29.7., Der Aufsatz

Um 6:30 klingelt der Wecker, und ich stehe heldenhaft auf, dusche und setze mich an das Tagebuch. Geschrieben ist es eigentlich, aber ich hatte gestern Abend mit diesem besch...aulich langsamen Internet zu kämpfen und hab Galerie und Tagebuch einfach nicht gerade gekriegt. Eigentlich sollte ich ja lieber lernen, aber nachdem meine Fans sich schon beschwert haben ... Außerdem ist mein Kopf noch etwas schwer und fühlt sich noch nicht so an, als könnte er japanische Vokabeln aufnehmen.

Ich habe gestern ganz vergessen, vom Frühstück zu erzählen. Egal, das war gestern wie heute: Ich gehe um 8 ins Woodpecker Foto dazu und bestelle ein mooningu setto Foto dazu. Das besteht aus einem hartgekochten Ei, einer ziemlich dicken Scheibe Weißbrot, einem winzigen Fläschen irgendeines Milchgetränks und einer Tasse Kaffee (gestern Tee). Kostet nur 300 Yen, ist aber auch verdammt wenig; ich glaube, morgen werde ich mich mal erkundigen, ob sie nicht auch ein japanisches Frühstück haben. Oder wenigstens ein größeres. Oder mir einen anderen Ort zum Frühstücken suchen.

Der Unterricht am Vormittag läuft ganz passabel, obwohl ich beim Vokabeltest wieder eines von acht Wörtern nicht weiß. Mist. Dabei sind diese Vokabeltests wirklich total idiotensicher, weil sie die Wörter in genau der Reihenfolge abfragen, wie sie im Buch stehen. Und es auch nur insgesamt 20 oder so sind. Insofern eine Schande, dass ich sie nicht alle weiß :-(. Wir haben übrigens plötzlich eine andere Sitzordnung (ich war wohl eine Minute zu lange auf dem Klo und komme erst, als alle schon sitzen). Auch das machen sie hier wohl absichtlich, damit man, wenn man seinen Nebensitzer mal was fragen muss, nicht immer denselben vor der Nase hat. Ich sitze also jetzt zwischen Jennifer und Laurence. Grammatik läuft ganz gut, das kann ich. Nur nach wie vor mangelt es mir ganz drastisch an Adjektiven.

Zum Mittagessen kaufe ich mir wieder Sushi - vielleicht sind meine Verdauungsprobleme ja auf Sushi-Entzug zurückzuführen - obwohl ich Ramen eigentlich auch sehr lecker finde.

Am Nachmittag gehts wieder heftig zur Sache. Statt Hörübungen gibt es diesmal Lesen und Schreiben. Waaaahhh, wie soll ich das Foto dazu nur fließend vorlesen? Zum Glück wechseln wir uns ab und lesen reihum immer nur einen Satz vor, sodass ich die Klasse mit meinem Gestammel nicht allzu schlimm aufhalte. Mein Problem: Der Text ist richtig japanisch geschrieben, also mit Kanji. Über den Kanji stehen zwar die furigama, die Lesehilfen in Hiragana, die sind aber so klein, dass ich teilweise nur einen Fliegenschiss sehe und mich frage, ob das jetzt zwei Strichlein sind oder ein Kringelchen ist. Oder doch nur ein Staubkorn auf dem Kopierer. Und je nachdem heißt das Zeichen halt ho, bo oder po. (Ich glaube, ich werde mir das Zeichen bo aus Holz kaufen (gibts im 100-Yen-Shop) und an meine Bürotür nageln, als Erinnerung an diesen Tag ;-).)

Anschließend wirds noch schlimmer: Wir sollen uns über den Inhalt dieser Seite unterhalten bzw. uns gegenseitig Fragen stellen und sie wie in diesem Beispiel beantworten. Ich habe dummerweise so gut wie nichts verstanden. Die Zeichen zu decodieren und den Satz laut vorzulesen, nimmt 100 % meiner CPU-Leistung in Anspruch, und ich kann am Satzende nicht sagen, was ich da gerade vorgelesen habe. Während die anderen sich allerlei Notizen machen, um sich auf die Dialogübung vorzubereiten, brüte ich über dieser Seite und lese sie. Immerhin kann ich sie vollständig lesen und verstehen, jawoll (ich muss mir selbst Mut zusprechen). Es dauert nur zehnmal so lange wie bei den anderen.

Die Dialogübung läuft erwartungsgemäß katastrophal; ich kann die Fragen einfach nicht beantworten. Gail ist sehr geduldig mit mir und wartet, bis mir endlich ein Hauch einer Antwort auf ihre Fragen einfällt. Ich stelle ihr ein paar Fragen; das läuft schon besser. Anschließend, als ich schon fast aufgegeben habe, fragt sie mich wieder was, und jetzt gehts auf einmal. Ich wiederhole zwar teilweise nur das, was sie eben geantwortet hat, aber egal, das Eis ist gebrochen. Es geht ja hier darum, längere, kompliziertere Sätze fließend zu sprechen. Eigene zu bauen, wäre zwar wünschenswert, aber kommt Zeit, kommt Japanisch (hoffe ich).

