Nach dem Frühstück versuch ich fieberhaft noch, die
Hausaufgaben fertigzukriegen, schaffe es aber nicht ganz. Ich male mir
schon im Geiste aus, wie ich mich auf Japanisch dafür
entschuldige und erkläre, dass ich am Wochenende unglaublich viel
studiert habe, nur eben nicht das, was ich hätte sollen.
Eigentlich find ich es eine ganz gute Leistung, dass ich mir in
anderthalb Tagen alle Katakana draufgeschafft habe, und auch Hiragana
kann ich jetzt schon viel fließender schreiben.
Während ein paar andere Studenten ihr Gepäck nach unten
schleppen, werde auch ich vom Portier mit chekkuauto und ganz
vielen anderen japanischen Wörtern begrüßt,
flüchte aber in Richtung Studentenbüro. Es ist 8:15, und
Iijima san ist noch nicht da (offiziell öffnet das Büro auch
erst um 8:30). Als sie fünf Minuten später kommt,
erkläre ich ihr, dass ich im Hotel bleiben möchte. Sie
spricht zum Glück recht gut (und freiwillig) Englisch; dies jetzt
auf Japanisch durchzuziehen, hätte ich echt keinen Nerv (und
vermutlich zu wenig Sprachkenntnisse). Sie fragt mich, wie lange denn,
und als ich antworte, für die ganze Zeit, bis Ende August halt,
unterhält sie sich hektisch auf Japanisch mit ihrem Chef, um mir
dann zu sagen, dass das Hotel aber teuer ist. Ich antworte, dass ich
durchaus bereit wäre, dafür zu bezahlen, wie teuer denn
genau? Nach wieder einer Minute Palaver mit ihrem Chef (ich hab das
irgendwo gelesen, dass Japaner, wenn möglich, nie etwas alleine
entscheiden; scheint zu stimmen) sagt sie mir, dass das Hotel 5250 Yen
am Tag kostet. Auf Englisch kann ich mich ja ganz gut ausdrücken,
deshalb sage ich zu ihr, dass ja wohl ein Discount drin sein
müsste, wenn einer sechs Wochen lang in einem Hotel bleiben
will.
aah, disukaunto wa ... brabbeldijapnischbrabbelimasen deshita
kudasai wasweißich ... das muss sie erstmal mit jemandem im
Hotel besprechen, ich soll doch solange warten. Nach 10 Minuten kommt
sie zurück, und der Preis ist auf 4000 Yen pro Nacht gesunken.
Wer sagts denn, disukaunto ist das Zauberwort. Ich
überschlage im Kopf, dass das zwar immer noch etwas mehr ist, als
ich im Voraus für die Unterbringung in der Gastfamilie bezahlt
habe, aber nicht so astronomisch viel mehr. [Am Nachmittag hab ichs
nachgerechnet und kam auf 430 Euro mehr ... da sah das dann doch etwas
anders aus.] Aber sie zieht gleich das nächste Problem aus dem
Hut: Am Obon-Wochenende (hab grad nicht im Kopf, wann das ist,
jedenfalls ein langes Wochenende im August) macht das Hotel zu, und da
müsste ich dann ausziehen. Ich frage ratlos, wohin denn, und sie
stimmt mir zu, dass das ein schwieriges Problem ist. Und
außerdem gäbe es noch drei Tage, an denen das Hotel
ausgebucht sei und ich ausziehen müsse. Hmm. Wir einigen uns
darauf, dass ich jetzt erstmal zur Schule gehe - mittlerweile ist es
Viertel vor 9 und ich werde unruhig, zumal man uns eingeschärft
hat, dass die Klasse minutengenau beginnt - und für heute im
Hotel bleibe.
In der Retrospektive (ich schreibe dies abends gegen 21 Uhr)
scheint mir dies die japanische Art, Nein zu sagen, gewesen zu sein,
von der ich in Büchern schon gelesen hatte. Obon mag ja noch
sein, aber dieses komische Hotelchen noch an drei anderen Tagen
ausgebucht? Unwahrscheinlich; ich habe irgendwo aufgeschnappt, dass es
irgendwie Yamasa gehört oder zumindest auf einem Grundstück
steht, das Yamasa gehört. Egal; die Japaner beherrschen die hohe
Kunst, ein paar Probleme aus dem Hut zu ziehen, damit es so
läuft, wie sie es wollen. Aber sie sind harmoniebedürftig.
