Heute ist mein Nachholbedarf an Schlaf nicht mehr ganz so
groß und ich stehe um 9:30 auf. Das Frühstück im
nahegelegenen "Caffe Veloce" ist zwar nichts besonderes, aber immerhin
billig. Was tun mit einem Tag in Tokyo? Heute Nachmittag bin ich im
Nihon Kiin angemeldet, um die Heiligen Hallen zu besichtigen. Ich
blättere ein Weilchen in meinem Reiseführer und
beschließe, den Tokyo Tower zu besteigen, denn das Wetter ist
ganz passabel.
Der Tokyo Tower ähnelt dem Eiffelturm, ist aber mit 333 Metern
glaube ich ein bisschen höher . Die Plattform auf 250
Meter Höhe soll eine traumhafte Aussicht über Tokyo bieten -
ich bin gespannt. Die Eintrittspreise sind jedenfalls gesalzen: 820
Yen für die untere Plattform auf 150 m und nochmal 600
für den Aufzug ganz nach oben. Ich schieße zunächst
systematisch Weitwinkel-Fotos rundrum; vielleicht kann ich die eines
Tages mit einer schlauen Panorama-Software zusammenpuzzeln. Ansonsten
sagen die Fotos mehr als tausend Worte .
Tokyo ist unglaublich groß. Die Stadt endet einfach nicht, so
weit das Auge reicht. Und die Wolkenkratzer konzentrieren sich auch
nicht nur in einem Stadtviertel, sondern es gibt mehrere Gegenden mit
hohen Gebäuden; eine davon West-Shinjuku , das ich, obwohl mein
Hotel in Ost-Shinjuku ist, noch nicht besichtigt habe. Nun kann ich es
mir immerhin mit dem Teleobjektiv heranholen .
Im "Cafe de la Tour" auf der größeren Aussichtsplattform
nehme ich noch einen Kaffee und einen kleinen Snack und lasse die
Aussicht eine Weile auf mich wirken.
Direkt neben dem Tokyo Tower scheint eine Art Tempel zu
sein ; den will ich doch gleich
mal besichtigen gehen. Der Reiseführer verrät mir, dass es
sich um Zojo-ji handelt. Ich finde es immer wieder faszinierend, in
einer japanischen (Groß-)Stadt das Nebeneinander von Alt und
Neu, von Tradition und High-Tech zu sehen. Ganz drastisch war das die
Tage in Kyoto mit den Schreinen und Toori mitten im Einkaufszentrum,
aber auch dieser Tempel am Fuße des Tokyo Tower gefällt
mir . Wenn ich so drüber
nachdenke, ist das aber vielleicht doch nichts so Besonderes;
womöglich würde ein Japaner die über ganz Hannover
verstreuten alten Kirchen als ebensolche Kontraste zu den
Kaufhäusern empfinden. In einem der kleineren Gebäude
scheint ein prachtvoll gekleideter Mönch(?) gerade zu beten; ich
trau mich erst nicht recht, zu fotografieren, tue es dann aber
doch .
Mittlerweile ist es nach 14 Uhr und ich mache mich auf den Weg zum
Nihon-Kiin. Auf deren Homepage ist eine kleine Skizze, die den Weg von
der U-Bahn-Station Ichigaya beschreibt; das sollte eigentlich ganz
einfach sein. Ist es aber nicht. Mir ist der Maßstab der Skizze
nicht ganz klar. Ich bin definitiv auf der richtigen Seite des
Bahnhofs, denn auf der anderen ist ein Kanal. Aber die erwartete Ecke
mit der Bank of Tokyo-Mitsubishi kommt und kommt einfach nicht. Ich
kehre um und stelle fest, dass ich mal wieder darauf reingefallen bin,
dass die U-Bahn-Stationen hier so viele Ausgänge haben. Der
Ausgang, aus dem ich rausgekommen bin, liegt schon jenseits der
kleinen Skizze vom Nihon-Kiin, und das Ding liegt viel näher am
Bahnhof als ich dachte.
Ich kenne das Gebäude ja aus Hikaru no Go zur Genüge,
sollte man meinen. Aber in der Realität wirkt es doch ganz
anders . Zum Einen kann ich den
bekannten Schriftzug nicht erkennen (später beim Betrachten des
Fotos fällt mir auf, dass er durchaus genau an derselben Stelle
ist wie im Anime, nur von einem Gerüst verdeckt). Zum Anderen
hatte ich mir das Gebäude größer und vor allem die
Straße davor breiter vorgestellt . Aber egal, das ist es
definitiv.
