Als ich heute um kurz vor 10 aufwache, denke ich wehmütig
daran, dass dies mein letzter Tag in Japan ist. Wie schnell die Zeit
doch vergangen ist. Obwohl ich mich im Prinzip auf Australien freue,
hätte ich jetzt gerne erst einmal eine Woche Urlaub in
Deutschland, um die vielen neuen Eindrücke zu verarbeiten.
Alternativ könnte ich mir vorstellen, nach Okazaki
zurückzukehren, eine Woche im Studentenwohnheimi rumzuhängen
und nichts zu tun und mich dann in einen weiteren vierwöchigen
Sprachkurs zu stürzen. Schon jetzt habe ich den Eindruck, einen
Teil des Gelernten wieder vergessen zu haben, denn in Tokyo gibt es
tatsächlich relativ wenig Gelegenheit für einen
Ausländer, Japanisch zu sprechen.
Beim Frühstück treffe ich Annegret, so ein Zufall! Sie
ist für eine Nacht in Osaka gewesen und besucht jetzt in Tokyo
eine Brieffreundin und hat sich gedacht, da sie zufällig in
Shinjuku vorbeikommt, könnte sie ja mal schauen, ob ich
zufällig ... Die Welt ist doch ein Dorf! Jedenfalls ist auch
Annegret hoch zufrieden, sich eine Sprachschule in Okazaki und nicht
eine in Tokyo ausgesucht zu haben. Sie erzählt, dass sie
kürzlich einen Japaner etwas auf Japanisch gefragt hat und zur
Antwort bekommen hat "Sorry, I don't speak English". Da fehlen einem
die Worte.
Sie hat sich für heute vorgenommen, Yoyogi und den
Meiji-Schrein zu besuchen, und ich schlage vor, dass wir doch zu
Fuß gehen könnten. Auf dem Weg dorthin liegt laut meinem
Stadtplan nämlich ein Garten, der vielleicht ganz nett ist, und
so sehr weit sieht es insgesamt nicht aus.
Am Rand des Gartens wieder der Effekt, wegen dem ich heilfroh bin,
in Okazaki gewesen zu sein. Nicht nur können sich die Tokyoter
anscheinend nicht vorstellen, dass ein Gaijin Japanisch kann, sie
behandeln einen irgendwie recht oft als wär man doof. Wir schauen
kurz auf einen Plan des Gartens; daneben steht ein großes, nicht
zu übersehendes Schild mit den Schriftzeichen für
iriguchi und "Entry" und einem Pfeil nach rechts. Sofort kommt
ein Uniformierter angerannt, um uns auf Englisch zu erklären,
dass wir nach rechts gehen müssen, um in den Garten zu kommen.
Manchmal nerven sie, die Japaner. In Okazaki behandeln einen die Leute
ganz normal und haben auch überwiegend keine Hemmungen, einen auf
Japanisch anzusprechen. So soll es sein, anders kann man ja die
Sprache nicht lernen. Wer immer mit dem Gedanken spielt,
Sprachunterricht in Japan zu nehmen: Ich kann von Tokyo aus den
genannten Gründen nur abraten. Je Kleinstadt, desto besser; das
habe ich mir seinerzeit bei der Wahl meiner Sprachschule gedacht, und
ich hatte Recht.
Der Garten kostet 200 Yen Eintritt, ist aber ganz nett
anzusehen . Ich sehe mehrere Japaner,
die mit Stativen zugange sind, um Fotos zu machen. Mir leuchtet nicht
so richtig ein, wozu. Wir haben strahlenden Sonnenschein (und
garantiert deutlich über 30 Grad), mithin so viel Licht, dass man
auch bei kleiner Blende noch aus der Hand fotografieren kann. Aber
vielleicht ist das Fotografieren mit Stativ ein Akt, den man um seiner
selbst willen zelebriert. Besonders lustig finde ich einen Japaner mit
einer digitalen Mini-Knipse, die kleiner ist als die Bodenplatte
seines recht professionell anmutenden Riesenstativs. Ich bin so
verblüfft, dass ich vergesse, ein Foto zu machen.
Vom anderen Ende des Gartens sind es nur fünf Minuten
Fußweg zum Yoyogi-Park. Dort strömt uns eine nicht enden
wollende Flut junger Japaner und Japanerinnen entgegen, alle in der
gleichen Uniformjacke, aber ansonsten schon unterschiedlich
gekleidet . Auf den ersten Blick
denken wir an eine Schulklasse, aber dafür sind es viel zu viele;
es müssen Hunderte sein. Wir können froh sein, dass der
Meiji-Schrein nicht mit dieser Reisegruppe geflutet ist, als wir dort
ankommen; sonst hätten wir dort nicht viel Ruhe gehabt. So ist es
ein ganz beschaulicher Schrein mitten in einem Wäldchen , an dessen südlichem
Ende das Olympiastadion von 1964 steht .
Hier fängt Harajuku an, ein Viertel, das Annegret als das
wiedererkennt, wo wir mit Declan am Samstagabend essen waren. Bei mir
fällt der Groschen etwas langsamer; ein und dieselbe Straße
wirkt am Tag total anders als bei
Nacht . Am Tage ist dies
jedenfalls die Einkaufsgegend junger, modebewusster Japaner.
Boutiken , Friseure ,
Schuhgeschäfte am laufenden Meter,
dazwischen eine Flut überwiegend junger und höchst
unterschiedlich gekleideter Japaner. Vom saloppen T-Shirt über
flippiges Outfit bis hin zu Schlips und Kragen ist hier alles vertreten.