Auch das habe ich aus meinem Buch, und irgendwie scheint es zur
aktuellen Situation zu passen. Man sagt nie einfach nein, sondern,
dass die Umstände sich irgendwie zum Schlechten gewandelt haben,
aber (tsugooga waruku narimashita ga) ...
Sie kommen mir also schon ein bisschen entgegen. Ich darf einen
weitern Tag im Hotel bleiben. Und ich kriege eine alternative
Unterkunft angeboten (schließlich war ich mit der geplanten
nicht zufrieden) - ein Apartment mit eigenem Bad, das ich allerdings
mit einem Mitbewohner teilen müsste, aber wir hätten jeder
ein eigenes Zimmer. (Dieser Teil der Geschichte spielt jetzt am
Nachmittag.) Ich scanne im Geiste die Liste der
Yamasa-Unterkünfte durch und frage, ob nicht das Student Village,
in das sie mich ursprünglich stecken wollte, das hochmoderne mit
Internet-Anschluss auf jedem Zimmer und Residence L nicht das
ältere Ding ist, das zudem weiter weg ist. Genau so ist es. Da es
mir primär darum geht, möglichst wenig zu Fuß durch
diese scheiß Hitze zu marschieren und mir außerdem ein
Netzwerkanschluss auf dem Zimmer extrem attraktiv erscheint,
entschuldige ich mich vielmals für die Umstände, die ich ihr
gemacht habe, lobe sie für ihre Umsicht und wähle das, was
sie ursprünglich für mich geplant hatte: Studentenwohnheim.
Nun bin ich nur noch gespannt, ob man mir die Extratour eines
zusätzlichen Tages im Hotel in Rechnung stellt, aber nach meiner
bisherigen Einschätzung der japanischen Mentalität denke ich
fast, dass nicht. Ebenso wie ich nach wie vor denke, dass das mit der
Gastfamilie nicht mehr klappen wird. Und morgen ziehe ich jedenfalls
um.
Zurück zum Vormittag: Der Unterricht ist der intensivste, den
ich je erlebt habe. Ich schwanke zwischen Glücksgefühlen und
Frust: Die Lehrer sind extrem gut (finde ich), und das Ganze macht im
Prinzip einen Heidenspaß, aber ich lerne so viel langsamer als
ich gerne würde und kann mir die ganzen Vokabeln bei weitem nicht
schnell genug merken. Immer wenn ich etwas nicht weiß, ist es
mir irgendwie peinlich, die Klasse jetzt damit aufzuhalten, nach einem
einzelnen Wort zu fragen, das der Lehrer dann notfalls minutenlang -
weil nur mit Japanisch, Händen und Füßen -
erklärt. Andererseits merke ich, dass auch die anderen immer mal
was nicht wissen, und wir können uns teilweise sogar gegenseitig
helfen. Da haben die Yamasa-Leute wirklich eine super Klasse
zusammengewürfelt!
Wie kann ich mich nur kurz fassen? Der Kern des Unterrichts besteht
jedenfalls darin, dass der Lehrer (ach ja, heute Vormittag wars eine
Lehrerin; jede Klasse wird im Wechsel von einem Team von Lehrern
unterrichtet!) die Leute ständig auf verschiedenste Weise
animiert, Japanisch zu sprechen. Ein Beispiel: Die Lehrerin geht raus,
um etwas zu holen, das sie angeblich vergessen hat. Einige Minuten
später schaut sie zur Tür, bis irgendwer auf die Idee kommt,
das Thema Tür zur Sprache zu bringen und jemand anderes die
Tür zumacht. Oder sie fragt jemanden die Standardfragen, wo er
denn herkommt, und als der Schwede (den hat sie sich absichtlich
rausgesucht!) einen sehr unverständlichen Ortsnamen nennt, bittet
sie ihn, ihn an die Tafel zu schreiben. Sie hat aber unauffällig
alle Stifte an sich genommen, sodass er sie jetzt auf Japanisch fragen
muss, ob sie ihm einen Stift borgen kann. Ich bin begeistert! Diese
Schule ist echt ihr Geld wert, denn das geht den ganzen Tag so. Ich
glaube, ich schrieb es schon, aber noch nie habe ich so guten
Sprachunterricht bekommen.
