Um 6:30 klingelt der Wecker, und ich stehe heldenhaft auf, dusche
und setze mich an das Tagebuch. Geschrieben ist es eigentlich, aber
ich hatte gestern Abend mit diesem besch...aulich langsamen Internet
zu kämpfen und hab Galerie und Tagebuch einfach nicht gerade
gekriegt. Eigentlich sollte ich ja lieber lernen, aber nachdem meine
Fans sich schon beschwert haben ... Außerdem ist mein Kopf noch
etwas schwer und fühlt sich noch nicht so an, als könnte er
japanische Vokabeln aufnehmen.
Ich habe gestern ganz vergessen, vom Frühstück zu
erzählen. Egal, das war gestern wie heute: Ich gehe um 8 ins
Woodpecker und bestelle ein
mooningu setto . Das besteht aus einem
hartgekochten Ei, einer ziemlich dicken Scheibe Weißbrot, einem
winzigen Fläschen irgendeines Milchgetränks und einer Tasse
Kaffee (gestern Tee). Kostet nur 300 Yen, ist aber auch verdammt
wenig; ich glaube, morgen werde ich mich mal erkundigen, ob sie nicht
auch ein japanisches Frühstück haben. Oder wenigstens ein
größeres. Oder mir einen anderen Ort zum
Frühstücken suchen.
Der Unterricht am Vormittag läuft ganz passabel, obwohl ich
beim Vokabeltest wieder eines von acht Wörtern nicht weiß.
Mist. Dabei sind diese Vokabeltests wirklich total idiotensicher, weil
sie die Wörter in genau der Reihenfolge abfragen, wie sie im Buch
stehen. Und es auch nur insgesamt 20 oder so sind. Insofern eine
Schande, dass ich sie nicht alle weiß :-(. Wir haben
übrigens plötzlich eine andere Sitzordnung (ich war wohl
eine Minute zu lange auf dem Klo und komme erst, als alle schon
sitzen). Auch das machen sie hier wohl absichtlich, damit man, wenn
man seinen Nebensitzer mal was fragen muss, nicht immer denselben vor
der Nase hat. Ich sitze also jetzt zwischen Jennifer und Laurence.
Grammatik läuft ganz gut, das kann ich. Nur nach wie vor mangelt
es mir ganz drastisch an Adjektiven.
Zum Mittagessen kaufe ich mir wieder Sushi - vielleicht sind meine
Verdauungsprobleme ja auf Sushi-Entzug zurückzuführen -
obwohl ich Ramen eigentlich auch sehr lecker finde.
Am Nachmittag gehts wieder heftig zur Sache. Statt
Hörübungen gibt es diesmal Lesen und Schreiben. Waaaahhh,
wie soll ich das nur fließend
vorlesen? Zum Glück wechseln wir uns ab und lesen reihum immer
nur einen Satz vor, sodass ich die Klasse mit meinem Gestammel nicht
allzu schlimm aufhalte. Mein Problem: Der Text ist richtig japanisch
geschrieben, also mit Kanji. Über den Kanji stehen zwar die
furigama, die Lesehilfen in Hiragana, die sind aber so klein,
dass ich teilweise nur einen Fliegenschiss sehe und mich frage, ob das
jetzt zwei Strichlein sind oder ein Kringelchen ist. Oder doch nur ein
Staubkorn auf dem Kopierer. Und je nachdem heißt das Zeichen
halt ho, bo oder po. (Ich glaube, ich werde mir
das Zeichen bo aus Holz kaufen (gibts im 100-Yen-Shop) und an
meine Bürotür nageln, als Erinnerung an diesen Tag ;-).)
Anschließend wirds noch schlimmer: Wir sollen uns über
den Inhalt dieser Seite unterhalten bzw. uns gegenseitig Fragen
stellen und sie wie in diesem Beispiel beantworten. Ich habe
dummerweise so gut wie nichts verstanden. Die Zeichen zu decodieren
und den Satz laut vorzulesen, nimmt 100 % meiner CPU-Leistung in
Anspruch, und ich kann am Satzende nicht sagen, was ich da gerade
vorgelesen habe. Während die anderen sich allerlei Notizen
machen, um sich auf die Dialogübung vorzubereiten, brüte ich
über dieser Seite und lese sie. Immerhin kann ich sie
vollständig lesen und verstehen, jawoll (ich muss mir selbst Mut
zusprechen). Es dauert nur zehnmal so lange wie bei den anderen.
Die Dialogübung läuft erwartungsgemäß
katastrophal; ich kann die Fragen einfach nicht beantworten. Gail ist
sehr geduldig mit mir und wartet, bis mir endlich ein Hauch einer
Antwort auf ihre Fragen einfällt. Ich stelle ihr ein paar Fragen;
das läuft schon besser. Anschließend, als ich schon fast
aufgegeben habe, fragt sie mich wieder was, und jetzt gehts auf
einmal. Ich wiederhole zwar teilweise nur das, was sie eben
geantwortet hat, aber egal, das Eis ist gebrochen. Es geht ja hier
darum, längere, kompliziertere Sätze fließend zu
sprechen. Eigene zu bauen, wäre zwar wünschenswert, aber
kommt Zeit, kommt Japanisch (hoffe ich).
