31.8., Tokyo tawaa, Nihon Kiin

Heute ist mein Nachholbedarf an Schlaf nicht mehr ganz so groß und ich stehe um 9:30 auf. Das Frühstück im nahegelegenen "Caffe Veloce" ist zwar nichts besonderes, aber immerhin billig. Was tun mit einem Tag in Tokyo? Heute Nachmittag bin ich im Nihon Kiin angemeldet, um die Heiligen Hallen zu besichtigen. Ich blättere ein Weilchen in meinem Reiseführer und beschließe, den Tokyo Tower zu besteigen, denn das Wetter ist ganz passabel.

Der Tokyo Tower ähnelt dem Eiffelturm, ist aber mit 333 Metern glaube ich ein bisschen höher Foto dazu. Die Plattform auf 250 Meter Höhe soll eine traumhafte Aussicht über Tokyo bieten - ich bin gespannt. Die Eintrittspreise sind jedenfalls gesalzen: 820 Yen für die untere Plattform auf 150 m und nochmal 600 für den Aufzug ganz nach oben. Ich schieße zunächst systematisch Weitwinkel-Fotos rundrum; vielleicht kann ich die eines Tages mit einer schlauen Panorama-Software zusammenpuzzeln. Ansonsten sagen die Fotos mehr als tausend Worte Foto dazu.

Tokyo ist unglaublich groß. Die Stadt endet einfach nicht, so weit das Auge reicht. Und die Wolkenkratzer konzentrieren sich auch nicht nur in einem Stadtviertel, sondern es gibt mehrere Gegenden mit hohen Gebäuden; eine davon West-Shinjuku Foto dazu, das ich, obwohl mein Hotel in Ost-Shinjuku ist, noch nicht besichtigt habe. Nun kann ich es mir immerhin mit dem Teleobjektiv heranholen Foto dazu.

Im "Cafe de la Tour" Foto dazu auf der größeren Aussichtsplattform nehme ich noch einen Kaffee und einen kleinen Snack und lasse die Aussicht eine Weile auf mich wirken.

Direkt neben dem Tokyo Tower scheint eine Art Tempel zu sein Foto dazu; den will ich doch gleich mal besichtigen gehen. Der Reiseführer verrät mir, dass es sich um Zojo-ji handelt. Ich finde es immer wieder faszinierend, in einer japanischen (Groß-)Stadt das Nebeneinander von Alt und Neu, von Tradition und High-Tech zu sehen. Ganz drastisch war das die Tage in Kyoto mit den Schreinen und Toori mitten im Einkaufszentrum, aber auch dieser Tempel am Fuße des Tokyo Tower gefällt mir Foto dazu Foto dazu. Wenn ich so drüber nachdenke, ist das aber vielleicht doch nichts so Besonderes; womöglich würde ein Japaner die über ganz Hannover verstreuten alten Kirchen als ebensolche Kontraste zu den Kaufhäusern empfinden. In einem der kleineren Gebäude scheint ein prachtvoll gekleideter Mönch(?) gerade zu beten; ich trau mich erst nicht recht, zu fotografieren, tue es dann aber doch Foto dazu.

Mittlerweile ist es nach 14 Uhr und ich mache mich auf den Weg zum Nihon-Kiin. Auf deren Homepage ist eine kleine Skizze, die den Weg von der U-Bahn-Station Ichigaya beschreibt; das sollte eigentlich ganz einfach sein. Ist es aber nicht. Mir ist der Maßstab der Skizze nicht ganz klar. Ich bin definitiv auf der richtigen Seite des Bahnhofs, denn auf der anderen ist ein Kanal. Aber die erwartete Ecke mit der Bank of Tokyo-Mitsubishi kommt und kommt einfach nicht. Ich kehre um und stelle fest, dass ich mal wieder darauf reingefallen bin, dass die U-Bahn-Stationen hier so viele Ausgänge haben. Der Ausgang, aus dem ich rausgekommen bin, liegt schon jenseits der kleinen Skizze vom Nihon-Kiin, und das Ding liegt viel näher am Bahnhof als ich dachte.