Wir sind hier eine super Klasse, ich glaube, ich schrieb das schon. Jeder hat so seine individuellen Stärken und Schwächen, aber es herrscht ein tolles Gemeinschaftsgefühl, und jeder kann den anderen irgendwie helfen. Vielleicht sollte ich Euch die anderen mal kurz vorstellen. Ich nehm dazu aber das Foto mit der Sitzordnung von gestern Foto dazu, weil ich noch kein aktuelleres gemacht habe (andauernd im Unterricht zu fotografieren, ist vielleicht auch etwas störend).

Von links nach rechts: Jeremy aus Australien, 24, JET Teacher (s.u.), Laurence aus Paris, Mitte 30, verheiratet, arbeitet glaube ich bei Renault, jedenfalls einer Auto-Firma (jidoosha no kankei), Jennifer aus den USA, JET Teacher, Henrik aus Schweden, Gampon (schreibt sich wahrscheinlich eigentlich anders) aus Thailand, Gail aus den USA, JET Teacher, und meine Wenigkeit.

JET ist irgendso ein Programm der japanischen Regierung, im Zuge dessen Muttersprachler nach Japan geholt werden, um hier Englisch zu unterrichten. Dazu müssen sie kein Wort Japanisch können! Tja, und alle drei JET-Lehrer in meiner Klasse leben nun seit einem Jahr in Japan und wollen in ihren Sommerferien endlich die Sprache lernen. Daher ist es natürlich kein Wunder, dass sie in Sachen Hörverständnis sowie Lesen und Schreiben deutlich weiter sind als ich. Ich muss mir immer wieder Mut zusprechen und mich auf meine eigenen Stärken besinnen: Ich habe eine gute Aussprache und ein gutes Gefühl für Grammatik, sodass ich im Dialog auch meine JET-Kollegen ab und zu korrigieren kann, wenn sie wa mit ga oder gar no oder ni mit o verwechseln. Partikel(n?) sind eine lustige Eigenschaft der japanischen Sprache! Mehr dazu vielleicht ein andermal.

Ich dachte eigentlich, dass es nicht mehr schlimmer werden kann als in der Dialogübung von eben, aber ich habe mich getäuscht. Jetzt sollen wir einen Aufsatz schreiben. Schon wenn ich einen c't-Artikel schreiben soll, habe ich manchmal Angst vor der leeren Seite (ok, inzwischen nicht mehr wirklich, weil ich weiß, dass ich mich auf mich verlassen kann). Aber um Himmels willen, wie soll ich denn auf Japanisch einen Aufsatz schreiben? Das Thema ist das von vorhin: Man stelle sich einfach vor, wie man in zehn Jahren lebt. Dabei darf man seiner Fantasie freien Lauf lassen und einfach irgendwas schreiben. Es geht ja nicht darum, dass es mit der Realität zu tun hat, sondern dass man japanische Grammatik und natürlich Vokabular übt.

Ich brauche fast fünf Minuten, um meine Panikattacke zu überwinden, aber dann denke ich mir, ich lebe in zehn Jahren in Hawaii, habe ein großes Haus in Strandnähe, so viel Geld, dass ich nicht mehr zu arbeiten brauche ... und das beruhigt mich so, dass ich das alles einfach auf Japanisch niederschreibe. Von wegen einfach ... ich muss immer noch bei jeder Silbe nachdenken, wie man dieses Zeichen denn nun gleich schreibt. Nach einer halben Stunde habe ich fünf Zeilen, während die anderen ihr Blatt mehr oder weniger vollgeschrieben haben Foto dazu. Die Lehrerin schaut sich mein Geschreibsel an, korrigiert ein Wort und feuert mich an. Weiter so, ich soll die Seite jetzt einfach bis morgen vollschreiben und das Ganze dann abgeben. Uff!

Zurück im Studentenwohnheim kümmere ich mich erstmal ums Tagebuch, das bin ich meinen Lesern schuldig. Außerdem kann man nicht rund um die Uhr Japanisch lernen. Gegen 18 Uhr beschließe ich, jetzt doch mal zu lernen, denn eigentlich wollte ich mich um 20 Uhr mit ein paar anderen Leuten an der Zig-Zag-Bar treffen, um was auch immer zu machen. Gegen 18:30 überleg ich mir, meinen Aufsatz im Liegen weiterzuschreiben und nehme meinen Schlüsselbund aus der Tasche, damit es bequemer ist. Jetzt ist die Tasche leer. Moment, das sollte nicht sein. Da sollte doch eigentlich noch der Fahrradschlüssel sein. Schei...benkleister!

