeiver für den Hei*e-Zeitschrif|enver|ag? Das wär doch
mal was. Aber wahrscheinlich lohnt es sich nicht, eine Abkürzung
wie Heizeiver einzuführen, denn wir sind bestimmt nicht so
berühmt wie die toudai.
[Kleiner Einschub für Technik-Interessierte: Kann es wirklich
sein, dass der Web-Server von 1&1, auf dem der Text dieser Seiten
liegt, einfach die Seite 04.11.html ausliefert, wenn man die von dort
verlinkte, aber noch nicht existierende Seite 04.13.html aufruft? Und
dass ich das aus irgendwelchen Gründen nicht mehr weg kriege,
obwohl ich an diesem Abend die Datei 04.13.html geupgeloadet habe oder
wie das auch immer heißt? Ich hoffe, Ihr konntet die Seite
sehen; ich schreibe dies am Abend des 14.4. und kann es erst am
nächten Nachmittag checken.]
Mittlerweile hat die Bar geöffnet und 5, 6 Yamasa-Studenten
sind da. Ich finde sogar ein Opfer, das sagt, es habe schon einmal Go
gespielt. Chris möchte 13×13 spielen, und obwohl ich ihn
gefragt habe, wie viele Partien er schon gespielt hat (bestimmt ein
Dutzend), möchte er keine fünf Vorgabesteine, sondern nur
vier. Ach, was solls, wenn man nur eine halbe Stunde für
Biertrinken und Go spielen hat (dann muss ich nach Hause), dann
lässt man sich auf alles ein. Beziehungsweise geht über
Leichen – der arme Chris. Wenn ich in Eile bin, kann ich meine
(bescheidene) Spielstärke Anfängern gegenüber nicht
dosieren, das muss ich von stärkeren Spielern noch lernen. Aber
er hat gesagt, Go interessiert ihn und ich darf es ihm gern weiter
beibringen. Dumm nur, dass es Go-Spielmaterial nur in der Bar
gibt ...
Jetzt muss ich aber erstmal stramm nach Hause strampeln. Komme zwar
pünktlich, aber doch etwas heißgelaufen bei meiner
Gastfamilie an. Dass es zur Schule 30 und nach Hause 40 Minuten
dauert, scheint doch massiv am Höhenunterschied zu liegen. Daran
muss ich mich erst wieder gewöhnen, in Hannover gibt es solche
Phänomene ja nicht. (Wenn man nicht gerade auf dem Lindener Berg
ein Bier trinken geht, aber dann gehts auf dem Rückweg ja
bergab.)
Das Abendessen ist wieder super lecker, aber aus Höflichkeit
verzichte ich darauf, schon wieder zu fotografieren. Wieder eine neue
Art Meeresgewächse, die ich noch nicht kenne (dicke,
glasnudelähnliche Dinger), Tofu mit Kimchi als Garnitur (so
lässt es sich genießen, ohne Kimchi schmeckt Tofu ja nach
nicht viel) und werweißwas. Als ich schon satt bin, wird noch
Reis mit rohem Ei gereicht. Nein, danke ... es liegt wirklich nicht am
rohen Ei; rohes Ei mit Reis kann ich wohl essen, wie man in meinem
Tagebuch vom letzten Jahr nachlesen kann. Ich bin einfach nur
satt.
Nach dem Essen ergibt sich ein etwas längeres Gespräch
mit meiner Gastgeberin und auch mit ihrer Tochter. Ich spreche Chihiro
ein paarmal an, und allmählich taut sie auf. Ob sie denn nicht
eigentlich auch Englisch können müsste (frage ich auf
Japanisch)? Nein, sie lernen in der Schule nur die Grammatik, sprechen
könne sie nicht (auf Japanisch). Dass sie doch vieles weiß,
merke ich daran, dass sie ab und zu ihre Mutter korrigiert, wenn es
ums Buchstabieren englischer Wörter geht. Aber zugeben oder gar
was auf Englisch sagen mag sie überhaupt nicht. Ihre Mutter
nötigt sie schließlich zu "My name is Chihiro, I am 17
years old and my hobbies are ...". Na wer sagts denn? Ich
antworte ganz ernsthaft mit den entsprechenden Phrasen auf Japanisch,
die kann ich nämlich auch schon.
