16.8., Lost in Translation

[Heute lass ich mal den langweiligen Teil des Tagebuchs mit Aufstehen, Schule, Mittagessen und nochmal Schule weg und komme gleich zum interessanten Teil.]

Nach der Schule überfliege ich nochmal schnell die Vokabeln für Körperteile, Knochenbrüche, Verkehrsunfälle und dergleichen und gehe ins Studentenbüro. Dort schaffe ich es tatsächlich, komplett auf Japanisch mein Problem zu erklären und sogar die Antworten zu verstehen. Hier sind sie anscheinend darauf eingestellt, mit ausländischen Studenten in langsamen, einfachen Sätzen zu sprechen. Das freut mich jetzt doch irgendwie, hab ich also doch schon ein bisschen was gelernt hier.

Sie will mit mir rüber ins Krankenhaus gehen, ich muss nur noch schnell ein Viertelstündchen warten. Es stellt sich heraus, dass das Krankenhaus quasi im Nachbargebäude ist. Irgendwie hatte ich das entweder nie wahrgenommen oder schon wieder vergessen. Gleich zu Beginn wäre ich ohne meine freundliche Helferin aufgeschmissen gewesen, denn ich muss ein Formular ausfüllen. Das einzige, was ich davon selbst schreibe, ist mein Name. Hihi, und ich muss in der Zeile darüber Furigama in Katakana schreiben, damit die Japaner wissen, wie man meinen Namen ausspricht.

Furigama sind Lesehilfen; ich hatte glaube ich schon mal erwähnt, dass in meinem Lehrbuch über jedem Kanji klein in Hiragana die Aussprache steht, sonst könnte ich gar nichts lesen hier. Leider haben die Kanji in der realen Welt meist keine Furigama drüber. Anyway, jetzt ist der Moment, in dem ich mich entscheiden muss, wie die Japaner meinen Nachnamen aussprechen sollen. Der Vorname lautet hararudo; daran habe ich mich längst gewöhnt. Ich schreibe in Katakana bogehorutsu, das scheint mir die plausibelste Näherung zu sein. Meine Begleiterin, deren Namen ich leider nicht weiß, fragt mich noch die Krankenhaus-üblichen Dinge: Allergien gegen Medikamente, Schwere Erkrankungen etc. und schreibt dann mit einem Wust von Kanji das auf, was ich ihr über die Ursache meiner Verletzung erzählt habe (glaube ich).

Dann warten wir ein Weilchen, aber es geht erfreulich schnell: Nach ca. einer Viertelstunde wird mein Name aufgerufen. Ich habe mit bogehorutsu eine gute Wahl getroffen; die Japaner sprechen es tatsächlich in einer Weise aus, dass ich mich angesprochen fühle.

Der Arzt ist ein ziemlich alter Herr und fängt gleich an, die Schulter abzutasten, mit meinem Arm gewisse Bewegungen zu vollführen, mal hier zu klopfen und mal da zu ziehen. Lustigerweise tut nichts davon so schlimm weh wie die Bewegung, die ich machen muss, um mein T-Shirt auszuziehen. Ich hatte mir das anders vorgestellt; Ärzte wissen doch in solchen Situationen normalerweise genau, wo sie drücken müssen, damit es maximal wehtut. Es ist trotzdem eine sehr gute Übung für mein Japanisch. Als wir in Kapitel 17 waren, habe ich keinen besondern Wert auf das Vokabular für einen Arztbesuch gelegt. Jetzt werde ich glaube ich den Unterschied zwischen Aua, es tut weh, es tut ein bisschen weh und es tut überhaupt nicht weh so schnell nicht mehr vergessen. Ist ja schließlich ein Intensivkurs Japanisch hier :-).

Er sagt nicht allzu viel, sodass der Frust sich in Grenzen hält. Zu meinem Erstaunen verstehe ich rentogen shashin sofort; der gute alte Röntgen wurde also direkt ins Japanische importiert und nicht über den X-Ray-Umweg, obwohl ich inzwischen nachgeschlagen habe, dass X-Ray irgendwie auch als japanisches Wort ausgesprochen werden kann. Also gehen wir in die Röntgenabteilung, machen ein Röntgenbild und nach erstaunlich wenigen Minuten Wartezeit darf ich wieder zum Doktor.