In der Eingangshalle sind in Vitrinen Go-Bretter und Fotos von
Go-Spielern ausgestellt, was die letzten Zweifel beseitigt . Aber ansonsten komme ich
mir etwas verloren vor; hier ist kein Mensch, kein Empfangsschalter,
nichts. Und die Schilder sind nur in Kanji geschrieben . Mist, ich muss unbedingt
Kanji lernen, so geht das ja hier nicht weiter. Ich entdecke in einer
Ecke aber dann doch ein Schild, auf dem "International Office" steht -
siebter Stock.
Der siebte Stock sieht irgendwie gar nicht nach Go aus - nur
Büros . Ich frage, ob Ueji san da
ist (Stefan Hruschka hatte mit ihr gesprochen und meinen
Besichtigungstermin vereinbart) und werde auf den vierten Stock
verwiesen. Dort erfahre ich, dass Ueji san gerade Pause macht, aber ob
ich hararudo san sei? Ja, der bin ich. Eine andere Dame
übernimmt daraufhin die Hausführung. Die bisher gewechselten
wenigen Sätze waren tatsächlich auf Japanisch, aber als sie
dann loslegt und ich leicht verständnislos gucke, wechselt sie
dann doch auf Englisch.
Im 6. Stock stehen wir am Eingang zu den Profi-Spielräumen,
aber leider darf ich nicht rein . Sie erklärt mir,
dass hier gerade puro shiken läuft, also das
Prüfungsturnier für die neuen Profis. Und da kann man wohl
leider keine knipsenden Europäer gebrauchen. Im Nachhinein
ärgere ich mich, dass ich nicht doch etwas mehr gebettelt habe;
wenigstens mal um die Ecke gucken, zur Note auch ohne Kamera,
hätt ich eigentlich schon gewollt.
Im 5. Stock ist der berühmte
Raum, dessen Namen ich andauernd vergesse, in dem jedenfalls die
wichtigen Titelkämpfe ausgetragen werden. Er wird eigens für
mich aufgeschlossen, und ich darf nach Herzenslust
fotografieren . Leider steht kein
Go-Brett drin; das wird wohl immer weggeräumt. So ist es
letztlich ein eher unspektakuläres japanisches Tatami-Zimmer;
lediglich die Kameras in den Ecken des Raums und in der Decke über der Stelle, wo
normalerweise Go-Tisch steht, fallen auf.
Ich frage meine Führerin, was denn die restlichen Räume
in diesem Stockwerk sind und sie erklärt mir, es handele sich um
ein Ryokan. Habe ich das richtig verstanden? Ich bin mir nicht ganz
sicher. Ryokan wäre so eine Art Hotel; man kann diese Zimmer
mieten? Ich gehe den Gang entlang und schaue verstohlen um
eine Ecke; dort höre ich eine Unterhaltung und das gelegentliche
Klacken von Go-Steinen. Partieanalysen? Ich weiß es nicht; sehen
kann ich nichts.
Meine Begleiterin erklärt mir noch, dass die übrigen
Stockwerke Büros beherbergen und geleitet mich dann in den
zweiten Stock, der für den Publikumsverkehr gedacht ist. Hier
gibt es einen kleinen Shop mit Go-Büchern und -Material , einen
großen Spielsaal und einen Nebensaal , in dem wohl Go-Unterricht
gegeben wird. Meine Begleiterin erklärt mir noch, dass ich 1000
Yen bezahlen muss, wenn ich spielen möchte, und dass das ein
Sonderpreis für "Foreigner" sei . Wie fremd man sein muss, um
für 1000 statt 1200 Yen spielen zu dürfen, ist mir
allerdings nicht klar. Blond und blauäugig scheint zu
genügen.
Das Spielen geht hier anscheinend nicht ganz so zwanglos vor sich
wie in der Provinz in Okazaki. Jeder hat ein Kärtchen mit seiner
Spielstärke und seinen gespielten Partien , und es gibt einen
Wartebereich, in dem man darauf wartet, dass man einen Gegner
zugeteilt bekommt . Nachdem ich
ausführlich alles fotografiert habe, beschließe ich, ein
Spielchen zu wagen.
