[Heute lass ich mal den langweiligen Teil des Tagebuchs mit
Aufstehen, Schule, Mittagessen und nochmal Schule weg und komme gleich
zum interessanten Teil.]
Nach der Schule überfliege ich nochmal schnell die Vokabeln
für Körperteile, Knochenbrüche, Verkehrsunfälle
und dergleichen und gehe ins Studentenbüro. Dort schaffe ich es
tatsächlich, komplett auf Japanisch mein Problem zu erklären
und sogar die Antworten zu verstehen. Hier sind sie anscheinend darauf
eingestellt, mit ausländischen Studenten in langsamen, einfachen
Sätzen zu sprechen. Das freut mich jetzt doch irgendwie, hab
ich also doch schon ein bisschen was gelernt hier.
Sie will mit mir rüber ins Krankenhaus gehen, ich muss nur noch
schnell ein Viertelstündchen warten. Es stellt sich heraus, dass
das Krankenhaus quasi im Nachbargebäude ist. Irgendwie hatte ich
das entweder nie wahrgenommen oder schon wieder vergessen. Gleich zu
Beginn wäre ich ohne meine freundliche Helferin aufgeschmissen
gewesen, denn ich muss ein Formular ausfüllen. Das einzige, was
ich davon selbst schreibe, ist mein Name. Hihi, und ich muss in der
Zeile darüber Furigama in Katakana schreiben, damit die Japaner
wissen, wie man meinen Namen ausspricht.
Furigama sind Lesehilfen; ich hatte glaube ich schon mal
erwähnt, dass in meinem Lehrbuch über jedem Kanji klein in
Hiragana die Aussprache steht, sonst könnte ich gar nichts lesen
hier. Leider haben die Kanji in der realen Welt meist keine Furigama
drüber. Anyway, jetzt ist der Moment, in dem ich mich entscheiden
muss, wie die Japaner meinen Nachnamen aussprechen sollen. Der Vorname
lautet hararudo; daran habe ich mich längst gewöhnt.
Ich schreibe in Katakana bogehorutsu, das scheint mir die
plausibelste Näherung zu sein. Meine Begleiterin, deren Namen ich
leider nicht weiß, fragt mich noch die Krankenhaus-üblichen
Dinge: Allergien gegen Medikamente, Schwere Erkrankungen etc. und
schreibt dann mit einem Wust von Kanji das auf, was ich ihr über
die Ursache meiner Verletzung erzählt habe (glaube ich).
Dann warten wir ein Weilchen, aber es geht erfreulich schnell: Nach
ca. einer Viertelstunde wird mein Name aufgerufen. Ich habe mit
bogehorutsu eine gute Wahl getroffen; die Japaner sprechen es
tatsächlich in einer Weise aus, dass ich mich angesprochen
fühle.
Der Arzt ist ein ziemlich alter Herr und fängt gleich an, die
Schulter abzutasten, mit meinem Arm gewisse Bewegungen zu
vollführen, mal hier zu klopfen und mal da zu ziehen.
Lustigerweise tut nichts davon so schlimm weh wie die Bewegung, die
ich machen muss, um mein T-Shirt auszuziehen. Ich hatte mir das anders
vorgestellt; Ärzte wissen doch in solchen Situationen
normalerweise genau, wo sie drücken müssen, damit es maximal
wehtut. Es ist trotzdem eine sehr gute Übung für mein
Japanisch. Als wir in Kapitel 17 waren, habe ich keinen besondern Wert
auf das Vokabular für einen Arztbesuch gelegt. Jetzt werde ich
glaube ich den Unterschied zwischen Aua, es tut weh, es tut ein
bisschen weh und es tut überhaupt nicht weh so schnell nicht mehr
vergessen. Ist ja schließlich ein Intensivkurs Japanisch hier
:-).
Er sagt nicht allzu viel, sodass der Frust sich in Grenzen
hält. Zu meinem Erstaunen verstehe ich rentogen shashin
sofort; der gute alte Röntgen wurde also direkt ins Japanische
importiert und nicht über den X-Ray-Umweg, obwohl ich inzwischen
nachgeschlagen habe, dass X-Ray irgendwie auch als japanisches Wort
ausgesprochen werden kann. Also gehen wir in die
Röntgenabteilung, machen ein Röntgenbild und nach
erstaunlich wenigen Minuten Wartezeit darf ich wieder zum Doktor.