Wir sind hier eine super Klasse, ich glaube, ich schrieb das schon.
Jeder hat so seine individuellen Stärken und Schwächen, aber
es herrscht ein tolles Gemeinschaftsgefühl, und jeder kann den
anderen irgendwie helfen. Vielleicht sollte ich Euch die anderen mal
kurz vorstellen. Ich nehm dazu aber das Foto mit der Sitzordnung von
gestern , weil ich noch kein
aktuelleres gemacht habe (andauernd im Unterricht zu fotografieren,
ist vielleicht auch etwas störend).
Von links nach rechts: Jeremy aus Australien, 24, JET Teacher
(s.u.), Laurence aus Paris, Mitte 30, verheiratet, arbeitet glaube ich
bei Renault, jedenfalls einer Auto-Firma (jidoosha no kankei),
Jennifer aus den USA, JET Teacher, Henrik aus Schweden, Gampon
(schreibt sich wahrscheinlich eigentlich anders) aus Thailand, Gail
aus den USA, JET Teacher, und meine Wenigkeit.
JET ist irgendso ein Programm der japanischen Regierung, im Zuge
dessen Muttersprachler nach Japan geholt werden, um hier Englisch zu
unterrichten. Dazu müssen sie kein Wort Japanisch können!
Tja, und alle drei JET-Lehrer in meiner Klasse leben nun seit einem
Jahr in Japan und wollen in ihren Sommerferien endlich die Sprache
lernen. Daher ist es natürlich kein Wunder, dass sie in Sachen
Hörverständnis sowie Lesen und Schreiben deutlich weiter
sind als ich. Ich muss mir immer wieder Mut zusprechen und mich auf
meine eigenen Stärken besinnen: Ich habe eine gute Aussprache und
ein gutes Gefühl für Grammatik, sodass ich im Dialog auch
meine JET-Kollegen ab und zu korrigieren kann, wenn sie wa mit
ga oder gar no oder ni mit o verwechseln.
Partikel(n?) sind eine lustige Eigenschaft der japanischen Sprache!
Mehr dazu vielleicht ein andermal.
Ich dachte eigentlich, dass es nicht mehr schlimmer werden kann als
in der Dialogübung von eben, aber ich habe mich getäuscht.
Jetzt sollen wir einen Aufsatz schreiben. Schon wenn ich einen
c't-Artikel schreiben soll, habe ich manchmal Angst vor der leeren
Seite (ok, inzwischen nicht mehr wirklich, weil ich weiß, dass
ich mich auf mich verlassen kann). Aber um Himmels willen, wie soll
ich denn auf Japanisch einen Aufsatz schreiben? Das Thema ist das von
vorhin: Man stelle sich einfach vor, wie man in zehn Jahren lebt.
Dabei darf man seiner Fantasie freien Lauf lassen und einfach
irgendwas schreiben. Es geht ja nicht darum, dass es mit der
Realität zu tun hat, sondern dass man japanische Grammatik und
natürlich Vokabular übt.
Ich brauche fast fünf Minuten, um meine Panikattacke zu
überwinden, aber dann denke ich mir, ich lebe in zehn Jahren in
Hawaii, habe ein großes Haus in Strandnähe, so viel Geld,
dass ich nicht mehr zu arbeiten brauche ... und das beruhigt mich so,
dass ich das alles einfach auf Japanisch niederschreibe. Von wegen
einfach ... ich muss immer noch bei jeder Silbe nachdenken, wie man
dieses Zeichen denn nun gleich schreibt. Nach einer halben Stunde habe
ich fünf Zeilen, während die anderen ihr Blatt mehr oder
weniger vollgeschrieben haben . Die Lehrerin schaut sich
mein Geschreibsel an, korrigiert ein Wort und feuert mich an. Weiter
so, ich soll die Seite jetzt einfach bis morgen vollschreiben und das
Ganze dann abgeben. Uff!
Zurück im Studentenwohnheim kümmere ich mich erstmal ums
Tagebuch, das bin ich meinen Lesern schuldig. Außerdem kann man
nicht rund um die Uhr Japanisch lernen. Gegen 18 Uhr beschließe
ich, jetzt doch mal zu lernen, denn eigentlich wollte ich mich um 20
Uhr mit ein paar anderen Leuten an der Zig-Zag-Bar treffen, um was
auch immer zu machen. Gegen 18:30 überleg ich mir, meinen Aufsatz
im Liegen weiterzuschreiben und nehme meinen Schlüsselbund aus
der Tasche, damit es bequemer ist. Jetzt ist die Tasche leer. Moment,
das sollte nicht sein. Da sollte doch eigentlich noch der
Fahrradschlüssel sein. Schei...benkleister!