Der Mensch, der hier die Losung macht , weiß anscheinend um
die Rating-Unterschiede zwischen Europa und Japan und meint, ich solle
mich hier als Shodan einstufen. Das scheint mir dann doch etwas zu
hoch gegriffen und wir einigen uns nach einigem Feilschen auf
1 Kyu. Er hat gleich einen Gegner für mich parat, mit dem
ich endlich wieder ein bisschen Japanisch üben kann, denn er kann
anscheinend kein Englisch .
Die Partie läuft gut. Ich liege leicht in Führung und
habe das Gefühl, gewinnen zu können, als ich versehentlich
noch eine 30-Steine-Gruppe meines Gegners umhaue. Das war gar nicht
beabsichtigt; als ich nach einem lokalen Gefecht auf der anderen Seite
des Brettes wieder hinschaue, sehe ich, dass seine Gruppe
plötzlich nicht mehr angebunden ist und eigentlich nur ein Auge
hat, wenn ich dort ziehe und dafür lokal drei Steine weggebe. Er
sieht anscheinend, was ihm gerade passiert ist, kämpft aber noch
20 Minuten weiter wie ein Löwe. Das ist eigentlich kein guter
Stil, denn meine umgebenden Festungen sind stabil, da ist nichts zu
machen. Als ich gerade zu denken beginne, dass er tatsächlich
noch das ganze Endspiel durchziehen will, gibt er doch auf.
Wir gehen mit unseren Kärtchen nach vorne und bekommen einen
amtlichen Stempel mit dem Ergebnis: Ich einen Kreis, mein Gegner ein
Kreuz. Da habe ich ja jetzt eine nette Trophäe aus Japan .
Ich bekomme gleich eine weitere Partie angeboten, die ich aber
dankend ablehne. Es ist kurz nach 18 Uhr, und ich wollte mich heute
Abend mit Stefan Hruschka treffen. Das ist ein Go-Spieler aus
Deutschland, der schon seit einigen Jahren in Tokyo lebt und arbeitet,
und dessen E-Mail-Adresse mir Christoph Gerlach freundlicherweise
gegeben hatte. Ihn hatte ich vor einiger Zeit angeschrieben, und er
hat freundlicherweise für mich beim Nihon-Kiin angerufen und
diese kleine Besichtigung ermöglicht. Ich hätte
außerdem die drei Nächte bei ihm wohnen können, aber
da es mir zu umständlich schien, mit meinem gebrochenen
Schlüsselbein mein Gepäck durch halb Tokyo zu schleppen,
habe ich diese Einladung doch nicht angenommen und bin in dem Hotel
geblieben, das Declan für uns gebucht hat. Wie ich morgen zum
Flughafen kommen soll, weiß ich allerdings noch nicht.
Stefan muss noch ungefähr ein Stündchen arbeiten und will
mich auf dem Handy anrufen, wenn er fertig ist. Wir verabreden, dass
ich in der Zwischenzeit schon mal nach Akasaka fahre. Ich schaue mir
das auf dem Stadtplan an und beschließe, mindestens einen Teil
des Weges zu Fuß zu gehen; noch ein bisschen Tokyo
besichtigen kann ja nicht schaden.
Ich marschiere also in der Abenddämmerung am Kanal entlang,
mache noch ein Wo-ist-der-Nihon-Kiin-Suchbild und beginne mich im Laufe
der Zeit immer mehr zu wundern, dass der einfach nicht enden will.
Laut meinem Stadtplan müsste er eigentlich irgendwann zuende
sein. Komisch. Nach einer halben Stunde gemütlichen
Spazierengehens sehe ich wieder eine U-Bahn-Station und des
Rätsels Lösung: Ich hatte den Stadtplan versehentlich um 180
Grad gedreht im Kopf und bin genau in die falsche Richtung gelaufen.
Dann wird der Weg nach Akasaka jetzt leider etwas weiter.