Ich kenne das Gebäude ja aus Hikaru no Go zur Genüge, sollte man meinen. Aber in der Realität wirkt es doch ganz anders Foto dazu. Zum Einen kann ich den bekannten Schriftzug nicht erkennen (später beim Betrachten des Fotos fällt mir auf, dass er durchaus genau an derselben Stelle ist wie im Anime, nur von einem Gerüst verdeckt). Zum Anderen hatte ich mir das Gebäude größer und vor allem die Straße davor breiter vorgestellt Foto dazu. Aber egal, das ist es definitiv.

In der Eingangshalle sind in Vitrinen Go-Bretter und Fotos von Go-Spielern ausgestellt, was die letzten Zweifel beseitigt Foto dazu. Aber ansonsten komme ich mir etwas verloren vor; hier ist kein Mensch, kein Empfangsschalter, nichts. Und die Schilder sind nur in Kanji geschrieben Foto dazu. Mist, ich muss unbedingt Kanji lernen, so geht das ja hier nicht weiter. Ich entdecke in einer Ecke aber dann doch ein Schild, auf dem "International Office" steht - siebter Stock.

Der siebte Stock sieht irgendwie gar nicht nach Go aus - nur Büros Foto dazu. Ich frage, ob Ueji san da ist (Stefan Hruschka hatte mit ihr gesprochen und meinen Besichtigungstermin vereinbart) und werde auf den vierten Stock verwiesen. Dort erfahre ich, dass Ueji san gerade Pause macht, aber ob ich hararudo san sei? Ja, der bin ich. Eine andere Dame übernimmt daraufhin die Hausführung. Die bisher gewechselten wenigen Sätze waren tatsächlich auf Japanisch, aber als sie dann loslegt und ich leicht verständnislos gucke, wechselt sie dann doch auf Englisch.

Im 6. Stock stehen wir am Eingang zu den Profi-Spielräumen, aber leider darf ich nicht rein Foto dazu. Sie erklärt mir, dass hier gerade puro shiken läuft, also das Prüfungsturnier für die neuen Profis. Und da kann man wohl leider keine knipsenden Europäer gebrauchen. Im Nachhinein ärgere ich mich, dass ich nicht doch etwas mehr gebettelt habe; wenigstens mal um die Ecke gucken, zur Note auch ohne Kamera, hätt ich eigentlich schon gewollt.

Im 5. Stock Foto dazu ist der berühmte Raum, dessen Namen ich andauernd vergesse, in dem jedenfalls die wichtigen Titelkämpfe ausgetragen werden. Er wird eigens für mich aufgeschlossen, und ich darf nach Herzenslust fotografieren Foto dazu Foto dazu Foto dazu. Leider steht kein Go-Brett drin; das wird wohl immer weggeräumt. So ist es letztlich ein eher unspektakuläres japanisches Tatami-Zimmer; lediglich die Kameras in den Ecken des Raums Foto dazu und in der Decke Foto dazu über der Stelle, wo normalerweise Go-Tisch steht, fallen auf.

Ich frage meine Führerin, was denn die restlichen Räume in diesem Stockwerk sind und sie erklärt mir, es handele sich um ein Ryokan. Habe ich das richtig verstanden? Ich bin mir nicht ganz sicher. Ryokan wäre so eine Art Hotel; man kann diese Zimmer mieten? Ich gehe den Gang entlang Foto dazu und schaue verstohlen um eine Ecke; dort höre ich eine Unterhaltung und das gelegentliche Klacken von Go-Steinen. Partieanalysen? Ich weiß es nicht; sehen kann ich nichts.

Meine Begleiterin erklärt mir noch, dass die übrigen Stockwerke Büros beherbergen und geleitet mich dann in den zweiten Stock, der für den Publikumsverkehr gedacht ist. Hier gibt es einen kleinen Shop mit Go-Büchern und -Material Foto dazu, einen großen Spielsaal Foto dazu und einen Nebensaal Foto dazu, in dem wohl Go-Unterricht gegeben wird. Meine Begleiterin erklärt mir noch, dass ich 1000 Yen bezahlen muss, wenn ich spielen möchte, und dass das ein Sonderpreis für "Foreigner" sei Foto dazu. Wie fremd man sein muss, um für 1000 statt 1200 Yen spielen zu dürfen, ist mir allerdings nicht klar. Blond und blauäugig scheint zu genügen.

Das Spielen geht hier anscheinend nicht ganz so zwanglos vor sich wie in der Provinz in Okazaki. Jeder hat ein Kärtchen mit seiner Spielstärke und seinen gespielten Partien Foto dazu, und es gibt einen Wartebereich, in dem man darauf wartet, dass man einen Gegner zugeteilt bekommt Foto dazu. Nachdem ich ausführlich alles fotografiert habe, beschließe ich, ein Spielchen zu wagen.