Und sie integriert ganz mühelos die Wünsche der
Schüler in ihren Unterricht. Als wir die te-Form
üben, um andere Leute um etwas zu bitten, bitte ich sie, doch mit
meiner bereitligenden Kamera Fotos von der Klasse zu machen, was zwar
von ihrem Manuskript abweicht, aber perfekt passt . Später haben wir
irgendwie die Vokabeln für einschalten und ausschalten, und
wieder liegt die Kamera da rum, die man erst einschalten muss, bevor
man ein Bild machen kann. So können wir "zuerst ... und dann"
üben. Sie murmelt sore wa benri desu ne - das ist ja
praktisch. Außerdm machen wir nebenbei ein paar Fotos, und das
Ganze macht einen Heidenspaß, ist aber auch sehr
anstrengend.
In der Mittagspause esse ich ramen, lecker Nudelsuppe mit
allerlei Zeugs drin . Und mache noch ein Foto von einem Aspekt des
Supermarkts, der erst jetzt an die Oberfläche meines Bewusstseins
gelangt: Bei uns muss man doch immer durch irgendeine Absperrung
durch, und der Weg nach draußen führt unweigerlich an den
Kassen vorbei. Hier stehen die Kassen auch irgendwo, aber es ist alles
offen. In Japan gehört sich Ladendiebstahl wohl nicht.
Und noch etwas: An den Japanern scheint die Erfindung der
(Papier-)Serviette vorbeigegangen zu sein. Weder im Hotel beim
Frühstück, noch hier in diesem "Schnellrestaurant" im
Supermarkt gibt es Servietten. ramen muss man schlürfen,
sonst wären die Nudeln erstens viel zu heiß und zweitens
mit Stäbchen unmöglich zu essen. Wie man das aber macht,
ohne die geringste Sauerei zu hinterlassen, ist mir ein Rätsel.
Michael sempai erklärt mir, dass die
Japaner einfach immer ihr eigenes Handtuch dabeihaben. Das ist ja wie
bei per Anhalter durch die Galaxis, stimmt aber. Ich habe in den
letzten Tagen bei vielen Japanern gesehen, dass sie ein Handtuch um
den Hals oder sonstwie bei sich haben, mit dem sie sich zum Beispiel
in dieser scheiß Hitze (ich wiederhole mich) den Schweiß
abtupfen.
Nachmittags gibts Hörübungen: Yokozawa sensei spielt von
CD einige Dialoge in japanischem Alltags-Normaltempo vor - puh, das
ist plötzlich genauso schwierig wie im Kaufhaus, im Go-Salon, am
Bahnhof ... Und die Taxifahrer-Lektion bringt alle ins Schleudern
(bin ich froh, ich bin nicht die einzige Niete hier). Wir üben
mit Spielzeugautos , wie man dem Taxifahrer
sagt, wo er langfahren soll, und alle, wirklich alle geraten in Panik,
wenn ihnen der Unterschied zwischen Rechts und Links oder die
te-Form von Abbiegen erst nach der Kreuzung einfällt, an
der sie hätten abbiegen wollen.
Völlig erledigt von fünf Stunden Unterricht
beschließe ich, zur Entspannung mal das große
Einkaufszentrum zu besuchen. Das hätt ich besser gelassen, denn
mit Entspannung hat das nichts zu tun. Das Ding ist unglaublich
groß , und ich leide wieder mal an totaler Reizüberflutung.
Weiß nicht einmal, was ich fotografieren soll. Es gelingt mir
jedenfalls, mich in einem Musikgeschäft auf Japanisch nach
Satie-Noten zu erkundigen - jetzt hab ich endlich ein paar Noten zum
Klavierspielen, die Stücke jenseits von Gymnopedie Nr. 1 sehen
auch so aus, als könnt ich sie spielen - und in der
Spielwarenabteilung eines unglaublich großen Kaufhauses nach Go
zu fragen und ein kleines Magnet-Go zu erstehen, damit ich mit Adele
komfortabler üben kann als am Rechner. Und sowas kann man ja eh
immer mal brauchen.
Ach ja, vor der Kaufhaus-Aktion war ich noch in einer Art
Media-Markt und habe mit mir gehadert, ob ich mir als Souvenir eine
japanische Tastatur kaufe . Soll ich?
Zurück im Hotelzimmer versuche ich lustlos, die Hausaufgaben
zu machen , fühle mich aber total ausgepowert. Eine von drei
Seiten schaff ich, dann fang ich an, Fotos zu sichten und Tagebuch zu
schreiben. Also wieder morgen früh vor der Schule die
Hausaufgaben machen, wie in alten Zeiten ...
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