Jetzt hab ich das doofe Fahrrad erst seit einem Tag gemietet und
der Schlüssel ist weg! Und ich dachte mir gestern noch: Wie gut,
dass es zwei Schlüssel gibt, da kann ich ja einen gelegentlich
(!) mal in meine Schreibtischschublade tun. Man weiß ja nie. Ich
stelle mein ganzes Zimmer auf den Kopf, gehe dann alle Wege ab, die
ich seit dem Abschließen des Fahrrads gegangen bin, finde aber
nichts. Kann ich den Schlüssel im hochglanzpolierten Mini-Stop
verloren haben? Nicht unbemerkt! Die Japaner bohnern dort andauernd
den Fußboden (das müsste ich eigentlich auch mal
fotografieren), das hätten sie gemerkt und was gesagt. Auf dem
Klo? Nein. Im Aufenthaltsraum? Ich schaue alle Sofaritzen durch, weil
ich vorhin kurz auf dem Sofa gesessen und den Go-Fernsehkanal gesucht
und gefunden habe. (War aber langweilig, war schon Endspiel und
Schwarz hat deutlich mit ca. 20 Punkten gewonnen. Keine Ahnung, ob das
Profis waren, aber ich kann es mir nicht vorstellen. Nein, das kann
nicht sein, denn Profis hätten bei einer 20-Punkte-Differenz
schon 100 Züge vorher aufgegeben ;-)).
Schlüssel weg. Ich baue mental einen japanischen Satz
zusammen, der besagt, dass ich meinen Fahrradschlüssel verloren
habe und ob vielleicht einer gefunden wurde, und rufe die Hausmeisterin
an. Sie ist aber nicht da. Mittlerweile ist fast eine Stunde mit
Suchen vergangen, ich bin wirklich verzweifelt. Allein die
Perspektive, dieses doofe, abgeschlossene Fahrrad in einem mindestens
halbstündigen Fußmarsch durch diese Hitze zu dem
Fahrradladen zu schleppen und dann der Tante dort auf Japanisch zu
erklären, dass es mir unglaublich leid tut, ich aber den
Schlüssel verloren habe, und das nach nur einem Tag ... Mist,
Mist, Mist!. (Einige Leser haben angemerkt, dass ich bisweilen eine
recht deutliche Sprache spreche, äh, schreibe, daher will ich mir
Scheiße vielleicht abgewöhnen. Aber nur vielleicht, hier
ist es eigentlich das passende Wort.)
Ich klage kurz über ICQ Thorsten (thl) mein Leid und schalte
dann meinen Verstand ein. Fundbüro gibts natürlich keins.
Hausmeisterin ist nicht da. Wo würde ein freundlicher
Kommilitone, der einen Fahrradschlüssel findet, ihn hintun? Ich
schaue am schwarzen Brett und rund um den Eingang nach prominenten
Plätzen, sehe aber nichts. Dann die Eingebung: Das Wohnheim hat
zwei Eingänge, und ich gehe immer durch den hinteren. Wollen doch
mal sehen, ob nicht am anderen Eingang ... bingo, dort steht ein
Tisch, und mitten darauf liegt mein Fahrradschlüssel. Puh.
Mittlerweile ist es fast 8, und meine Hausaufgaben sind immer noch
in einem desolaten Zustand. Also treff ich mich nicht mit den anderen
Leuten, sondern arbeite an meinem Aufsatz. Und dann an den anderen
Hausaufgaben; ist das eine Arbeit! Gegen 21:00 merke ich, dass es mir
zu doof wird, und ich kaufe mir im Bierladen ein Sixpack Bier (Mist,
ich hab noch gar kein Foto von dem Laden; nächstes Mal nehm ich
die Kamera mit) und arbeite an Tagebuch und Fotogalerie.
Auf dem Weg zum Kühlschrank treffe ich später im
Aufenthaltsraum auf eine lustige Runde, die ausgelassen feiert. Eines
der Mädels hat Geburtstag , ein betrunkener Chinese(?) versucht,
ob er noch einen Fuß vor den anderen setzen kann und ein
Amerikaner schießt mit einer Spielzeugpistole Plastikkugeln auf
einen Pappbecher . Ich probiere es auch mal und bin erstens
überrascht, was ich für ein guter Schütze bin und
zweitens, wie präzise dieses Pistölchen funktioniert . Ich
kann damit auf eine Entfernung von bestimmt 8 Metern - längs durch den
Aufenthaltsraum halt - einen Pappbecher vom Tisch schießen.
Faszinierend. Ich feiere noch mit und trinke dabei wohl ein Bier mehr,
als gut gewesen wäre. Das ist genau die Sorte Ablenkung, wegen
der ich dachte, das Hotel wäre gar nicht so schlecht für
mich gewesen, aber egal, so habe ich halt Spaß gehabt anstatt
vernünftig zu sein. Morgen um 6:30 wird das Aufstehen sicher
etwas schwerer fallen, aber es muss ja sein, denn es wartet noch eine
Seite Hausaufgaben.
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