Der Mensch, der hier die Losung macht Foto dazu, weiß anscheinend um die Rating-Unterschiede zwischen Europa und Japan und meint, ich solle mich hier als Shodan einstufen. Das scheint mir dann doch etwas zu hoch gegriffen und wir einigen uns nach einigem Feilschen auf 1 Kyu. Er hat gleich einen Gegner für mich parat, mit dem ich endlich wieder ein bisschen Japanisch üben kann, denn er kann anscheinend kein Englisch Foto dazu.

Die Partie läuft gut. Ich liege leicht in Führung und habe das Gefühl, gewinnen zu können, als ich versehentlich noch eine 30-Steine-Gruppe meines Gegners umhaue. Das war gar nicht beabsichtigt; als ich nach einem lokalen Gefecht auf der anderen Seite des Brettes wieder hinschaue, sehe ich, dass seine Gruppe plötzlich nicht mehr angebunden ist und eigentlich nur ein Auge hat, wenn ich dort ziehe und dafür lokal drei Steine weggebe. Er sieht anscheinend, was ihm gerade passiert ist, kämpft aber noch 20 Minuten weiter wie ein Löwe. Das ist eigentlich kein guter Stil, denn meine umgebenden Festungen sind stabil, da ist nichts zu machen. Als ich gerade zu denken beginne, dass er tatsächlich noch das ganze Endspiel durchziehen will, gibt er doch auf.

Wir gehen mit unseren Kärtchen nach vorne und bekommen einen amtlichen Stempel mit dem Ergebnis: Ich einen Kreis, mein Gegner ein Kreuz. Da habe ich ja jetzt eine nette Trophäe aus Japan Foto dazu.

Ich bekomme gleich eine weitere Partie angeboten, die ich aber dankend ablehne. Es ist kurz nach 18 Uhr, und ich wollte mich heute Abend mit Stefan Hruschka treffen. Das ist ein Go-Spieler aus Deutschland, der schon seit einigen Jahren in Tokyo lebt und arbeitet, und dessen E-Mail-Adresse mir Christoph Gerlach freundlicherweise gegeben hatte. Ihn hatte ich vor einiger Zeit angeschrieben, und er hat freundlicherweise für mich beim Nihon-Kiin angerufen und diese kleine Besichtigung ermöglicht. Ich hätte außerdem die drei Nächte bei ihm wohnen können, aber da es mir zu umständlich schien, mit meinem gebrochenen Schlüsselbein mein Gepäck durch halb Tokyo zu schleppen, habe ich diese Einladung doch nicht angenommen und bin in dem Hotel geblieben, das Declan für uns gebucht hat. Wie ich morgen zum Flughafen kommen soll, weiß ich allerdings noch nicht.

Stefan muss noch ungefähr ein Stündchen arbeiten und will mich auf dem Handy anrufen, wenn er fertig ist. Wir verabreden, dass ich in der Zwischenzeit schon mal nach Akasaka fahre. Ich schaue mir das auf dem Stadtplan an und beschließe, mindestens einen Teil des Weges zu Fuß zu gehen; noch ein bisschen Tokyo besichtigen kann ja nicht schaden.

Ich marschiere also in der Abenddämmerung am Kanal entlang, mache noch ein Wo-ist-der-Nihon-Kiin-Suchbild Foto dazu und beginne mich im Laufe der Zeit immer mehr zu wundern, dass der einfach nicht enden will. Laut meinem Stadtplan müsste er eigentlich irgendwann zuende sein. Komisch. Nach einer halben Stunde gemütlichen Spazierengehens sehe ich wieder eine U-Bahn-Station und des Rätsels Lösung: Ich hatte den Stadtplan versehentlich um 180 Grad gedreht im Kopf und bin genau in die falsche Richtung gelaufen. Dann wird der Weg nach Akasaka jetzt leider etwas weiter.

