1.9., Auf Wiedersehen, Japan

Als ich heute um kurz vor 10 aufwache, denke ich wehmütig daran, dass dies mein letzter Tag in Japan ist. Wie schnell die Zeit doch vergangen ist. Obwohl ich mich im Prinzip auf Australien freue, hätte ich jetzt gerne erst einmal eine Woche Urlaub in Deutschland, um die vielen neuen Eindrücke zu verarbeiten. Alternativ könnte ich mir vorstellen, nach Okazaki zurückzukehren, eine Woche im Studentenwohnheimi rumzuhängen und nichts zu tun und mich dann in einen weiteren vierwöchigen Sprachkurs zu stürzen. Schon jetzt habe ich den Eindruck, einen Teil des Gelernten wieder vergessen zu haben, denn in Tokyo gibt es tatsächlich relativ wenig Gelegenheit für einen Ausländer, Japanisch zu sprechen.

Beim Frühstück treffe ich Annegret, so ein Zufall! Sie ist für eine Nacht in Osaka gewesen und besucht jetzt in Tokyo eine Brieffreundin und hat sich gedacht, da sie zufällig in Shinjuku vorbeikommt, könnte sie ja mal schauen, ob ich zufällig ... Die Welt ist doch ein Dorf! Jedenfalls ist auch Annegret hoch zufrieden, sich eine Sprachschule in Okazaki und nicht eine in Tokyo ausgesucht zu haben. Sie erzählt, dass sie kürzlich einen Japaner etwas auf Japanisch gefragt hat und zur Antwort bekommen hat "Sorry, I don't speak English". Da fehlen einem die Worte.

Sie hat sich für heute vorgenommen, Yoyogi und den Meiji-Schrein zu besuchen, und ich schlage vor, dass wir doch zu Fuß gehen könnten. Auf dem Weg dorthin liegt laut meinem Stadtplan nämlich ein Garten, der vielleicht ganz nett ist, und so sehr weit sieht es insgesamt nicht aus.

Am Rand des Gartens wieder der Effekt, wegen dem ich heilfroh bin, in Okazaki gewesen zu sein. Nicht nur können sich die Tokyoter anscheinend nicht vorstellen, dass ein Gaijin Japanisch kann, sie behandeln einen irgendwie recht oft als wär man doof. Wir schauen kurz auf einen Plan des Gartens; daneben steht ein großes, nicht zu übersehendes Schild mit den Schriftzeichen für iriguchi und "Entry" und einem Pfeil nach rechts. Sofort kommt ein Uniformierter angerannt, um uns auf Englisch zu erklären, dass wir nach rechts gehen müssen, um in den Garten zu kommen. Manchmal nerven sie, die Japaner. In Okazaki behandeln einen die Leute ganz normal und haben auch überwiegend keine Hemmungen, einen auf Japanisch anzusprechen. So soll es sein, anders kann man ja die Sprache nicht lernen. Wer immer mit dem Gedanken spielt, Sprachunterricht in Japan zu nehmen: Ich kann von Tokyo aus den genannten Gründen nur abraten. Je Kleinstadt, desto besser; das habe ich mir seinerzeit bei der Wahl meiner Sprachschule gedacht, und ich hatte Recht.

Der Garten kostet 200 Yen Eintritt, ist aber ganz nett anzusehen Foto dazu Foto dazu Foto dazu. Ich sehe mehrere Japaner, die mit Stativen zugange sind, um Fotos zu machen. Mir leuchtet nicht so richtig ein, wozu. Wir haben strahlenden Sonnenschein (und garantiert deutlich über 30 Grad), mithin so viel Licht, dass man auch bei kleiner Blende noch aus der Hand fotografieren kann. Aber vielleicht ist das Fotografieren mit Stativ ein Akt, den man um seiner selbst willen zelebriert. Besonders lustig finde ich einen Japaner mit einer digitalen Mini-Knipse, die kleiner ist als die Bodenplatte seines recht professionell anmutenden Riesenstativs. Ich bin so verblüfft, dass ich vergesse, ein Foto zu machen.

Vom anderen Ende des Gartens sind es nur fünf Minuten Fußweg zum Yoyogi-Park. Dort strömt uns eine nicht enden wollende Flut junger Japaner und Japanerinnen entgegen, alle in der gleichen Uniformjacke, aber ansonsten schon unterschiedlich gekleidet Foto dazu. Auf den ersten Blick denken wir an eine Schulklasse, aber dafür sind es viel zu viele; es müssen Hunderte sein. Wir können froh sein, dass der Meiji-Schrein nicht mit dieser Reisegruppe geflutet ist, als wir dort ankommen; sonst hätten wir dort nicht viel Ruhe gehabt. So ist es ein ganz beschaulicher Schrein mitten in einem Wäldchen Foto dazu, an dessen südlichem Ende das Olympiastadion von 1964 steht Foto dazu.