Ich gehe dazu über, gezielt die Leute zu fotografieren und nicht
die Geschäfte oder die Straße, merke aber vereinzelt, dass
sie es merken. Als ich genug von Harajuku habe, gehe ich vom Bahnhof
aus noch einmal ein bisschen mit meinem Teleobjektiv auf die Jagd,
denn der liegt etwas erhöht, und von dort kann man prima in eine
der belebten Einkaufsstraßen hineinsehen .
Es wird Zeit, den Rückweg anzutreten, denn ich will noch ein
Stündchen ins Internet und endlich die Bilder weiter uploaden.
Mit Sorge orientiere ich mich am Bahnhof Shinjuku schon einmal etwas
und schaue nach den Gleisen für den Narita Express. Das kann ja
heiter werden; die sind ewig weit von dem Eingang entfernt, den ich
kenne.
Das Stündchen auf meinem Blumenkübel-Hotspot vergeht wie
im Fluge mit Tagebuchschreiben und Chatten, während der Upload
weiterläuft. Zwischendurch kommt ein Gärtner, um die
Pflanzen zu gießen. Statt mich aber dauerhaft zu verscheuchen
oder gar zu meckern dass ich die Pflanzen an einer Ecke schon etwas
plattgesessen habe, gießt er extra so, dass mein Sitzplatz
trocken bleibt und bedeutet mir, mich wieder hinzusetzen. Ich kann
wirklich nicht über die Freundlichkeit der Japaner meckern. Und
das Internet ist auch kostenlos ;-).
Während ich da so sitze, bettelt mich zum ersten Mal ein
Japaner an. Er erzählt mir auf Englisch eine Story, dass er kein
Dach über dem Kopf und kein Geld hat und daher im Park
übernachte. So arm sieht er eigentlich nicht aus, und er hat
Pech; ich habe so gut wie kein Kleingeld in der Tasche. In Deutschland
habe ich es mir irgendwie abgewöhnt, Bettlern etwas zu geben,
aber diesem hier gebe ich nach kurzem Zögern doch die paar
Münzen, die ich habe, insgesamt knapp 100 Yen. Mit Notebook auf
den Knien und teurer Spiegelreflex-Digitalkamera zu meinen
Füßen kann ich nur schwerlich heucheln, selbst eine arme
Socke zu sein. Später, als ich auf dem Heimweg noch letzte Fotos
mache, schon wieder zwei Bettler . Was heut nur los ist?
Zurück im Hotel erkläre ich dem Portier, dass ich einen
Knochenbruch habe und daher meinen rechten Arm nicht benutzen kann,
wie ich denn am besten nach Narita käme? Er hilft mir, mein
Gepäck rauszutragen, winkt mir ein Taxi herbei und sagt dem
Taxifahrer, er solle mich am Südeingang des Bahnhofs
absetzen.
Dort angekommen sage ich dem Taxifahrer in meinem besten Japanisch,
dass ich mir an der rechten Schulter einen Knochen gebrochen habe und
daher mit dem rechten Arm keine schweren Sachen heben kann. Ob er mir
wohl ein bisschen helfen könne? Hab ich also doch was
nützliches gelernt in meiner Sprachschule, denn er schleppt mir
meine schwere Reisetasche in den Bahnhof, wartet geduldig, bis ich
mein Ticket gekauft habe und begleitet mich dann bis zum richtigen
Bahnsteig. domo arigatoo gozaimashita.
Auch am Flughafen Narita spreche ich den erstbesten Uniformierten
an, der mir daraufhin mein Gepäck aus der U-Bahn-Station
raufschleppt bis zu einem Kofferkuli, von wo aus ich es vollends
alleine schaffe und pünktlich um 21:25 im Flieger sitze.
[Einige haben mich per E-Mail gefragt, wie es der Schulter denn nun
geht. Ich bin mir nicht wirklich sicher. Der Arm tut nicht weh,
solange ich ihn unten lasse, aber wenn ich ihn vorsichtig hebe, sticht
es doch noch. Insbesondere wenn ich spontan einen Schnappschuss im
Hochformat machen will, wozu ich die Kamera
gewohnheitsmäßig um 90 Grad nach links drehe, tut es
machmal noch weh. Die gelbgrünen Flecken von der Prellung sind zu
meiner Überraschung immer noch nicht ganz weg; war wohl doch ein
heftigerer Bums als ich zunächst dachte. Ich trage immer noch
dieses rucksackähnliche Dingens, denke aber, dass ich das jetzt
mal weglassen kann. Auf meinem Trip zum Flughafen hat es mir noch
insofern gute Dienste geleistet, als ich damit plausibel machen
konnte, Hilfe zu brauchen. Aber ich denke, damit hat es seinen Zweck
erfüllt. Ich werde mich aber weiterhin vorsichtig bewegen, um
nicht zu riskieren, dass der frisch zusammengewachsene Knochen wieder
einen Knacks kriegt.]
Im Flugzeug sitze ich neben einer Japanerin, die nach Australien
fliegt, um dort Englisch zu lernen. Ich spreche so gut es geht
Japanisch und sie Englisch; so können wir beide noch ein bisschen
üben. Gegen 1 falle ich in einen kurzen, unruhigen Schlaf, um wie
es scheint nur wenig später für die Landung in Cairns geweckt zu
werden.
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