Viele U-Bahn-Netz-Pläne haben eine Umschrift in lateinischen Buchstaben, aber der, vor dem ich jetzt stehe, ist wieder mal nur in Kanji. Während ich mich gerade zu erinnern versuche, wie die Schriftzeichen für Akasaka aussehen, spricht mich eine freundliche Japanerin an, ob ich ihr Tagesticket gebrauchen könne und wo ich denn hinwolle. Das ist ja super nett; sie braucht es nicht mehr und schenkt es einem hilflos aussehenden Gaijin. Ich weiß gar nicht, warum sich die anderen immer beklagt haben, die Leute in Tokyo seien weniger hilfsbereit als die in Okazaki. Ich kann jedenfalls nicht meckern. Und die Station bekomm ich auf dem Plan auch noch gezeigt.

Der Anruf von Stefan erreicht mich natürlich mitten im U-Bahn-Tunnel und die Verbindung reißt ab, bevor er mir erklären kann, wo wir uns treffen wollen. In der nächsten Station rufe ich ihn an, und es erweist sich als ausgesprochen schwierig für ihn, mir den Weg zu erklären. Denn ich habe nicht den blassesten Schimmer, wo ich hier bin, und alles, was ich ihm beschreibe, sagt ihm nichts. Ich will gar nicht wissen, was dieses Handy-Telefonat gekostet hat. Jedenfalls essen wir in einem kleinen japanischen Restaurant zu Abend Foto dazu (ich Ramen), unterhalten uns ein bisschen und gegen 22 Uhr trete ich die Rückfahrt nach Shinjuku an.

Da ich gerade in der Marunoche-Linie sitze, fahre ich direkt zu der Station mit "meinem" WLAN-Hotspot, um in meine Mail zu schauen. Da das Hosting meiner Bilder bei Yamasa immer noch nicht klappt, hat mir Peter Siering angeboten, meine Bilder auf seinen Server zu schieben. Die Web-Galerie ist inzwischen auf 415 MByte angewachsen; die Originalbilder belegen 3,6 GByte. Ich uploade, dass die "Leitung" nur so qualmt, schaffe aber bis mein Akku gegen kurz vor 1 aufgibt nur etwas mehr als die Hälfte :-(. Dummerweise ist das die Hälfte, die sowieso schon auf haraldsfotos.de steht, sodass meine Fans sich noch ein bisschen länger gedulden müssen, bis sie endlich aktuelle Fotos zu sehen kriegen.

Die Zeit überbrücke ich mit Telefonieren, was wirklich ausgesprochen gut funktioniert. Es knackst zwar immer mal und hat gelegentliche kurze Aussetzer, aber dafür, dass es nur 1,8 Cent pro Minute kostet und über ein wildes WLAN geht, über das ich zusätzlich mit voller Kraft Bilder auf Peters Server schiebe, kann man echt nicht meckern.

Es ist außerdem ganz nett zu sehen, wie Shibuya allmählich einschläft. Diese Straße ist tagsüber eine belebte Einkaufsstraße, und auch nach 22 Uhr, als die Kaufhäuser längst zu haben, sieht man noch viele Fußgänger. Wenn man genau hinschaut, kann man erkennen, dass der Anteil angetrunkener Männer im Laufe des Abends zunimmt; die Geschäftsleute schwanken anscheinend nach einem Besäufnis mit ihren Kollegen nach Hause. Mir gegenüber hat sich ein Japaner hingesetzt und ist eingeschlafen. Für einen Obdachlosen ist er meinem Gefühl nach etwas zu gut gekleidet; jedenfalls hat er eine Plastiktüte und einen Regenschirm bei sich und schläft hier friedlich, bis ich gegen 1 in Richtung Hotel aufbreche.

Auf dem Rückweg beschließe ich spontan, einmal nicht die Hauptstraße entlangzugehen, sondern eine kleine Parallelstraße. Und da finde ich endlich, an meinem letzten Abend, als ich zu müde bin, um noch auszugehen, was ich die ganze Zeit lang keine Zeit hatte zu suchen (Fotos vom nächsten Tag:  Foto dazu Foto dazu Foto dazu). Wer hätte das gedacht, dass einige einschlägige Bars nur 100 Meter von meinem Hotel entfernt sind? Declan hatte zwar sowas angedeutet, aber es war mir bisher im Straßenbild nicht wirklich aufgefallen. So gesehen kann ich mir das Hotel wohl mal merken. Obwohl ich durchaus, wenn ich noch einmal nach Tokyo komme, auch nichts dagegen hätte, für weniger als 7900 Yen pro Nacht zu wohnen.

 

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©2004 by Harald Bögeholz