Der murmelt Unverständliches in seinen nicht vorhandenen Bart, deutet auf eine Stelle auf dem Röntgenbild, an der tatsächlich eine Lücke klafft, aber ist das nicht eine ganz normale Lücke zwischen zwei Knochen? Er tastet mich noch ein bisschen ab und sagt dann etwas von vergleichen; ich kapiere irgendwie, dass er sich anscheinend nicht ganz sicher ist und noch ein Röntgenbild von meiner intakten Schulter machen will. Mein Vertrauen in ihn leidet darunter zwar geringfügig, aber andererseits - genau so bin ich bei meiner Selbstdiagnose ja auch vorgegangen. Wozu habe ich schließlich eine intakte Referenzschulter mitgebracht?

Eine Viertelstunde später vergleichen wir die beiden Röntgenbilder und in der Tat ist da ein Unterschied. Zwar nicht an der Stelle, an der ich ursprünglich eine Lücke gesehen hatte - da ist auf beiden Seiten eine Lücke. Aber zwei Zentimeter weiter nach innen, da ist der Knochen meiner linken Schulter gerade und der meiner rechten hat eine kleine Stufe drin. Wusst ichs doch.

Jetzt beginnt eine Szene, die ich irrwitzig komisch gefunden habe, als ich den Film "Lost in Translation" gesehen habe. Kennt Ihr den? Ziemlich am Anfang dreht der Schauspieler einen Werbespot und bekommt Regieanweisungen von seinem Regisseur. Dieser quatscht minutenlang, und die Übersetzerin sagt anschließend irgendwas wie "more intensity" oder so; habs nicht mehr genau im Kopf, jedenfalls nur zwei, drei Wörter. Immer, wenn er mit mir gesprochen hat, hat der Arzt bisher versucht, langsam zu sprechen und einfache Sätze zu machen. Aber jetzt hat er anscheinend aufgegeben und erzählt meiner Begleiterin in vollem Tempo minutenlang wasweißich was. Leider ist sie keine wirkliche Übersetzerin, sondern kann selbst nur rudimentär Englisch, sodass sie mir so gut wie nichts überstzen kann. Im Film fand ich die Szene zum Kaputtlachen, heute erlebe ich sie live und mit durchaus gemischten Gefühlen.

Immerhin bin ich des Japanischen nicht ganz so unkundig wie der Schauspieler im Film. Ich schnappe auf, dass sie sich anscheinend über die wichtige Frage unterhalten, welchen Versicherung denn nun eigentlich bezahlen soll, und unterbreche die beiden. Unterhalten Sie sich gerade über die Versicherung? Darüber braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen, das krieg ich mit meiner Krankenversicherung schon irgendwie geregelt. Ich bin übrigens schon mindestens ein Dutzend Mal gefragt worden, warum ich denn Namen und Telefonnummer des Motorradfahrers nicht habe. Was soll ich da sagen ... ich stand vermutlich unter Schock, und außerdem habe ich mich an dem Abend so erstaunlich unverletzt gefühlt (und auch das Fahrrad hat kaum was abbekommen), dass mir das einfach nicht eingefallen ist. Abgesehen davon war mir in dem Zustand absolut nicht danach zumute, mich auf Japanisch über die Schuldfrage zu unterhalten, und das japanische Wort für Versicherung will bis heute nicht so recht in meinem Gedächtnis haften bleiben.

In dem Sprechzimmer stehen übrigens die ganze Zeit über zwei Krankenschwestern herum, die immer, wenn ich mal wieder wakaranai (nix verstehn) oder zenzen wakarimasen (ich verstehe überhaupt nichts) sage, mir freundlich antworten muzukashii desu ne (es ist schwierig [Partikel, die man benutzt, wenn man ausdrücken will, dass man derselben Meinung wie sein Gegenüber ist]). Ja, es ist schwierig *seufz*. Aber ich lasse nicht locker in der Frage, was ich denn nun machen soll. Die beiden Krankenschwestern legen mir ein Geschirr an, das mich zwingt, mich aufrecht zu halten und meine Bewegungen etwas, aber nicht sehr einschränkt; so eine Art Rucksack ohne den Rucksack. Ich soll auf keinen Fall den Arm heben und im Wesentlichen abwarten. Falls die Schmerzen nicht von alleine weggehen, müsse man es operieren, ansonsten nicht. Äh, aha. Er fragt mich dann noch, ob er mir ein Schmerzmittel verschreiben soll, was ich dankend ablehne. Wenn ich bestimmte Bewegungen unterlasse, tut der Arm nämlich in der Tat überhaupt nicht weh, also sollte ich diese Bewegungen wohl unterlassen und den Warnmechanismus nicht abschalten. Ich krame heldenhaft all meine Japanisch-Kenntnisse zusammen und frage, ob ich dieses Ding auch über Nacht tragen muss (nein), und ob ich Fahrrad fahren darf (nein, natürlich nicht). Das war also der Arztbesuch.