Nachdem Chihiro sich verabschiedet hat, reden wir noch ein bisschen
über dies und das, über Fremdsprachen, über das
Reisen ... Ich beschließe, jetzt endlich einmal zu fragen,
wie ich meine Gastgeberin anreden soll. Sie heißt mit Nachnamen
Satou, mit Vornamen Keiko. Soll ich nun Satou san sagen oder Keiko
san? Keiko san ist ok, Satou San könnte genauso gut ihr Mann oder
ihre Tochter sein, erklärt sie mir. Als nächstes frage ich
sie unverblümt (auf Englisch, sonst wären mir beide Fragen
unheimlich schwer gefallen), was denn nun die richtige
Höflichkeitsstufe ihr gegenüber ist. Denn ich bin verwirrt,
sie benutzt mir gegenüber mal diese, mal jene Form, aber
hauptsächlich die einfache, aber ich, darf ich die einfache Form
benutzen (zumal ich sie nicht besonders gut beherrsche)? Sie
erklärt mir, dass man älteren Menschen gegenüber nicht
ohne weiteres die einfache Form benutzen darf, jüngeren (und
gleichaltrigen Freunden) gegenüber schon. Zu Chihiro darf ich
beispielsweise in der einfachen Form sprechen. Die andere Hälfte
der Erklärung lässt sie weg, aber ich habe schon verstanden,
dass sie meine "Entgleisungen" in Form der einfachen Form ihr
gegenüber stillschweigend ignoriert hat. Hätt ich das gleich
gewusst! Ich kann doch die höfliche Form viel besser, habe nur
durch den Japaner, den ich vor einiger Zeit in Hannover kennengelernt
habe, verstärkt versucht, endlich die einfachen Formen zu lernen.
Und wahrscheinlich ist das Leben in Wirklichkeit noch komplizierter,
weil Keiko san eine Frau ist. Wer weiß, wie ein Mann mir das
erklärt hätte.
Nachdem ich ein Stündchen in meinem Zimmer verbracht habe,
höre ich, dass im Bad jemand zugange ist. Als mir Keiko san mein
Badetuch für morgen hereinreicht, frage ich sie, ob ich auch ein
Bad nehmen darf. Sie zögert ... eigentlich wollte sie gerade und
dann Chihiro ... ich weiß nicht, ob ich zu forsch bin, aber ich
sage ihr, dass ich es gern auch ausprobieren möchte und gelesen
habe, wie man ein japanisches Bad nimmt. Sie erklärt es mir aber
trotzdem noch einmal, was ich ihr nicht verdenken kann, denn alle
Familienmitglieder steigen in dasselbe Badewasser, und ich bin nicht
mal sicher, wie oft in der Woche sie es ablassen. Dass ich mich also
vorher gründlich wasche und vor allem abdusche, sodass ich keine
Seife mit ins Wasser trage, ist selbstverständlich. Aber gut, es
sicherheitshalber noch einmal erklärt bekommen zu haben.
Inzwischen kommt der Ehemann nach Hause, und wir verständigen
uns darauf, dass erst Keiko san, dann Chihiro, dann ich und zum
Schluss erst der Hausherr, Katsuaki san, an die Reihe kommt. Es wird
spät, bis Chihiro mir Bescheid sagt, 0:30, und ich habe schon ein
schlechtes Gewissen, dass ich mich in die familiäre
Badereihenfolge reindränge. Daher bade ich nur kurz im
heißen Wasser, sage Katsuaki san Bescheid und lege mich schlafen.
Nette Sache eigentlich, ein heißes Bad zum Einschlafen ...
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