Der murmelt Unverständliches in seinen nicht vorhandenen Bart,
deutet auf eine Stelle auf dem Röntgenbild, an der
tatsächlich eine Lücke klafft, aber ist das nicht eine ganz
normale Lücke zwischen zwei Knochen? Er tastet mich noch ein
bisschen ab und sagt dann etwas von vergleichen; ich kapiere
irgendwie, dass er sich anscheinend nicht ganz sicher ist und noch ein
Röntgenbild von meiner intakten Schulter machen will. Mein
Vertrauen in ihn leidet darunter zwar geringfügig, aber
andererseits - genau so bin ich bei meiner Selbstdiagnose ja auch
vorgegangen. Wozu habe ich schließlich eine intakte
Referenzschulter mitgebracht?
Eine Viertelstunde später vergleichen wir die beiden
Röntgenbilder und in der Tat ist da ein Unterschied. Zwar nicht
an der Stelle, an der ich ursprünglich eine Lücke gesehen
hatte - da ist auf beiden Seiten eine Lücke. Aber zwei Zentimeter
weiter nach innen, da ist der Knochen meiner linken Schulter gerade
und der meiner rechten hat eine kleine Stufe drin. Wusst ichs
doch.
Jetzt beginnt eine Szene, die ich irrwitzig komisch gefunden habe,
als ich den Film "Lost in Translation" gesehen habe. Kennt Ihr den?
Ziemlich am Anfang dreht der Schauspieler einen Werbespot und bekommt
Regieanweisungen von seinem Regisseur. Dieser quatscht minutenlang,
und die Übersetzerin sagt anschließend irgendwas wie "more
intensity" oder so; habs nicht mehr genau im Kopf, jedenfalls nur
zwei, drei Wörter. Immer, wenn er mit mir gesprochen hat, hat der
Arzt bisher versucht, langsam zu sprechen und einfache Sätze zu
machen. Aber jetzt hat er anscheinend aufgegeben und erzählt
meiner Begleiterin in vollem Tempo minutenlang wasweißich was.
Leider ist sie keine wirkliche Übersetzerin, sondern kann selbst
nur rudimentär Englisch, sodass sie mir so gut wie nichts
überstzen kann. Im Film fand ich die Szene zum Kaputtlachen,
heute erlebe ich sie live und mit durchaus gemischten
Gefühlen.
Immerhin bin ich des Japanischen nicht ganz so unkundig wie der
Schauspieler im Film. Ich schnappe auf, dass sie sich anscheinend
über die wichtige Frage unterhalten, welchen Versicherung denn
nun eigentlich bezahlen soll, und unterbreche die beiden. Unterhalten
Sie sich gerade über die Versicherung? Darüber braucht Ihr
Euch keine Sorgen zu machen, das krieg ich mit meiner
Krankenversicherung schon irgendwie geregelt. Ich bin übrigens
schon mindestens ein Dutzend Mal gefragt worden, warum ich denn Namen
und Telefonnummer des Motorradfahrers nicht habe. Was soll ich da
sagen ... ich stand vermutlich unter Schock, und außerdem habe
ich mich an dem Abend so erstaunlich unverletzt gefühlt (und auch
das Fahrrad hat kaum was abbekommen), dass mir das einfach nicht
eingefallen ist. Abgesehen davon war mir in dem Zustand absolut nicht
danach zumute, mich auf Japanisch über die Schuldfrage zu
unterhalten, und das japanische Wort für Versicherung will bis
heute nicht so recht in meinem Gedächtnis haften bleiben.
In dem Sprechzimmer stehen übrigens die ganze Zeit über
zwei Krankenschwestern herum, die immer, wenn ich mal wieder
wakaranai (nix verstehn) oder zenzen wakarimasen (ich
verstehe überhaupt nichts) sage, mir freundlich antworten
muzukashii desu ne (es ist schwierig [Partikel, die man
benutzt, wenn man ausdrücken will, dass man derselben Meinung wie
sein Gegenüber ist]). Ja, es ist schwierig *seufz*. Aber ich
lasse nicht locker in der Frage, was ich denn nun machen soll. Die
beiden Krankenschwestern legen mir ein Geschirr an, das mich zwingt,
mich aufrecht zu halten und meine Bewegungen etwas, aber nicht sehr
einschränkt; so eine Art Rucksack ohne den Rucksack. Ich soll auf
keinen Fall den Arm heben und im Wesentlichen abwarten. Falls die
Schmerzen nicht von alleine weggehen, müsse man es operieren,
ansonsten nicht. Äh, aha. Er fragt mich dann noch, ob er mir ein
Schmerzmittel verschreiben soll, was ich dankend ablehne. Wenn ich
bestimmte Bewegungen unterlasse, tut der Arm nämlich in der Tat
überhaupt nicht weh, also sollte ich diese Bewegungen wohl
unterlassen und den Warnmechanismus nicht abschalten. Ich krame
heldenhaft all meine Japanisch-Kenntnisse zusammen und frage, ob ich
dieses Ding auch über Nacht tragen muss (nein), und ob ich
Fahrrad fahren darf (nein, natürlich nicht). Das war also der
Arztbesuch.