Viele U-Bahn-Netz-Pläne haben eine Umschrift in lateinischen
Buchstaben, aber der, vor dem ich jetzt stehe, ist wieder mal nur in
Kanji. Während ich mich gerade zu erinnern versuche, wie die
Schriftzeichen für Akasaka aussehen, spricht mich eine
freundliche Japanerin an, ob ich ihr Tagesticket gebrauchen könne
und wo ich denn hinwolle. Das ist ja super nett; sie braucht es nicht
mehr und schenkt es einem hilflos aussehenden Gaijin. Ich weiß
gar nicht, warum sich die anderen immer beklagt haben, die Leute in
Tokyo seien weniger hilfsbereit als die in Okazaki. Ich kann
jedenfalls nicht meckern. Und die Station bekomm ich auf dem Plan auch
noch gezeigt.
Der Anruf von Stefan erreicht mich natürlich mitten im
U-Bahn-Tunnel und die Verbindung reißt ab, bevor er mir
erklären kann, wo wir uns treffen wollen. In der nächsten
Station rufe ich ihn an, und es erweist sich als ausgesprochen
schwierig für ihn, mir den Weg zu erklären. Denn ich habe
nicht den blassesten Schimmer, wo ich hier bin, und alles, was ich ihm
beschreibe, sagt ihm nichts. Ich will gar nicht wissen, was dieses
Handy-Telefonat gekostet hat. Jedenfalls essen wir in einem kleinen
japanischen Restaurant zu Abend (ich Ramen), unterhalten
uns ein bisschen und gegen 22 Uhr trete ich die Rückfahrt nach
Shinjuku an.
Da ich gerade in der Marunoche-Linie sitze, fahre ich direkt zu der
Station mit "meinem" WLAN-Hotspot, um in meine Mail zu schauen. Da das
Hosting meiner Bilder bei Yamasa immer noch nicht klappt, hat mir
Peter Siering angeboten, meine Bilder auf seinen Server zu schieben.
Die Web-Galerie ist inzwischen auf 415 MByte angewachsen; die
Originalbilder belegen 3,6 GByte. Ich uploade, dass die "Leitung" nur
so qualmt, schaffe aber bis mein Akku gegen kurz vor 1 aufgibt nur
etwas mehr als die Hälfte :-(. Dummerweise ist das die
Hälfte, die sowieso schon auf haraldsfotos.de steht, sodass meine
Fans sich noch ein bisschen länger gedulden müssen, bis sie
endlich aktuelle Fotos zu sehen kriegen.
Die Zeit überbrücke ich mit Telefonieren, was wirklich
ausgesprochen gut funktioniert. Es knackst zwar immer mal und hat
gelegentliche kurze Aussetzer, aber dafür, dass es nur 1,8 Cent
pro Minute kostet und über ein wildes WLAN geht, über das
ich zusätzlich mit voller Kraft Bilder auf Peters Server schiebe,
kann man echt nicht meckern.
Es ist außerdem ganz nett zu sehen, wie Shibuya
allmählich einschläft. Diese Straße ist tagsüber
eine belebte Einkaufsstraße, und auch nach 22 Uhr, als die
Kaufhäuser längst zu haben, sieht man noch viele
Fußgänger. Wenn man genau hinschaut, kann man erkennen,
dass der Anteil angetrunkener Männer im Laufe des Abends zunimmt;
die Geschäftsleute schwanken anscheinend nach einem
Besäufnis mit ihren Kollegen nach Hause. Mir gegenüber hat
sich ein Japaner hingesetzt und ist eingeschlafen. Für einen
Obdachlosen ist er meinem Gefühl nach etwas zu gut gekleidet;
jedenfalls hat er eine Plastiktüte und einen Regenschirm bei sich
und schläft hier friedlich, bis ich gegen 1 in Richtung Hotel
aufbreche.
Auf dem Rückweg beschließe ich spontan, einmal nicht die
Hauptstraße entlangzugehen, sondern eine kleine
Parallelstraße. Und da finde ich endlich, an meinem letzten
Abend, als ich zu müde bin, um noch auszugehen, was ich die ganze
Zeit lang keine Zeit hatte zu suchen (Fotos vom nächsten Tag:
). Wer hätte das
gedacht, dass einige einschlägige Bars nur 100 Meter von meinem
Hotel entfernt sind? Declan hatte zwar sowas angedeutet, aber es war
mir bisher im Straßenbild nicht wirklich aufgefallen. So gesehen
kann ich mir das Hotel wohl mal merken. Obwohl ich durchaus, wenn ich
noch einmal nach Tokyo komme, auch nichts dagegen hätte, für
weniger als 7900 Yen pro Nacht zu wohnen.
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