Jetzt hab ich das doofe Fahrrad erst seit einem Tag gemietet und der Schlüssel ist weg! Und ich dachte mir gestern noch: Wie gut, dass es zwei Schlüssel gibt, da kann ich ja einen gelegentlich (!) mal in meine Schreibtischschublade tun. Man weiß ja nie. Ich stelle mein ganzes Zimmer auf den Kopf, gehe dann alle Wege ab, die ich seit dem Abschließen des Fahrrads gegangen bin, finde aber nichts. Kann ich den Schlüssel im hochglanzpolierten Mini-Stop verloren haben? Nicht unbemerkt! Die Japaner bohnern dort andauernd den Fußboden (das müsste ich eigentlich auch mal fotografieren), das hätten sie gemerkt und was gesagt. Auf dem Klo? Nein. Im Aufenthaltsraum? Ich schaue alle Sofaritzen durch, weil ich vorhin kurz auf dem Sofa gesessen und den Go-Fernsehkanal gesucht und gefunden habe. (War aber langweilig, war schon Endspiel und Schwarz hat deutlich mit ca. 20 Punkten gewonnen. Keine Ahnung, ob das Profis waren, aber ich kann es mir nicht vorstellen. Nein, das kann nicht sein, denn Profis hätten bei einer 20-Punkte-Differenz schon 100 Züge vorher aufgegeben ;-)).

Schlüssel weg. Ich baue mental einen japanischen Satz zusammen, der besagt, dass ich meinen Fahrradschlüssel verloren habe und ob vielleicht einer gefunden wurde, und rufe die Hausmeisterin an. Sie ist aber nicht da. Mittlerweile ist fast eine Stunde mit Suchen vergangen, ich bin wirklich verzweifelt. Allein die Perspektive, dieses doofe, abgeschlossene Fahrrad in einem mindestens halbstündigen Fußmarsch durch diese Hitze zu dem Fahrradladen zu schleppen und dann der Tante dort auf Japanisch zu erklären, dass es mir unglaublich leid tut, ich aber den Schlüssel verloren habe, und das nach nur einem Tag ... Mist, Mist, Mist!. (Einige Leser haben angemerkt, dass ich bisweilen eine recht deutliche Sprache spreche, äh, schreibe, daher will ich mir Scheiße vielleicht abgewöhnen. Aber nur vielleicht, hier ist es eigentlich das passende Wort.)

Ich klage kurz über ICQ Thorsten (thl) mein Leid und schalte dann meinen Verstand ein. Fundbüro gibts natürlich keins. Hausmeisterin ist nicht da. Wo würde ein freundlicher Kommilitone, der einen Fahrradschlüssel findet, ihn hintun? Ich schaue am schwarzen Brett und rund um den Eingang nach prominenten Plätzen, sehe aber nichts. Dann die Eingebung: Das Wohnheim hat zwei Eingänge, und ich gehe immer durch den hinteren. Wollen doch mal sehen, ob nicht am anderen Eingang ... bingo, dort steht ein Tisch, und mitten darauf liegt mein Fahrradschlüssel. Puh.

Mittlerweile ist es fast 8, und meine Hausaufgaben sind immer noch in einem desolaten Zustand. Also treff ich mich nicht mit den anderen Leuten, sondern arbeite an meinem Aufsatz. Und dann an den anderen Hausaufgaben; ist das eine Arbeit! Gegen 21:00 merke ich, dass es mir zu doof wird, und ich kaufe mir im Bierladen ein Sixpack Bier (Mist, ich hab noch gar kein Foto von dem Laden; nächstes Mal nehm ich die Kamera mit) und arbeite an Tagebuch und Fotogalerie.

Auf dem Weg zum Kühlschrank treffe ich später im Aufenthaltsraum auf eine lustige Runde, die ausgelassen feiert. Eines der Mädels hat Geburtstag Foto dazu, ein betrunkener Chinese(?) versucht, ob er noch einen Fuß vor den anderen setzen kann Foto dazu und ein Amerikaner schießt mit einer Spielzeugpistole Plastikkugeln auf einen Pappbecher Foto dazu. Ich probiere es auch mal und bin erstens überrascht, was ich für ein guter Schütze bin und zweitens, wie präzise dieses Pistölchen funktioniert Foto dazu. Ich kann damit auf eine Entfernung von bestimmt 8 Metern - längs durch den Aufenthaltsraum halt - einen Pappbecher vom Tisch schießen. Faszinierend. Ich feiere noch mit und trinke dabei wohl ein Bier mehr, als gut gewesen wäre. Das ist genau die Sorte Ablenkung, wegen der ich dachte, das Hotel wäre gar nicht so schlecht für mich gewesen, aber egal, so habe ich halt Spaß gehabt anstatt vernünftig zu sein. Morgen um 6:30 wird das Aufstehen sicher etwas schwerer fallen, aber es muss ja sein, denn es wartet noch eine Seite Hausaufgaben.

 

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©2004 by Harald Bögeholz