Zurück im Wartezimmer frage ich meine Begleiterin, warum ich
denn nun morgen wiederkommen soll. Anscheinend ein
Missverständnis; ich hatte gedacht, ich sollte morgen
wiederkommen, aber in Wirklichkeit hat er nur mitgeteilt, wann er in
der nächsten Zeit Dienst hat. Unter anderem morgen Nachmittag,
Donnerstag Vormitttag und so weiter; mittlerweile habe ich einen
Zettel mit seinem Dienstplan ;-). Falls ich also morgen irgendwelche
Fragen hätte, könnte ich morgen wiederkommen, ich muss
aber nicht. Dann ists ja gut. Als nächstes erklärt mir meine
Begleiterin, dass ich irgendwelche Kompressen anlegen solle, diese
aber kaufen müsse, es aber auch bleiben lassen könne, falls
ich sie nicht brauche. Hmm, will ich nun oder nicht? Ich glaube
irgendwie nicht unbedingt, aber wie kann man da sicher sein?
Ich frage, ob man jetzt bezahlen muss - ima
harawanakerebanarimasen ka - die weniger formelle Form davon
fällt mir grad nicht ein - und sie sagt, ja, wir warten gerade
darauf, dass wir aufgerufen werden. Aha. Ich habe eine wirklich gute
Transkription meines Nachnamens gefunden, denn ich verstehe es sofort,
als ich über Lautsprecher aufgerufen werde. Die haben hier so
eine richtige Registrierkasse im Krankenhaus - irgendwie erscheint es
mir bizarr -, und der Betrag lautet 22.580 Yen. Oops, äh, ob sie
auch Kreditkarten akzeptieren? Nein, nur Bargeld. Hmm. Ich habe
tatsächlich genau 22.000 Yen in Scheinen bei mir und einen Sack
voll Münzen, die aber nicht reichen. Also bezahle ich erst einmal
20.000 Yen (etwa 150 Euro) und darf den Rest morgen vorbeibringen.
Ich muss die Sprachschule wirklich loben; man kümmert sich im
Rahmen der Möglichkeiten wirklich gut um mich. Meine Begleiterin
fragt mich nämlich, ob ich eigentlich für meine Versicherung
irgendwelche Dokumente benötige, und ich sage (ehrlich gesagt
diesmal auf Englisch) "natürlich, gibts denn hier keine
Rechnung"? Wenn ich sie recht verstehe, kostet es extra, wenn ich die
medizinische Diagnose schriftlich haben will, und zwar 1000 und ein
paar zerquetschte Yen, also knapp 10 Euro, ansonsten bekomme ich wohl
nur eine einfache Quittung. Ich hake nach und erfahre
erwartungsgemäß, dass dieses Dokument natürlich auch
nur in Japanisch sein wird. Ich versuche einige Minuten lang, im
Dialog mit meiner Begleiterin die japanischen Wörter für
Rechnung, Quittung und Arztbericht oder was auch immer
auseinanderzukriegen, aber es will mir nicht so recht gelingen. Wir
einigen uns darauf, dass ich meine Versicherung anrufe und wir morgen
nach der Schule nochmal gemeinsam im Krankenhaus vorbeigehen.
Fazit des heutigen Tages (abgesehen davon, dass ich vormittags
spannende neue japanische Grammatik gelernt habe und daher mittags
sogar sagen konnte, dass mir der Fahrradunfall passiert ist,
während ich gerade nach Hause radelte und nicht bevor oder
nachdem ich nach Hause geradelt bin): Ich mache jetzt genau das, was
ich ohne Arzt auch getan hätte. Die Bewegungen, die er mir
verboten hat, sind genau die, die mir höllisch weh tun, also lass
ich die sowieso. Dass ein Knochen gebrochen ist, ahnte ich auch schon,
sonst wär ich gar nicht hingegangen. Ach ja, und an der letzten
Station beim Verlassen des Krankenhauses habe ich noch einmal drei
Päckchen von diesen Stinkepflastern ausgehändigt bekommen;
sie sehen zwar anders aus, riechen aber so und fühlen sich
genauso an wie die, die ich mir selbst gekauft hatte. Immerhin lautet
der ärztliche Rat, zwei am Tag zu applizieren, was ich entgegen
dem Rat der Apothekerin die letzten beiden Tage lang ebenfalls auf
eigene Faust bereits gemacht habe. Und ich muss sie doch nicht selber
kaufen gehen, wie ich vorhin dachte, als meine Begleiterin versuchte,
mir das mit den Kompressen zu erklären.
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