Zurück im Wartezimmer frage ich meine Begleiterin, warum ich denn nun morgen wiederkommen soll. Anscheinend ein Missverständnis; ich hatte gedacht, ich sollte morgen wiederkommen, aber in Wirklichkeit hat er nur mitgeteilt, wann er in der nächsten Zeit Dienst hat. Unter anderem morgen Nachmittag, Donnerstag Vormitttag und so weiter; mittlerweile habe ich einen Zettel mit seinem Dienstplan ;-). Falls ich also morgen irgendwelche Fragen hätte, könnte ich morgen wiederkommen, ich muss aber nicht. Dann ists ja gut. Als nächstes erklärt mir meine Begleiterin, dass ich irgendwelche Kompressen anlegen solle, diese aber kaufen müsse, es aber auch bleiben lassen könne, falls ich sie nicht brauche. Hmm, will ich nun oder nicht? Ich glaube irgendwie nicht unbedingt, aber wie kann man da sicher sein?

Ich frage, ob man jetzt bezahlen muss - ima harawanakerebanarimasen ka - die weniger formelle Form davon fällt mir grad nicht ein - und sie sagt, ja, wir warten gerade darauf, dass wir aufgerufen werden. Aha. Ich habe eine wirklich gute Transkription meines Nachnamens gefunden, denn ich verstehe es sofort, als ich über Lautsprecher aufgerufen werde. Die haben hier so eine richtige Registrierkasse im Krankenhaus - irgendwie erscheint es mir bizarr -, und der Betrag lautet 22.580 Yen. Oops, äh, ob sie auch Kreditkarten akzeptieren? Nein, nur Bargeld. Hmm. Ich habe tatsächlich genau 22.000 Yen in Scheinen bei mir und einen Sack voll Münzen, die aber nicht reichen. Also bezahle ich erst einmal 20.000 Yen (etwa 150 Euro) und darf den Rest morgen vorbeibringen.

Ich muss die Sprachschule wirklich loben; man kümmert sich im Rahmen der Möglichkeiten wirklich gut um mich. Meine Begleiterin fragt mich nämlich, ob ich eigentlich für meine Versicherung irgendwelche Dokumente benötige, und ich sage (ehrlich gesagt diesmal auf Englisch) "natürlich, gibts denn hier keine Rechnung"? Wenn ich sie recht verstehe, kostet es extra, wenn ich die medizinische Diagnose schriftlich haben will, und zwar 1000 und ein paar zerquetschte Yen, also knapp 10 Euro, ansonsten bekomme ich wohl nur eine einfache Quittung. Ich hake nach und erfahre erwartungsgemäß, dass dieses Dokument natürlich auch nur in Japanisch sein wird. Ich versuche einige Minuten lang, im Dialog mit meiner Begleiterin die japanischen Wörter für Rechnung, Quittung und Arztbericht oder was auch immer auseinanderzukriegen, aber es will mir nicht so recht gelingen. Wir einigen uns darauf, dass ich meine Versicherung anrufe und wir morgen nach der Schule nochmal gemeinsam im Krankenhaus vorbeigehen.

Fazit des heutigen Tages (abgesehen davon, dass ich vormittags spannende neue japanische Grammatik gelernt habe und daher mittags sogar sagen konnte, dass mir der Fahrradunfall passiert ist, während ich gerade nach Hause radelte und nicht bevor oder nachdem ich nach Hause geradelt bin): Ich mache jetzt genau das, was ich ohne Arzt auch getan hätte. Die Bewegungen, die er mir verboten hat, sind genau die, die mir höllisch weh tun, also lass ich die sowieso. Dass ein Knochen gebrochen ist, ahnte ich auch schon, sonst wär ich gar nicht hingegangen. Ach ja, und an der letzten Station beim Verlassen des Krankenhauses habe ich noch einmal drei Päckchen von diesen Stinkepflastern ausgehändigt bekommen; sie sehen zwar anders aus, riechen aber so und fühlen sich genauso an wie die, die ich mir selbst gekauft hatte. Immerhin lautet der ärztliche Rat, zwei am Tag zu applizieren, was ich entgegen dem Rat der Apothekerin die letzten beiden Tage lang ebenfalls auf eigene Faust bereits gemacht habe. Und ich muss sie doch nicht selber kaufen gehen, wie ich vorhin dachte, als meine Begleiterin versuchte, mir das mit den Kompressen zu erklären.

 

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©2004 by Harald Bögeholz