Hier fängt Harajuku an, ein Viertel, das Annegret als das wiedererkennt, wo wir mit Declan am Samstagabend essen waren. Bei mir fällt der Groschen etwas langsamer; ein und dieselbe Straße wirkt am Tag Foto dazu total anders als bei Nacht Foto dazu. Am Tage ist dies jedenfalls die Einkaufsgegend junger, modebewusster Japaner. Boutiken Foto dazu, Friseure Foto dazu, Schuhgeschäfte Foto dazu am laufenden Meter, dazwischen eine Flut überwiegend junger und höchst unterschiedlich gekleideter Japaner. Vom saloppen T-Shirt über flippiges Outfit bis hin zu Schlips und Kragen Foto dazu ist hier alles vertreten. Ich gehe dazu über, gezielt die Leute zu fotografieren und nicht die Geschäfte oder die Straße, merke aber vereinzelt, dass sie es merken. Als ich genug von Harajuku habe, gehe ich vom Bahnhof aus noch einmal ein bisschen mit meinem Teleobjektiv auf die Jagd, denn der liegt etwas erhöht, und von dort kann man prima in eine der belebten Einkaufsstraßen hineinsehen Foto dazu Foto dazu.

Es wird Zeit, den Rückweg anzutreten, denn ich will noch ein Stündchen ins Internet und endlich die Bilder weiter uploaden. Mit Sorge orientiere ich mich am Bahnhof Shinjuku schon einmal etwas und schaue nach den Gleisen für den Narita Express. Das kann ja heiter werden; die sind ewig weit von dem Eingang entfernt, den ich kenne.

Das Stündchen auf meinem Blumenkübel-Hotspot vergeht wie im Fluge mit Tagebuchschreiben und Chatten, während der Upload weiterläuft. Zwischendurch kommt ein Gärtner, um die Pflanzen zu gießen. Statt mich aber dauerhaft zu verscheuchen oder gar zu meckern dass ich die Pflanzen an einer Ecke schon etwas plattgesessen habe, gießt er extra so, dass mein Sitzplatz trocken bleibt und bedeutet mir, mich wieder hinzusetzen. Ich kann wirklich nicht über die Freundlichkeit der Japaner meckern. Und das Internet ist auch kostenlos ;-).

Während ich da so sitze, bettelt mich zum ersten Mal ein Japaner an. Er erzählt mir auf Englisch eine Story, dass er kein Dach über dem Kopf und kein Geld hat und daher im Park übernachte. So arm sieht er eigentlich nicht aus, und er hat Pech; ich habe so gut wie kein Kleingeld in der Tasche. In Deutschland habe ich es mir irgendwie abgewöhnt, Bettlern etwas zu geben, aber diesem hier gebe ich nach kurzem Zögern doch die paar Münzen, die ich habe, insgesamt knapp 100 Yen. Mit Notebook auf den Knien und teurer Spiegelreflex-Digitalkamera zu meinen Füßen kann ich nur schwerlich heucheln, selbst eine arme Socke zu sein. Später, als ich auf dem Heimweg noch letzte Fotos mache, schon wieder zwei Bettler Foto dazu. Was heut nur los ist?

Zurück im Hotel erkläre ich dem Portier, dass ich einen Knochenbruch habe und daher meinen rechten Arm nicht benutzen kann, wie ich denn am besten nach Narita käme? Er hilft mir, mein Gepäck rauszutragen, winkt mir ein Taxi herbei und sagt dem Taxifahrer, er solle mich am Südeingang des Bahnhofs absetzen.

Dort angekommen sage ich dem Taxifahrer in meinem besten Japanisch, dass ich mir an der rechten Schulter einen Knochen gebrochen habe und daher mit dem rechten Arm keine schweren Sachen heben kann. Ob er mir wohl ein bisschen helfen könne? Hab ich also doch was nützliches gelernt in meiner Sprachschule, denn er schleppt mir meine schwere Reisetasche in den Bahnhof, wartet geduldig, bis ich mein Ticket gekauft habe und begleitet mich dann bis zum richtigen Bahnsteig. domo arigatoo gozaimashita.

Auch am Flughafen Narita spreche ich den erstbesten Uniformierten an, der mir daraufhin mein Gepäck aus der U-Bahn-Station raufschleppt bis zu einem Kofferkuli, von wo aus ich es vollends alleine schaffe und pünktlich um 21:25 im Flieger sitze.

[Einige haben mich per E-Mail gefragt, wie es der Schulter denn nun geht. Ich bin mir nicht wirklich sicher. Der Arm tut nicht weh, solange ich ihn unten lasse, aber wenn ich ihn vorsichtig hebe, sticht es doch noch. Insbesondere wenn ich spontan einen Schnappschuss im Hochformat machen will, wozu ich die Kamera gewohnheitsmäßig um 90 Grad nach links drehe, tut es machmal noch weh. Die gelbgrünen Flecken von der Prellung sind zu meiner Überraschung immer noch nicht ganz weg; war wohl doch ein heftigerer Bums als ich zunächst dachte. Ich trage immer noch dieses rucksackähnliche Dingens, denke aber, dass ich das jetzt mal weglassen kann. Auf meinem Trip zum Flughafen hat es mir noch insofern gute Dienste geleistet, als ich damit plausibel machen konnte, Hilfe zu brauchen. Aber ich denke, damit hat es seinen Zweck erfüllt. Ich werde mich aber weiterhin vorsichtig bewegen, um nicht zu riskieren, dass der frisch zusammengewachsene Knochen wieder einen Knacks kriegt.]

Im Flugzeug sitze ich neben einer Japanerin, die nach Australien fliegt, um dort Englisch zu lernen. Ich spreche so gut es geht Japanisch und sie Englisch; so können wir beide noch ein bisschen üben. Gegen 1 falle ich in einen kurzen, unruhigen Schlaf, um wie es scheint nur wenig später für die Landung in Cairns geweckt zu werden.

 

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©2004 by Harald Bögeholz